Freitag, 23. September 2005
IN FLAGRANTI
Schon in früheren Eintragungen hatte ich in anekdotischer Form einige Produktivitätsfortschrittsdiebe identifiziert:
"BALLA BALLA ODER DIE PRODUKTIVITÄTSFORTSCHRITTSDIEBE DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN SAU(G)NÄPFE"
und
"KEIN 'HAPPY END' FÜR DIE HAUSHALTSKASSE" oder "WER STIEHLT UNS DEN PRODUKTIVITÄTSFORTSCHRITT BEIM TOILETTENPAPIER?"
sowie nicht zuletzt die ständig steigenden Nostalgiekosten:
RENTEN SICHERN - WEHRFRIEDHOFSMAUER ZERFALLEN LASSEN!
Im Fortune-Magazin vom 07.09.2005 fand ich nun einen Artikel unter dem Titel "The Law of Unintended Consequences". Der hat zunächst einmal zwar eine andere Zielrichtung. Der Autor (Clifton Leaf) vertritt die Meinung, dass biotechnologische Entdeckungen und Erfindungen, die mit Unterstützung durch staatliche Fördergelder in Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen gemacht wurden, an jeden Interessenten lizenziert werden sollten, und nicht im Interesse der Gewinnmaximierung und des schnellen Geldes exklusiv an eine oder wenige Firmen vergeben, was seiner Meinung nach das Entwicklungstempo der Biotechnologie verlangsamt.
"The problem is, once it became clear that individuals could own little parcels of biology or chemistry, the common domain of scientific exchange—that dynamic place where theories are introduced, then challenged, and ultimately improved—begins to shrink. What's more, as the number of claims grows, so do the overlapping claims and legal challenges."
"Now technology-transfer offices instruct faculty to go over the most embryonic of discoveries 'in-house,' to see if there is anything potentially marketable in the work before they talk to colleagues. Researchers are told, always, to file provisional patent applications before publishing a paper or speaking at a conference. (Such public disclosures, according to European patent laws, immediately nix any chance to patent the finding overseas, where much of the licensing market is.) Before sharing resources like cell lines, reagents, tissue specimens, gene expression data ... researchers at different universities are now asked to sign a 'material transfer agreement' Then there is ... the 'reach-through licensing agreement' ... . These contracts grant the owner of a patented biomedical tool the right to a royalty on any compound that's ultimately discovered through its use. Imagine a carpenter having to pay Black & Decker a percentage of every kitchen he rebuilds."
Wo Futter ist, ist Futterneid nicht weit; und dessen (juristische) Abwehr kostet Geld:
"From 1992 to September 2003, pharmaceutical companies tied up the federal courts with 494 patent suits. That's more than the number filed in the computer hardware, aerospace, defense, and chemical industries combined. Those legal expenses are part of a giant, hidden 'drug tax'—a tax that has to be paid by someone. And that someone ... is you."
So kommt die exklusive private Aneignung (privat heißt hier: Aneignung der Ergebnisse von öffentlich geförderter Forschung durch die Universitäten bzw. öffentlichen Forschungsinstitute und die jeweiligen Forscher/Erfinder) die Amerikaner (und mutatis mutandis ist es bei uns wohl ebenso) teuer zu stehen:
"... it's clear who pays for it. You do. You pay in the form of vastly higher drug prices and health-care insurance. Americans spent $179 billion on prescription drugs in 2003. That's up from ... wait for it ... $12 billion in 1980. That's a 13% hike, year after year, for two decades." [Hervorhebung von mir]
Und welche aufregend neue Heilmittel bekommen die Amerikaner (und entsprechend zweifellos auch wir) für solche gigantischen Kostensteigerungen?
"For a number of common diseases, it seems that progress has stalled. Since the advent of genetically engineered human insulin in 1977, there has been relatively little new help for diabetics. Age-adjusted death rates for those with the disease have gotten worse, not better, during the past 25 years. Patients with Parkinson's, Alzheimer's, and multiple sclerosis have waited anxiously for anything promising to appear in the pipeline. And in cancer, one remarkable study led by the FDA's cancer czar, Richard Pazdur, seems to say it all: A full three-quarters of the 71 cancer drugs approved by the agency from 1990 through 2002 did not show any survival benefit over the old, standard care." [Hervorhebung von mir]
Aus dieser wie aus zahlreichen anderen Nachrichten ziehe ich die Schlussfolgerung, dass die Wohlstandserhaltung und Wohlstandsmehrung nicht ausschließlich durch die Profite (oder ggf. die Gier) der Kapitalbesitzer (dadurch zwar auch!) und die vermeintlich undurchsichtigen Mechanismen der Globalisierung bedroht ist. Sondern in ganz erheblichem Maße auch durch die Gier derjenigen, die erst noch reich werden wollen (Stars der Filmindustrie und der Sport"industrie", Künstler, Forscher usw.), aber nicht zuletzt auch durch drastisch steigende Komplexitätskosten.
Und z. B. im Pharmabereich durch unheilige Allianzen von Kapital und Arbeit. Bei uns jedenfalls (vermutlich ähnlich in den USA) sorgt wahrscheinlich die Interessenkollusion von Arbeitnehmervertretungen und Pharmaindustrie (unterstützt durch das fehlende Kostenbewusstsein der Versicherten in ihrer Eigenschaft als Leistungsempfänger) dafür, dass die Versichertengemeinschaft teure Pillen von fragwürdigem Nutzen schlucken muss. Gut vorstellbar ist auch, dass diese Situation die Entwicklung neuer Wirkstoffe eher behindert als fördert: warum soll die Pharmaindustrie kostspielige Forschungsrisiken eingehen, wenn sie ihr Geld ebenso gut mit Placebo-Pillen verdienen kann? Da auch die Versicherten häufig nur das für gut halten, was teuer ist, haben wir es mit einer unheiligen Interessentrinität zu tun, die politisch kaum zu knacken ist (falls ein Politiker das überhaupt wollte).
Die Interessenvertretung der Leidtragenden – Arbeitgeber und Versicherte als Beitragszahler – ist so konstituiert, dass die vorhandenen objektiven Interessenkonflikte innerhalb der jeweiligen Organisationen (Gewerkschaften, Unternehmerverbände) offenbar nicht ausgetragen werden, jedenfalls nicht mit der gleichen Härte, wie die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit. Man will ja nicht die jeweiligen Reihen schwächen – da schwächt man lieber jedermanns Portemonnaie.
Sicherlich ist es wichtig, im vertikalen Verteilungskampf den Rechtfertigungsdruck auf die Reichen (wie immer man diese Gruppe definieren mag) aufrecht zu halten.
Doch haben unsere Taschen viele Löcher, aus denen die Produktivitätsfortschritte auch horizontal wieder herausrieseln. Wirtschaftliches Wachstum in allgemeinen Wohlstand umzusetzen, erfordert (wie die Strategie der französischen Force de Frappe) eine Kampfbereitschaft "tous Azimuts". (Und manchmal sogar gegen uns selbst.)
Nachtrag 19.06.2009
Neues (bzw. tendenziell: Altes) zum Thema bringt (bzw. brachte schon vor einigen Monaten) der ZEIT-Bericht "Pharmaforschung. Schmerzhaftes Scheitern" von Volker Stollorz vom 11.02.2009:
"Nur 19 neue Medikamente wurden im Jahr 2007 in den USA erstmals zugelassen – ein historischer Tiefstand. Er zeigt eine dramatische Entwicklung in der Pharmaindustrie, die sich seit Jahren weltweit verschärft: Es fehlen neue, innovative Substanzen."
Textstand vom 19.06.2009. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
finden Sie eine Gesamtübersicht meiner Blog-Einträge.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen