Praga, quando te aspiciam, Anfang der 70er Jahre, wurden deine Mauern von rostigen Gerüsten zusammen gehalten.
Meine Wahrnehmung der Stadt war optisch vorgeprägt. Das freilich nicht durch den Fotoband "Praga, quando te aspiciam" (Prag, als ich dich erblickte) von Karel [auch: Karol] Plicka, zu dem Jaroslav Seifert eine kurze aber beeindruckende Einleitung geschrieben hat. Die Fotos darin sind zwar schön, und die Ausstattung mit Leineneinband und Schmuckprägung ist ansprechend, doch fehlt, ich weiß nicht weshalb, die "magische" Ausstrahlung des älteren atlasformatigen Bildbandes, ebenfalls von Karel Plicka, der unter dem Titel "Prag, ein fotografisches Bilderbuch" in zahlreichen Auflagen erschienen ist.
[Erg. 07.08.2014: Eine ganze Reihe seiner Aufnahmen, aus verschiedenen Bildbänden, findet man bei tumblr. Von den in den Büchern "nur" schwarz-weiß gedruckten Fotos kann man diejenigen Bilder deutlich unterscheiden, die in (bräunlicher) Sepiatönung gedruckt wurden. Wohl alle Aufnahmen aus dem schönen Buch über die Moldau sind auf dieser tschechischsprachigen Webseite zu sehen. Spannend sind Robert Zuidams Gegenüberstellungen von s/w-Aufnahmen aus Plickas Prag-Band mit neuen Farbfotos des gleichen Bildausschnitts bei Pinterest. Weitere Infos über Karel Plicka, sowie ein herrliches Landschaftsfoto hier.]
Die erste Ausgabe des Prag-Bilderbuchs hieß "Prag im Lichtbild", und war im Verlag "Volk und Reich", etwa 1940 in Prag herausgekommen. Später, als Volk und Reich ziemlich geschrumpft waren, erschienen weitere Ausgaben im tschechischen Verlag Artia in Prag.
Diese Folgeauflagen wurden auch bei Artia, also nach dem Krieg, weiterhin in Kupfertiefdruck hergestellt, zunächst sogar immer noch mit Sepiatönung. Welcher Verlag hätte es bei uns zu jener Zeit wirtschaftlich wagen können, kostspielige Bildbände in dieser Drucktechnik zu publizieren - falls es überhaupt noch Druckereien mit der entsprechenden Ausstattung gab?
Aber irgendwann holte die ökonomische Realität auch den kulturidealistischen sozialistischen Buchdruck ein, und die Bilder waren nur noch schwarz-weiß. Das aber weiterhin in Kupfertiefdruck, wodurch ihnen viel von ihrer Plastizität erhalten blieb. Den meisten "Kunstdruck"-Glanzpapieren, zumal der 50er und 60er Jahre, ziehe ich Kupfertiefdruck-Abbildungen allemal vor.
Es waren weniger die Gebäudeaufnahmen, die mich beeindruckten, wann immer ich den Bildband in irgendeinem Antiquariat sah. Bauwerke, andere zwar, figurieren als Motive in jedweden Bildbänden von allen Städten, und, realistisch betrachtet, sind die Kirchen und Paläste in Prag so aufregend nun auch wieder nicht. Mancher Palast mag eine schöne Fassade haben, aber die ist dann in enge Gassen eingequetscht. Die Kirchen - nun ja: die Türme des Veitsdomes bilden zwar eine städtebauliche Dominante, sind aber doch nur nachgemachte Gotik. Und für die vielgepriesene Nikolauskirche auf der Kleinseite habe ich mich, soweit ich sie auf Abbildungen sehe, nie so recht erwärmen können.
Begeistert haben mich diejenigen Ansichten, die dem Touristen verschlossen bleiben: Plickas großartige Fotos der Dachlandschaften von Prag. Die Straßen sind eng, gewiß, aber einen mittelalterlichen Charakter, wie ihn das Ghetto um 1900 noch gehabt haben mag, konnte ich darin nicht entdecken. Anders die Dächer. Schon die häufig altertümlichen Ziegel - "Mönch" und "Nonne"? - entzücken; eigentlich "mittelalterlich" wirkt aber erst das Gewinkel der Dächer, eine Kleinteiligkeit, die im Grundriss der Gassen mit ihren allzu hohen Steingebäuden verloren gegangen ist, oder jedenfalls nicht mehr wahrnehmbar. Wahrscheinlich wurden die Dachformen erst im Barock in dieser Form ausgeprägt, manches vielleicht sogar erst später aus- und angebaut. Die Wirkung, auf Plickas Fotos zumindest, ist einzigartig: eine verzauberte Welt, ein Prag, so "magisch" wie in den Illustration von Hugo Steiner-Prag zu Gustaf Meyrinks Roman "Der Golem".
"Als wir zum ersten Male die Bilder Plickas sahen, fragten wir uns im Geiste vor allem, woher dieser Künstler seine Überraschungen nehme, von wo jene Melodie in den Linien der Dächer ... herüberklinge ..." schwärmt Seifert.
Doch das sind Gedanken aus der Welt der Bilder, nicht aus der unmittelbaren Wahrnehmung eines Prager Spaziergängers abgeleitet. Trotzdem hat sich Jaroslav Seifert den Nobelpreis für Literatur (1984) schon deshalb ehrlich verdient :-), weil er in seinem Vorwort zu "Praga, quando te aspiciam" kurz und prägnant genau diejenigen für jedermann wahrnehmbaren Stadt-Bilder beschrieben hat, die auch mich gefangen genommen haben. Die Natur ist es, die mit ihrer profilgebenden Hügelung und der selbst noch in Zentrumsnähe auf Moldauinseln und Gartenhängen vegetationsbedeckten Landschaft den Augen und Gedanken einen Auslass aus der Gassenenge gewährt, und dadurch den Eindruck von Prag wesentlich stärker mitbestimmt als in anderen Städten dieser Größe.
"Prag", schreibt Seifert, "beschäftigt vielleicht mehr als andere Städte, denen ein gegliedertes Terrain versagt blieb ..." [die Fotografen - und die Augen der Reisenden].
"Und sah jemals einer die Peterskirche in Rom oder Notre Dame in eine Flut zarter Obstblüten getaucht? In Prag ist uns dieser Anblick vertraut ...".
Den Sommer lässt er, etwas konventionell, "aus dem frischen Grün der Hänge und Gärten einen Kranz" winden.
Um den Zauber der Nacht zu schildern, greift er ganz (ein wenig zu?) tief in die Saiten der poetischen Leier: "Wenn dann jemand ... goldene, dann zartrosa, dann rötliche und schließlich glutrote Lichter anzündet, ist es schon vorgekommen, dass selbst die Liebespaare vergaßen, sich zu küssen". Eine solche Behauptung weckt allerdings medizinische Bedenken bei mir: Alzheimer schon in jungen Jahren?
Das einzige jedenfalls, was mich daran gehindert hat, meine Frau unter Prager Laternen zu küssen, war die Abfahrt unseres Reisebusses bereits in früher Abendstunde. Erst Ende der 80er Jahre habe ich Prag mit ihr besucht (auf den früheren Besuchen war ich Reiseleiter gewesen), und leider nur für einen Tag. Es war eine echte "Schlauchtour": abends aus Frankfurt ab; im Bus, welchen die roten Philanthropen an der Friedensgrenze zu den bösen Kapitalisten stundenlang auf die Schlagbaumerhebung warten ließen; schlafen konnten wir natürlich nicht. Nach der Ankunft einen halben Tag Stadttour; ab Mittag freie Zeit. Essen in einem volkstümlichen Gasthaus auf der Kleinseite (heute vermutlich irgend ein "Chez Dingsbums"); Spaziergang auf der Insel Kampa: Oase, Erholung im Großstadttrubel. Hübsche Nymphen lustwandelten auf der Insel der Liebenden: auch im Sozialismus war halt nicht jedes Gewerbe verstaatlicht.
Oben auf der Burg haben wir einen Kaffee gerade noch ergattert in der Goldenen Gasse; dann war Feierabend, so gegen 16.00 h oder 17.00 h. Das dürfte sich geändert haben. Und der Satz "Mokka schmeckt auch gut", der ist heute wohl auch ausgestorben.
Ob wir ihn überhaupt gehört haben, irgendwo in der Stadt an einem Eisverkaufsstand? Tschechisch konnten wir nicht, aber die Schilder für "Vanilleeis" und "Schokoladeneis" waren verständlich. Nur war keines von beiden vorrätig, und den entsprechenden Hinweis des Verkäufers, auf Tschechisch, haben wir uns mit eben diesem Satz übersetzt: "Mokka schmeckt auch gut". Mokkaeis jedenfalls war es, was wir dann gegessen haben. Ob es geschmeckt hat? Weiß ich nicht mehr; diese Worte aber sind seitdem fester Bestandteil unseres verbalen Mikrokosmos geblieben.
Und schön war die Stadt trotz allem. Ob wir jetzt noch einmal hinfahren sollten? Bestimmt geht bei McDonalds das Vanilleeis nicht aus, und wenn doch, wird man uns das Mokkaeis auf englisch oder deutsch anpreisen. Trotzdem oder deswegen: vielleicht wäre eine Wiederbegegnung mit dem neuen Prag ein Erlebnis wie "Lotte in Weimar". Oder, parallelenpräziser, wie ein gedachter Goethe bei Lotte in Hannover.
Vielleicht ist es klüger, wenn ich mich auf Bildbandbesuche beschränke:
"Praha objektivem mistru" (Prag im Objektiv der Meister) u. a. mit suggestiven Naturfotos von Josef Sudek (dessen "Prague panoramique" ich mir sicherlich kaufen werde - falls ich im Lotto den Jackpot knacke).
Erich Einhorn hat dem "Prager Alltag" (1958) des real existierenden Sozialismus (und der real existierenden Umweltverschmutzung) eine erstaunliche Poesie abgewonnen.
Noch einmal Plicka, ohne Prag im Titel, aber mit einigen Prager Naturlandschaften im Tafelteil: "Vltava", die Moldau. Für Prag dort z. B. Aufnahmen von und auf der Insel Kampa, und das Bachbett der Wilden Sarka. Naturschutzgebiet ist es, und trotzdem in beinahe keinem Reiseführer erwähnt. Auch der Baedeker ist halt nicht mehr das, was er einst war: wie soll man mit einem Reiseführer eine Invasion planen, der nicht einmal strategisch wichtige Bachbetten verzeichnet? (Also selbst autopsieren, falls wir irgendwann noch einmal in die Stadt kommen sollten!)
Nostalgisch: Ladislav Sitenskys "Praha mého mládí" (das Prag meiner Jugend), vielfältig stimmungsvolle Fotos von Tageszeiten, Alltagsleben, und auch seine Linse bannt meisterhaft die spitzwegische Winkelästhetik der Prager Dachlandschaften.
Am Ende aber zieht es mich immer wieder in den Zauber der Prager Nächte von anno Gaslaterne.
Angeblich soll es nur eine einzige Prager Nacht gewesen sein, in der Ferdinand Bucina die 81 Stimmungen seines "Prager Notturno" eingefangen hat, "in dem eine einzige Nacht und viele Gaslampen das Antlitz der Stadt verwandeln". Weihnachtskartig schön wärmen einige winterliche Straßenlaternenszenen das Herz des Betrachters. Doch ist die reale Welt dort draußen zweifellos kalt; besser, wir blättern uns in der warmen Stube durch die Perspektiven des Photographen.
Ob es heute noch Gaslaternen gibt, in Prag?
(Nachtrag 15.3.07: "Ja, mittlerweile gibt es sie wieder". Und sie vermehren sich sogar.)
Nachtrag vom 05.03.2007:
Jedenfalls regt Prag noch immer zu eindrucksvollen Fotografien an: hier die Übersichtsseite mit zahlreichen Aufnahmen verschiedener Fotografen (von unterschiedlicher Qualität).
Nachtrag vom 12.10.07:
Bei dem Versuch, einen (wunderschönen) Bildband über Iznik-Keramik noch irgendwo in meine überquellenden Bücherschrankwand hinein zu quetschen, kam ein alter Ordner (pfui, staubig!) ans Licht, und darin mein Antrag (an das Reisebüro) auf Prag-Visa für meine Frau und mich. Die Fahrt dauerte vom 17.-19.08.1984 (war also nicht "Ende", wie ich oben schrieb, sondern Mitte der 80er Jahre). -3- Tage: das hört sich gut an, aber in Wirklichkeit war es, wie oben beschrieben, lediglich eine Tagestour - mit einer Nachtfahrt hin und einer Nachtfahrt zurück.
Textstand vom 02.09.2022
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