Sonntag, 31. Juli 2005

KASIREST oder DIE NEUE ART DES STADTBUMMELS

Gestern in Frankfurt gewesen. Mein Lieblingsantiquariat, "Atlantis", auf der Zeil, Inhaber Norbert HEINZ, war wegen Urlaubs geschlossen. Im Fenster lag ein Buch von Nancy Etcoff: "Nur die Schönsten überleben. Die Ästhetik des Menschen." (Vgl. dazu z. B.: http://www.perlentaucher.de/buch/7848.html oder eine - nur noch in der "waybackmachine" zugängliche - deutschsprachige Besprechung der englischsprachigen Originalausgabe "Survival of The Prettiest": http://web.archive.org/web/20020115054113/http://62.116.9.164/heureka/archiv/99_6/14buch.htm sowie eine wohl ins Satirische gehende eine englischsprachige Kritik: http://www.zmag.org/zmag/articles/mar99sargent.htm).

Ungefähr gegenüber lag in der Stadtbücherei das "Klärwerk" aus, eine regionale Umwelt-Zeitschrift. In der Ausgabe Nr. 74 für Juli/Aug. 2005 sind Auszüge aus dem Buch von Hermann Scheer "Energie-Autonomie. Der Durchbruch zu Erneuerbaren Energien" abgedruckt. 

Scheer kritisiert – vom Umweltschützerstandpunkt aus - das Kyoto-Protokoll als unwirksam und bürokratisch. Er bezeichnet es als "ein fragwürdiges Konstrukt neoliberalen Energiedenkens, dessen Umsetzung gleichwohl einen wachsenden bürokratischen Aufwand erfordert" und schreibt: "Wegen dieser 'flexiblen Instrumente' wird das Kyoto-Protokoll gerühmt. Tatsächlich sind sie aber das eigentliche Problem. Statt marktwirtschaftlicher Lösungen führen sie ... zu einer bürokratisierten und entsprechend inflexiblen globalen Investitionslenkung. Statt kosteneffektiver Lösungen wirken sie eher kostentreibend, weil sie die Zahl der Mitesser und Kostgänger im Energiesystem erhöhen. Statt die Umorientierung auf Erneuerbare Energien zu erleichtern, werden sie schon jetzt als Schlagwaffe gegen diejenigen politischen Instrumente eingesetzt, über die in einigen Ländern der Aufbruch zu Erneuerbaren Energien zustande kam. Sie verfestigen die Strukturen der überkommenen Energiewirtschaft und verhelfen dieser zu weiterer Expansion auch in die Entwicklungsländer." Für mich insofern interessante Sätze, als sich der Bürokratie-Vorwurf in der Kritik der US-amerikanischen "Sceptics", d. h. der Industrie-Lobby, findet. 

Zwar bedauert Scheer, dass die USA dem Vertrag nicht beigetreten sind. [Mittlerweile haben sie sich mit China, Indien, Südkorea und Australien zusammengetan (http://www.handelsblatt.com/pshb?fn=tt&sfn=go&id=1077174), um – ja, um was zu tun: das Klima auf effizienterem Weg zu schützen, oder um dem Volk Sand in die Augen zu streuen?] 
Aber dieses Bedauern bezieht sich eher darauf, dass "das amerikanische 'Nein' eine kritische Betrachtung des Kyoto-Protokolls" verhindert. So also kann man sich täuschen (oder getäuscht werden?). Für mich war die Welt einfach: die USA sind die "Bösen", die sich der Welt der Klima-Retter entgegen stellen. Die "Guten" sind sie nun zwar nicht, aber die Kritik der einschlägigen Think-Tanks am Kyoto-Protokoll ist offenbar doch nicht unbegründet. Und warum sagt uns das keiner? Haben wir nicht eine Umwelt-Partei in Deutschland? Nun ja, seitdem die das Kapitaldeckungsverfahren (mit seiner impliziten Produktionssteigerungslogik) zur "Sicherung" der Renten ("Riester-Rente") eingeführt haben (und die auch nicht gerade umweltsichernde Entfernungspauschale zur Freude ihrer Klientel; "danke" übrigens, auch wenn ich nicht dazu gehöre), war mir (vgl. http://www.beltwild.de/rentenreich.htm) schon klar, dass die Grünen lediglich die Konventualenfraktion der Kapitalismuskritik darstellen). 

Eigentlich war ich aber nicht zum Politisieren oder zum politischen Philosophieren nach Frankfurt gereist, sondern nur um eine dünne Sommerhose zu kaufen – falls es denn eine solche zu kaufen gäbe. Gab es auch, aber entweder modebedingt zu kurz im Schritt oder als "Cargo Pants", also solche mit Taschen an den Seiten. Gegen deren Kauf intervenierte freilich die Styling-Beraterin an meiner Seite. Und sonst gab es nichts; andere Hosen waren dicker, und die teureren Läden habe ich natürlich gar nicht erst aufgesucht. Herrendüfte gab es auch – 50 Euro für ein Fläschchen Vanillegestank, und selbst der nach einer Minute schon verflogen. So nicht! Wenn die gesellschaftliche Entwicklungstendenzen uns kleine Leute ins ästhetische Abseits zu stoßen versuchen, haben wir immer noch ein Mittel, um uns zu wehren: KASIREST! Ich jedenfalls habe den Stadtbummel zum KASIREST umfunktioniert. 

Nun sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, was "KASIREST" heißt?KAufSIgnalRESistenzTest natürlich – was denn sonst? Den halte ich noch einige Zeit durch, und wenn ich erst verrentet sein werde, werden mir die KASIREST-Stadtbummel noch leichter fallen. Auch deshalb, weil es wohl nicht viel Rente geben wird. Ja, und zum Thema Ästhetik, ästhetisches Abseits und "Nur die Schönsten überleben": Was da an kinderreichen Familien auf Einkaufsbummel war, das war nicht unbedingt eine ästhetische Auslese. Unter diesem Blickwinkel könnte man sogar versucht sein, die Hypothese aufstellen, dass die Mode der Hässlichkeit uns biologisch revitalisieren will. Ich allerdings denke hier eher, dass Klassenkampf nicht nur im Morgenmantel stattfindet.    


Textstand vom 25.05.2024

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