Sonntag, 22. März 2009
"Krise ohne historisches Beispiel" + "Das ist eine Entwicklung, die wir nie gesehen haben": 2 Handelsblatt-Interviews v. April 2008 + März 09
Einen interessanten Rückblick auf den Debattenstand (bei denjenigen, welche den Durchblick hatten) vor einem Jahr und die damaligen Prognosen über die zukünftige Krisenentwicklung ermöglicht die Lektüre des Handelsblatt-Interviews vom 08.04.2008 von Torsten Riecke mit Mohamed El-Erian, Co-Chef des Anleihefonds Pimco, u. d. T. "Krise ohne historisches Beispiel".
Ich beschränke mich hier großenteils auf eine Wiedergabe von Auszügen, möchte aber die Leser noch einmal daran erinnern, dass es sich nicht (wie es oft scheinen mag) um einen aktuellen Kommentar zur Welt-Wirtschaftskrise handelt, sondern dass El Erian (wie auch andere) bestimmte Entwicklungen bereits vor einem Jahr prognostiziert hat (Hervorhebungen von mir):
Frage: "Macht es ökonomisch einen Unterschied, ob die Kapitalhilfen von der eigenen Regierung oder von ausländischen Staatsfonds kommen?"
Antwort: "Es macht einen [recte: KEINEN?] Unterschied, weil sich die USA als Ganzes in einem Defizit befinden. Die Leistungsbilanz ist negativ und der Haushaltsektor steckt in den roten Zahlen. Das notwendige Kapital muss also auf jeden Fall aus dem Ausland kommen. Entweder nehmen es die Banken direkt im Ausland auf oder aber sie bekommen es vom eigenen Staat. Der muss sein Defizit jedoch ebenfalls mit ausländischem Kapital finanzieren. Wenn man die Krise ohne eine tiefe Rezession in den USA bewältigen will, gibt es zu einer Kapitalhilfe aus dem Ausland keine Alternative."
Frage: "Gibt es ein historisches Vorbild für die aktuelle Krise?"
Antwort: "Ich glaube nicht, dass es ein historisches Beispiel gibt. Das ist auch der Grund, warum es so schwierig ist, eine Lösung zu finden."
Frage: "Wo werden die nächsten Brandherde der Krise ausbrechen?"
Antwort: "Wenn wir uns für den natürlichen, schmerzhaften Heilungsprozess entscheiden, wird der Rohstoffsektor als nächstes betroffen. Danach würden vermutlich die globalen Aktienmärkte leiden." Genau so kam es dann ja auch!
Zu der (in meinem Blott "Neuartige Buchgeldschöpfung im Finanzsystem als Ursache der Finanzmarktkrise: Heureka oder Denkfehler?" intensiver behandelten) Frage, ob die bilanzielle Bewertung der Finanzpapiere zu Marktpreisen zur Finanzmarktkrise beigetragen bzw. sie verschärft hat, äußert sich El-Erian negativ.
Frage: "Wird die Krise durch den Zwang verschärft, die Risikopapiere zu Marktpreisen zu bewerten?"
Antwort: "Die so genannte „mark-to-market“-Bewertung streut die Probleme. Sie ist jedoch weder die Ursache der Krise noch ihre Haupttriebkraft. Das eigentliche Problem der Finanzinstitute ist, dass sie von der Krise kalt erwischt wurden."
Nach-Frage: "Sollte man die strikte Marktbewertung dennoch aussetzen?"
Antwort: "Eine Aufschiebung von „mark-to-market“ würde nur dazu führen, dass man das Problem verniedlicht. Außerdem setzt man Bilanzregeln außer Kraft, die in den meisten Teilen der Welt gelten und dort viele Vorteile haben. Es würde den Heilungsprozess nur verlangsamen und ist für mich deshalb nur eine der letzten Möglichkeiten, um Schlimmeres zu verhindern. Wer Finanzprodukte nicht markgerecht bewertet oder etwa Hypothekenverträge nachträglich verändert, unterminiert das marktwirtschaftliche System."
Der letzte Satzteil betr. nachträgliche Vertragsänderungen ist gerade aktuell wieder von höchster Brisanz. Eine Gesetz für derartige Eingriffe in privatwirtschaftliche Verträge war offenbar schon damals in das amerikanischen Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden (vgl. einen Bericht "Bankruptcy Cram Down Bills Face Veto" vom 26.02.2008 auf der Webseite "The Truth About Mortgage.com"). Aktuell
Worum es geht, beschreibt z. B. der Bloomberg-Artikel "Mortgage ‘Cram-Down’ Bankruptcy Bill May Aid 1 Million in U.S." vom 06.03.2009 (meine Hervorhebungen):
"The so-called cram-down bill would allow federal judges to lengthen terms, cut interest rates and reduce mortgage balances of bankrupt homeowners. It also would permanently increase the Federal Deposit Insurance Corp.’s coverage of bank deposits to $250,000. The measure, which passed the House 234-191, now goes to the Senate.
The bankruptcy provision is opposed by the banking industry and most Republicans, who said it would further destabilize home prices."
Auch in der FAZ wurde das Thema, bereits am 17.03.2008, behandelt, und zwar von Peter Coy in seinem Artikel "Die Rezession ist da". Unter der Zwischenüberschrift "Wie hindert man das Schiff am Sinken" erfahren wir dort:
"Die reinste Form eines Bailouts für Eigenheimbesitzer bestünde darin, die Kreditgeber zu zwingen, den Schuldenbetrag der Kreditnehmer zu verringern. Ein solcher Cramdown könnte durch gesetzgeberischen Beschluss erreicht werden oder, wahrscheinlicher, durch eine Änderung des Insolvenzrechts auf Bundesebene, mit der es Richtern ermöglicht würde, Hypothekenschulden ebenso mit einer Chapter-13-Sanierung (Chapter 13 des Bankruptcy Code enthält Bestimmungen zur Verbrauchersanierung/Restschuldbefreiung) herabzusetzen, wie sie andere Schulden herabsetzen können. Gesetzesvorlagen zur Änderung des Insolvenzrechts lagen im Kongress auf Halde, könnten jedoch an Zugkraft gewinnen, wenn die Anzahl der Zwangsvollstreckungen weiter zunimmt.
Die Nachteile: Kurzfristig könnten den Kreditgebern noch größere Verluste entstehen. Langfristig würden sie aus Angst vor einem zukünftigen Cramdown höhere Zinsen verlangen."
Der Begriff ist allerdings nicht speziell auf die Hypothekenkrise gemünzt, sondern im US-Insolvenzrecht geläufig (vgl. den Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia zu "Chapter 11".
Auch für den deutschen Steuerzahler kann eine solche Regelung brisant werden, weil er die US-Hypothekenkredite (auch) in den deutschen Banktresoren entwerten könnte. Man kann (und wird) natürlich sagen: Was soll's, wenn die Eigentümer ohnehin nicht in der Lage sind, die eigentlich vereinbarten Tilgungsraten zu zahlen, isst es doch egal, wenn ein Insolvenzgericht sie herabsetzt. Dann können die Immobilienbesitzer in ihren Häusern wohnen bleiben; die Banken bekommen zwar u. U. keine kostendeckenden Tilgungsraten mehr, aber die hätten sie ja eh' nicht gekriegt und so kommt wenigstens die Immobilie nicht auf den Markt und drückt nicht auf die Preise.
Die Kehrseite ist allerdings, dass sich Kreditgeber auf Verträge mit US-Schuldnern in Zukunft ebenso wenig verlassen können wie die Indianer im 19. Jahrhundert sich darauf verlassen konnten, dass die US-Regierung die mit ihnen abgeschlossenen Verträge tatsächlich einhalten würde. (Insoweit wundert es mich eigentlich, dass nicht weltweit ein lauter Aufschrei durch die Finanzcommunity geht. Allerdings hatte ich irgendwo schon mal gelesen, dass die deutsche Bundesregierung Bedenken geäußert habe.) (Auch Nouriel Roubini schlägt in einem Focus-Interview vom 09.02.2009 einen teilweisen und pauschalen Schuldenerlass vor, der hälftig durch die Banken und die Regierung aufgebracht werden soll.)
Vor allem könnte ein solches Vorgehen der USA weltweit zu einem Dammbruch führen: Island, Irland usw. sowie überschuldete Länder und Bürger der 3. Welt und in Osteuropa könnten und würden vermutlich auf den gleichen geniale Gedanken kommen, sich ihrer Schulden, teilweise jedenfalls, durch einen Federstrich zu entledigen. Da würde ein Fass aufgemacht, aus welchem wir deutschen Steuerzahler noch lange sauren Wein zu trinken hätten. Für mich ist das schlicht eine Sauerei! (Momentan hängt die Gesetzgebung im US-Senat denn auch; vgl. den Artikel "Plan to Let Judges Alter Loans Stalls " im Wall Street Journal vom 20.03.2009.)
Aber zurück nach diesem Einschub zu El-Erian. Der bewertet die damalige Krisenreaktion der Europäischen Zentralbank leicht besser als diejenige der Fed, nämlich mit "A" gegenüber "A-" für Ben Bernanke:
Frage: "Warum schneidet die EZB besser ab als die Fed?"
Antwort: "Die EZB hat sehr schnell realisiert, dass die versiegende Liquidität das dringendste Problem des Finanzsystems ist. Sie hat darauf sehr aggressiv mit Liquiditätshilfen reagiert. Die Fed hat viel länger gebraucht, um das zu merken. Die US-Notenbank hat erst mit dem Zinshebel reagiert und dann gemerkt, dass die Zinspolitik zu stumpf ist, um der Krise zu Leibe zu rücken."
Bei der Frage nach den weltweiten konjunkturellen Auswirkungen war er, zumindest hinsichtlich der Abschätzung im Zeitverlauf, vielleicht ein wenig zu optimistisch, letztlich aber doch Realist:
"Die Konjunktur im Rest der Welt wird nicht derart schnell zurückgehen wie in den USA. Aber es wird keine Entkoppelung der Märkte geben."
Brandaktuell angesichts der Geldschwemme aus der US-Notenbank (vgl. z. B. Handelsblatt-Bericht "Märkte reagieren positiv. Fed stützt Kreditmärkte mit über einer Billion" vom 19.03.2009) sind die Ausführungen des Pimco-Co-Chefs zum Thema Inflation:
Frage: "Hat die Fed mit ihrer Geldschwemme den Boden für die nächste Spekulationsblase bereitet?"
Antwort: "Ich glaube, dass wir in einigen Jahren ein Inflationsproblem bekommen werden. Das ist der Kollateralschaden der Krisenbekämpfung. Es wird viel schwieriger für die Zentralbanken, die Inflation unter Kontrolle zu bekommen. Das liegt auch an den verzögerten Folgen der heutigen Liquiditätshilfen."
Seine Prognosen zur Devisen-Kursentwicklung von Dollar, Euro usw. (aktuell schon teilweise bestätigt; vgl. HB-Bericht "Devisenhandel. US-Notenbank schickt den Dollar auf Talfahrt" vom 19.03.09):
"Der Dollar wird sich in den nächsten fünf Jahren weiter ab-schwächen. Entscheidend ist, wie diese Abschwächung verläuft. Am besten wäre es, wenn jene Währungen, die im Moment unterbewertet sind, an Wert gewinnen. Das bedeutet einen schwächeren Dollar, sehr viel stärkere Währungen in Asien dem Mittleren Osten und Russland. Der Euro, der bislang die Hauptlast des Dollarverfalls getragen hat, würde in diesem Szenario etwas schwächer werden. Die Schwierigkeit ist, dieses Ziel auf einem geordneten Weg zu erreichen."
Zur geopolitischen Lokalisierung der Finanzkrise:
"Das Epizentrum des Finanzbebens liegt in den USA. Deshalb benötigen wir diese Hilfen sicher in Amerika. Darüber hinaus ist auch Großbritannien gefährdet."
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Das andere Interview wurde unter der Überschrift "Wir unterschätzen in Deutschland die Krise" am 20.03.2009 veröffentlicht. Matthias Eberle hat es mit Peter Jungen geführt, über dessen Status er einleitend informiert:
"Der Kölner Unternehmer Peter Jungen (69) war Strabag-Chef und Firmenkäufer der Treuhandanstalt. Heute engagiert er sich beim New Yorker Think Tank "Center on Capitalism and Society" und warnt gemeinsam mit US-Nobelpreisträgern wie Edmund Phelps und Joseph Stiglitz vor dem Ausmaß der Krise, für das in Deutschland das Verständnis fehle. Jungen spricht im Interview mit Handelsblatt.com von stärkeren Rückgängen als in den 30er-Jahren.".
Textauszüge (meine Hervorhebungen):
"... muss endlich aus den Köpfen, dass wir es nicht mit einer Finanzmarkt-Krise allein zu tun haben, die gierige Banker oder Hedge-Fonds angezettelt haben. Die Ursachen und Probleme liegen viel tiefer. .....
Die Welt hat seit dem Ende des Kommunismus eine historisch lange Wachstumsphase von 18 Jahren hinter sich. Maschinenbauer oder Industriegüterfirmen haben aber bereits in der ersten Jahreshälfte 2007 die Spitze des Auftragseingangs gesehen. Auch der Anstieg der deutschen Export-Auftragseingänge erreichte bereits 2007 seinen Höhepunkt. Es war also erkennbar, dass sich der Wachstumszyklus zum Ende neigt und der Abschwung einsetzt. In dieser weltwirtschaftlichen Situation kam die schwere Schuldenkrise obendrauf. Das ist, als würde sich der Patient nach einer Lungenentzündung eine weitere Infektion holen."
Frage: "Fehlt Ihrer Meinung nach das Verständnis für die Tiefe der Rezession?"
Antwort: "In Deutschland ist das ganz sicher so. Der Gedanke, mit ein paar Konjunkturprogrammen die Krise zu verhindern, ist eine Illusion. Man kann sie damit bestenfalls abmildern. Welthandel, Industrieproduktion und Auslandsinvestitionen gehen inzwischen stärker zurück als in den 30er-Jahren."
Kritisch bewertet Jungen die Zielrichtung der aktuellen Konjunkturprogramme und sonstigen Hilfsmaßnahmen:
"Das Problem ist, dass alle Ressourcen und politische Energien derzeit auf den Erhalt bestehender Kapazitäten gerichtet sind. Wie verhindern wir Arbeitslosigkeit? Wie retten wir Opel? Wir dürfen Steuergelder aber nicht für die Förderung von Unproduktivität verpulvern. Viel wichtiger ist: Gibt es Kapital für die Finanzierung von Innovationen, für junge Unternehmen und Unternehmer, die mit neuen Produkten und Dienstleistungen neue Angebote schaffen. Wenn das nicht passiert, werden wir das eigentliche Problem in drei oder vier Jahren haben, weil dann die Wirtschaften im Westen ihre Dynamik, ihre Innovationsfähigkeit eingebüßt haben. Eine solche Entwicklung wäre auf Sicht schlimmer als die jetzige Krise, weil sie uns behindern würde, am nächsten Aufschwung teilzuhaben - für zehn Jahre oder länger, vielleicht für eine ganze Generation."
Und skeptisch ist er gegenüber der Erwartung, die Kurzarbeit könne ein wirksames Mittel gegen einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit sein:
"Die Probleme werden nicht mit Kurzarbeit zu lösen sein, weil das impliziert, dass es in sechs Monaten so weitergeht wie in den Boomjahren zuvor. Das ist aber nicht absehbar."
Auf kurzsichtige Prozent-Prognosen lässt Jungen sich gar nicht erst ein; seine Perspektive ist längerfristig - und (aus meiner Sicht zutreffend) zappenduster:
"Es ist nicht so sehr die Frage, ob wir dieses Jahr um drei oder vier Prozent schrumpfen. Die Frage ist vielmehr, wie lange werden wir schrumpfen, wie viele Jahre? Wir können bestenfalls hoffen, dass die Geschwindigkeit des Rückgangs nachlassen wird. Die alte Welt wird aber innerhalb der nächsten fünf Jahre nicht hergestellt sein."
Einen weiteren Vergleich mit der ersten Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. zieht er mit der Feststellung:
"Inzwischen schrumpft die weltweite Industrieproduktion schneller als 1929. Das Problem ist also in seiner Dimension größer als in den 30er-Jahren, auch weil die Welt wirtschaftlich nie so integriert war wie heute."
Zum Abschluss des Beitrages schildert der Interviewer noch einmal ausführlich die aktuellen Aktivitäten des Interviewten und zitiert ihn abschließend mit einem im Interviewtext nicht enthaltenen dramatischen Satz:
"2009 ist er überzeugt, dass die Wirtschaft vor einer historischen Krise steht: 'Das ist eine Entwicklung, die wir nie zuvor gesehen haben'."
Mit dieser Einschätzung dürfte Jungen leider nur zu sehr ins Schwarze getroffen haben.
Textstand vom 16.06.2023
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