Auch wenn ich mich mit den Vorstellungen von Niklas Luhmann über "Kausalität im Süden" nicht so recht anfreunden kann (vgl. meinen Blog-Eintrag vom 06.12.05): 'blitzgescheit' war der Mann allemal.
Deshalb habe ich aus dem Interview "Wahrheit ist nicht zentral" einige Sentenzen extrahiert, von denen ich glaube, dass ich sie im Gedächtnis behalten sollte. Da mein geistiges "information storage and retrieval-system" freilich nicht das leistungsfähigste ist, und weil ich einen Zettelkasten weder in Papierform noch als PC-Programm besitze, lege ich sie hier im Blog ab.
Da haben dann vielleicht auch etwaige Leser einen Nutzen davon.
Gegen die gedankenlose Verwendung des Begriffs "Krise" für alles und jedes:
"Ich bezweifle, dass die Politik tatsächlich in einer Krise steckt. Denn Krisen würden ja auch irgendwann beendet sein. Übrigens ist das bei der Rede von einer Kirchenkrise oder einer Krise der Familie ganz dasselbe. Alle diese Bereiche mögen neuen Bedingungen unterliegen, aber ich glaube nicht, dass das Krisen sind."
[Zur Geschichte des Krisenbegriffs gibt es Informationen im "Dictionary of the History of Ideas"]
Über den Spielraum von Politik (den wir Bürger/Wähler meist gewaltig überschätzen):
"Die heutige Politik ist ja zwischen Richtern und öffentlicher Meinung eingeklemmt. Ihr Spielraum besteht aus dem, was das Verfassungsgericht zulässt und was die Öffentlichkeit als Resonanz gibt."
Zum möglichen Wahrheitsgehalt einer Kommunikation unter Zeitdruck:
"Ich denke, dass eine Kommunikation, die auf Wahrheit spezialisiert ist, nicht unter Zeitdruck stehen darf. Man weiß ja nicht, wie lange man prüfen muss. Schon im 17. Jahrhundert gab es übrigens ein Theaterstück über einen Menschen, der eine Zeitung gründete, die jede Woche erscheinen sollte. Im Fortgang der Handlung wurde dann gefolgert, dass da nur Lügen drin stehen können, denn, so dachte man damals, es passiert ja nicht jede Woche etwas."
Zur gewissermaßen 'wahrheitsunabhängigen' Funktion von Medien:
"Was in den Medien und der öffentlichen Meinung reproduziert wird, ist eher ein Verständnis für Themen oder, wie ich sage, frames. In dem Sinne, dass man überhaupt weiß, dass es Umweltverschmutzung gibt. Ob die konkrete Meldung nun zutrifft oder nicht, jedenfalls hat sie einen Kontext, in dem sie weiterbehandelt werden kann. ... Was Medien leisten, ist, Verständnis für Themen herzustellen."
Warum er kein Fernsehgerät besaß:
"Ich selbst habe übrigens gar keinen Fernseher, da finde ich sowieso kaum etwas und habe auch gar nicht die Zeit dazu."
Ergänzung vom 20.12.05:
Interessante Zitate aus einem in 2 Teilen gesendeten Interview von Dr. Wolfgang Hagen für Radio Bremen aus dem Jahr 1997 (das Interview ist auf der Webseite von Radio Bremen auch als Audio-Datei verfügbar):
Teil I (http://www.radiobremen.de/online/luhmann/es_gibt_keine_biographie.pdf)
Nachtrag 25.07.2008:
Übrigens können wir uns glücklich schätzen, dass Luhmann seine Kriegsgefangenschaft überlebt hat. Er war offenbar in einem der sogenannten "Rheinwiesenlager" interniert (in dem hier verlinkten Wikipedia-Artikel wird in der Liste der Rheinwiesenlager ausdrücklich auch ein solches bei Ludwigshafen erwähnt) und sagt darüber u. a. (in dem o. a. 1. Teil des Interviews): "Wir hatten nachher in den Rheinauen in der Nähe von Ludwigshafen so Abteilungen, jeweils tausend Leute in einer Abteilung, und dann die nächste, und da gab es immerhin einen Toten pro Tag von tausend. Wo die alle begraben sind, das weiß ich auch nicht. Ich meine, einfach verhungert, nicht wahr, Erschöpfung, vor allem ältere Leute."]
Teil II (http://www.radiobremen.de/online/luhmann/realitaet_der_massenmedien.pdf)
1) Psychologischer Ausgangspunkt für Luhmanns Theoriebildung:
Also ich denke, dass mein Ausgangspunkt immer ist: ein Defizit in der gegenwärtigen intellektuellen Landschaft, was immer wieder dazu führt, dass einzelne Gesichtspunkte hochgezogen werden, und dann also für das Ganze verkauft werden. Da spricht man von der Risikogesellschaft oder von der Informationsgesellschaft, wenn man meint, das alles über den Computer besser begreifen zu können, oder die Verteilungsungerechtigkeit des wirtschaftlichen Wohlstandes als das Zentralproblem der modernen Gesellschaft. Aber wie kommt es zu diesem Urteil? Die Frage ist: Wieso weiß jemand, dass es darauf ankommt und auf nichts anderes. Und ich finde, dass das gegenüber den möglichen intellektuellen Ansätzen einfach unzureichend ist, und man das besser machen könnte.
2) Zielsetzung von Luhmanns Theoriebildung:
An sich habe ich natürlich schon den Eindruck, das Gefühl und auch den Willen, das zu bekennen, dass die Theorie etwas leistet: Ein besseres, komplexeres Verständnis der modernen Welt.
3) Kommentare Luhmanns zum Zeitgeist:
Frage: Denn die anderen haben es ja vorweg schon beantwortet, dass sie, sozusagen in Anführungszeichen, bestimmte Haltungen mitteilen, die, wenn man sich mit ihnen identifiziert, Heilung bringen.
Antwort Luhmann: Das sehe ich einfach nicht, oder ich sehe es nur als eine Spätfolge von, sagen wir mal, Phantomschmerzen, die man im 19. Jahrhundert mit Sinnverlust und, was weiß ich, Entfremdung und Ausbeutung und all diesen Begriffen. Die reagierten auf eine komplette Veränderung der Gesellschaftsstrukturen um 1800, also die Ermordung des Königs, die Beschäftigung der Leute außerhalb der Häuser; Schulen, Fabriken, Büros usw. usw. Es hat also so viele Brüche gegeben in der Tradition, dass infolgedessen gleichsam so eine Formulierung wie Sinnverlust oder Mangel an Selbstverwirklichung oder Emanzipation (was immer das dann bedeuten kann) auftaucht. Aber das ist keine ausreichende Grundlage, das ist also eine Art von Reaktion auf etwas, was in der Reaktion nicht begriffen wird
[Eigener Kommentar dazu: Letztlich ist auch das ("Reaktion ...") ein geistesgeschichtliches Verständnis dieser Erscheinungen. Die soziologische Frage wäre aber doch wohl eher, welche Funktionen diese Reaktionen im System haben könnten?]
Frage: Sie haben Phantomschmerzen gesagt, das ist ja ein interessanter Begriff.
L: Ja, weil es auch Mutation war. Früher war man in der Gesellschaft geborgen und aufgehoben und hatte seinen Platz, einen guten oder schlechten. Und das ist jetzt vorbei, und genau deshalb kommt diese Klage - Sinnverlust, Orientierungsverlust und so etwas.
[Eigener Kommentar dazu: Dieses "Früher hatte man seinen Platz in der Gesellschaft ..." hat man nun schon allzu oft gehört. Ob die Dynamisierung des sozialen Gefüges aber wirklich zur Begründung derartiger Gedanken oder geistiger Strömungen taugt? Könnte nicht etwas anderes – aber was? – dahinter stecken? Beispielsweise das Unbehagen jener, die früher ihren Platz automatisch oben in der Gesellschaft hatten, jetzt aber einen solchen Platz erst erkämpfen oder behaupten müssen? Denn warum sollten diejenigen, die früher einen schlechten Platz in der Gesellschaft hatten bzw. gehabt hätten, diesem nachtrauern bzw. diesen Zustand wieder herbeisehnen?]
Teil II = http://www.radiobremen.de/online/luhmann/realitaet_der_massenmedien.pdf
4) Über Kommunikation und Realität:
Und dass wir die Realität, so wie sie wirklich ist, wenn es so etwas überhaupt gibt, nicht in die Kommunikation einbauen können, weil das immer eine Auswahl erfordert, das ist auch klar. Insofern: der Einwand vermisst etwas, was es nicht geben kann aus meiner Sicht, nämlich eine direkte Übernahme von Realität, was immer das ist, in Kommunikation. .....
Die eigentliche Frage des Konstruktivismus ist ja letztlich nicht so eine punktuelle, stimmt es oder stimmt es nicht, so eine Frage, wo wollen wir etwas unterscheiden, was ist eigentlich der Kontext, in dem irgendwas profiliert wird. ..... Man könnte in Los Angeles ja ganz andere Sachen sehen als Rassenunruhen und könnte technische Wunderleistungen oder was immer oder die Verkehrsströme oder das Klima oder was immer beobachten, und die Hintergrundthese ist, dass also alles, was wir beobachten, bezeichnen, beschreiben, immer über Unterscheidung läuft. Es gibt immer eine andere Seite, die nicht berichtet wird.Frage: Und deswegen schon ist der Wahrheitsanspruch falsch.
L: Ja, wenn man ein traditionelles Verständnis zugrunde legt, eine Korrespondenztheorie oder so etwas hat. Aber wenn man generell konstruktivistisch denkt..., es kann nur so laufen, und was von Wahrheit verlangt werden kann, ist eigentlich je nach dem System verschieden. Also in der Wissenschaft wäre das etwas anderes.
...............
... Ich meine, die Theorie reflektiert den Konstruktivismus sozusagen, dass es eine Konstruktion ist, und sagt aber zugleich, dass das nur funktioniert, wenn man das nicht ständig reflektiert. Dass man also natürlich, wenn man Zeitung liest, annimmt, das, was da steht, stimmt oder allenfalls den Ausschnitt oder etwas anderes etwas mehr beleuchtet haben möchte...
Frage: Finden Sie das nicht schrecklich? Finden Sie diese Art der offensichtlich notwendigen Konstruktion von kommunikativen Systemen nicht schrecklich?
L: Nein. Wenn ich sehe, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, Welt wahrzunehmen, als über Berichte, die immer etwas beleuchten, etwas unbeleuchtet lassen, immer ein“ marked“ und ein „unmarked space“ erzeugen...
5) Persönliches: Warum kein Fernsehgerät?
Frage: ... warum haben Sie keinen Fernseher?
L: Weil in den wenigen Momenten, wo ich Zeit habe, nie irgendwas kommt, was mich interessiert.
Frage: Es gibt also kein prinzipiellen Ausschlussgrund ...
L: Nein, nein.
Frage: .. diesem Medium gegenüber?
L: Nein ... . Was nachteilig ist, ist, dass es alles sequentiell läuft ... während man bei Zeitungen ja sich raussuchen kann: ich lese jetzt nur noch die Börsennachrichten ... oder ich lese Politiknachrichten, aber nicht ... usw. Man kann ... also sich Schwerpunkte wählen und auch den Zeitpunkt bestimmen, in dem man etwas liest. Das ist eine sehr persönliche Teilnahme an Kommunikation entgegen allem, was man von Massenmedien hört. Man wählt sehr persönlich aus, den Zeitpunkt, den Ausschnitt usw., und das ist nicht vorgegeben durch die Drucktechnik. Aber es ändert nichts daran, dass ..., was immer man auswählt, man wieder in die Konstruktion einer Welt hineingesogen wird.
6) Menschenbild, Liberalität:
Frage: Kann Ihre Theorie niemals Aussagen darüber machen, welche Systeme, auch Teilsysteme der Gesellschaft gut für den Menschen sind und welche schlecht?
L: Den Menschen, welchen Menschen? ...
... ich wüsste nicht, wie ich Kriterien finden könnte, die mir sagen, was gut für den Menschen ist und was nicht gut für den Menschen ist. Da bin ich zu individualistisch orientiert. Für einen ist es gut, für den anderen ist es nicht gut,
7) Über Evolution:
Also, das einzige, was mir dazu einfällt, sind sehr allgemeine Aussagen wie etwa, dass etwas an sich Unwahrscheinliches wahrscheinlich gemacht wird.
(Der Interviewer und Luhmann so zu sagen "im Duett"):
Frage:...die Tendenz von Evolution zusammengefasst, ist die, dass ...L:... dass etwas ...Frage: ... dass etwas Unwahrscheinlicheres ...L: ... wahrscheinlich wird.
L: ... situativ, spezifisch wahrscheinlich wird. Es wird auch manchmal gesagt, dass Komplexität ... Aber da muss man natürlich sagen, dass neben den komplexeren Sachen immer auch die alten, die nicht komplexen Sachen überleben. Es gibt Salamander mit Schleuderzungen und solche ohne Schleuderzungen, und ...
Frage: Das heißt, Sie gehen von der Annahme aus, dass Komplexität zunehmen wird.
L: Dass es auch komplexere Arrangements geben wird; nicht, dass sie ein durchschlagender Überlebensvorteil ist, so dass alles andere verschwindet. Das ist ja auch also empirisch, in der biologischen Evolution einfach nicht zu belegen.
Frage: Aber was ist das Evolutionsmoment daran, dass etwas Unwahrscheinliches wahrscheinlicher wird?
L: Das ist ein Resultat von Evolution, und das hängt offensichtlich mit größerer Komplexität und größerer Spezifikation zusammen.
Frage: Wo kommt die Triebkraft dafür her?
L: Das passiert.
Frage: ... aus dem System?
L: Ja, irgendwas hält sich, was zufällig ..., was zufällig entstanden ist, hat eine hohe Reproduktionswahrscheinlichkeit bekommen. Also Evolution ist die Umformung von Entstehungsunwahrscheinlichkeit in Erhaltenswahrscheinlichkeit [Hervorheb. v. mir], wenn man es mal so ausdrücken will.
8) Luhmanns Ressourcenpessimismus:
Frage: Das heißt, Sie halten von Theorien, die davon ausgehen, dass die Ressourcen nicht ausreichen, um diesem Typ von hochentwickelten Gesellschaften weiterhin Bestand zu geben, und ähnlichen mit negativen Untergangsphantasien konnotierten Visionen nichts?
L: Ich würde vorsichtiger sein. Also es gibt Sektoren, Energieproduktion ist einer von denen ... Werden wir immer genügend Energie-, verbrauchende Energieproduktion haben, um die gesamte Wirtschaft damit beliefern zu können? Da bin ich nicht sicher.
Frage: Und was passiert dann, wenn wir das irgendwann nicht mehr haben?
L: Dann gibt es Kollapse noch und noch. Dann kriegt man also plötzlich das Haus nicht mehr geheizt oder den Wagen nicht mehr betankt, und dann müssen sich irgendwie Lösungen einspielen, die auf einem geringeren Grad eine Zufriedenheit und ...
Frage: ... Komplexität ...
L: Ja, ja.
Frage: Das halten Sie für durchaus möglich?
L: Ja, also vor allen Dingen im Energiesektor, nicht so ganz generell. Aber ich weiß nicht, wie man wirklich ..., ob man ..., ob es technologisch absehbar ist, eine laufende Reproduktion von Energie in dem Maße, wie wir es heute brauchen, sicherzustellen - technisch, wenn es mal kein Öl mehr gibt und keine Kohle usw.
Im übrigen enthalten beide Interviewteile noch einige Zitat zu Entwicklungsfragen, die für mich im Zusammenhang mit Luhmanns Aufsatz "Kausalität im Süden" (vgl. mein Blog-Eintrag v. 06.12.05) von Interesse waren. Deren Wiedergabe reserviere ich aber für eine hoffentlich bald mögliche intensivere Beschäftigung mit diesem Aufsatz.
Nachtrag vom 26.12.05:
Zahlreiche Nachrufe auf sowie einige andere Texte über Luhmann findet man, wenn man auf einer Webseite mit der URL http://www.soziale-systeme.de/docs/sosydebfl001.pdf die Nummern der Dokumente "abschreitet", also statt der "001" die "002" usw. eingibt (derzeit geht es, wenn ich nicht irre, bis Nr. 28). Ein Dank an denjenigen, welcher die Texte dort abgespeichert hat!
Nachtrag vom 27.12.05: Vier "Freiburger Reden" (Vorträge über Luhmann) von Baecker, Bolz Fuchs und Sloterdijk sowie eine Einführung in den Begriff der Kommunikation bei L. hat Dr. Franz Josef Witsch-Rothmund unter http://www.uni-koblenz.de/~dkwitsch/page1d.html ins Internet gestellt; darin findet man auch (auf der gleichen Seite mit dem Vortrag von Sloterdijk) den Text von Raffaele De Giorgi "Niklas Luhmann Die Zukunft des Gedächtnisses".
Nachtrag vom 29.12.05:
Ein hilfreiches Glossar zur Luhmannschen Begriffswelt gibt es auf der Webseite der Uni Essen. Ebenfalls sehr hilfreich (teilweise ausführlicher und im übrigen weiter ausgreifend) ist auch ein Streifzug durch die Wikipedia (hier das Stichwort "Luhmann").
Nachtrag vom 01.01.2006: Hier gibt es offenbar 19 Stunden Luhmann-Vorlesung als "torrent"-Datei anzuhören. Für Leute, die sich mit "torrents" auskennen ... . Ich gehöre leider nicht dazu.
07.01.06: Etwas verfremdet finden wir unseren Helden hier wieder (nämlich als "Nicras Roux Man" - :-) ). Da hat das Übersetzungssystem sich selbst überlistet. Dass die Ostsasiaten kein "R" sprechen können und unser "R" zum "L" machen, wissen wir ja (vgl. hier das Stichwort "Schweinelippen"). Aber dass umgekehrt jedes japanische "L" in den westlichen Sprachen ein "R" sein muss, ist ein klarer Fall von "faulty logic".
Nachtrag vom 28.10.2006
Zwei Beispiele für Luhmanns trockene bis bissige Realitätsbeschreibungen [aus "Was ist Kommunikation? N. Luhmann in: Simon, F. B. (Hg.) Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Berlin u. a.: Springer 1988"]:
"... selbst wenn man endlich einen Parkplatz gefunden hat und nach langen Fußmärschen das Café erreicht hat, wo es in Rom den besten Kaffee geben soll und dann die paar Tropfen trinkt ..."
"Was das Bewußtsein sich dabei [bei der Kommunikation über Werte] denkt, ist eine ganz andere Frage. Wenn es versiert ist, wird es wissen, daß Wertkonsens ebenso unvermeidlich wie unschädlich ist. Denn es gibt keinen Selbstvollzug der Werte, und man kann alles, was sie zu fordern scheinen, im Vollzug immer noch entgleisen lassen, im Namen von Werten natürlich."
Zentral für Luhmanns Denken ist wohl der Systembegriff. Deshalb dürfte der folgende Auszug aus der gleichen Textquelle zu diesem Thema für sein Verständnis hilfreich sein:
"... der Ansatz [zum "Verständnis von Kommunikation"] betont die Differenz von psychischen und sozialen Systemen. Die einen operieren auf der Basis von Bewußtsein, die anderen auf der Basis von Kommunikation. Beides sind zirkulär geschlossene Systeme, die jeweils nur den eigenen Modus der autopoietischen Reproduktion verwenden können. Ein soziales System kann nicht denken, ein psychisches System kann nicht kommunizieren. Kausal gesehen gibt es trotzdem immense, hochkomplexe Interdependenzen. Geschlossenheit heißt also keinesfalls, daß keine Wirkungszusammenhänge bestünden oder daß solche Zusammenhänge nicht durch einen Beobachter beobachtet und beschrieben werden könnten. Nur muß die Ausgangslage der autopoietischen Geschlossenheit in diese Beschreibung eingehen. Das heißt: man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß Wirkungen nur durch Mitvollzug auf Seiten des die Wirkungen erleidenden Systems zustande kommen können. Und man muß berücksichtigen, daß die Systeme füreinander intransparent sind, sich also wechselseitig nicht steuern können." [Hervorhebung von mir]
Nachfolgenden Text kann man wohl als Beispiel dafür anführen, dass er auch mit der Methode der Introspektion arbeitet [ob nur zum Zwecke von Erläuterungen oder auch zum Erkenntnisgewinn - darüber bin ich mir noch nicht im Klaren]. Ich zitiere diese Passage hier nicht wegen ihrer Funktion im Luhmannschen Denken überhaupt oder im konkreten Argumentationszusammenhang des Aufsatzes von L., sondern weil ich mein eigenes Erleben, wenn ich beim Schreiben [beim Sprechen hat man keine Zeit, das zu reflektieren, zumindest ich habe beim Sprechakt dafür keine geistigen Datenverarbeitungskapazitäten frei] um das richtige Wort, ein treffendes Bild usw. ringe. Luhmann spricht mir hier also aus der Seele:
"... schon bei einer geringen Aufmerksamkeit auf das, was wir selbst sagen, wird uns bewußt, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; wie sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigene Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt, sie benutzt und verspottet, sie zugleich meint und nicht meint, sie auftauchen und abtauchen läßt, sie im Moment nicht parat hat, sie eigentlich sagen will, und es dann ohne stichhaltigen Grund doch nicht tut. Würden wir uns anstrengen, das eigene Bewußtsein wirklich in seinen Operationen von Gedanken zu Gedanken zu beobachten, würden wir zwar eine eigentümliche Faszination durch Sprache entdecken, aber zugleich auch den nichtkommunikativen, rein internen Gebrauch der Sprachsymbole und eine eigentümlich-hintergründige Tiefe der Bewußtseinsaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen, aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewußtsein zu sein, irgendwie beleuchtet, aber nicht das Licht selbst.
Diese Überlegenheit des Bewußtseins über die Kommunikation (der natürlich in umgekehrter Systemreferenz eine Überlegenheit der Kommunikation über das Bewußtsein entspricht) wird vollends klar, wenn man bedenkt, daß das Bewußtsein nicht nur mit Worten oder vagen Wort- und Satzideen, sondern nebenbei und oft vornehmlich mit Wahrnehmung und mit imaginativem Auf- und Abbau von Bildern beschäftigt ist."
In dem Sammelband verschiedener Autoren, in welchem Luhmanns Beitrag erschienen ist, geht es um Therapie. Auf diesen Aspekt geht er am Schluss mit einigen Bemerkungen ein, von denen ich noch nicht recht weiß, was ich daraus machen soll (oder was man damit anfangen könnte), die mir aber doch wichtig erscheinen und die ich deshalb hier für mich [aber vielleicht findet auch der/die eine oder andere Leserin diese Überlegungen von L. "anschlussfähig" für eigenes fruchtbares Weiterdenken?] festhalte:
"Die Kommunikation läßt sich, anders gesagt, durch Bewußtsein stören und sieht dies sogar vor; aber immer nur in Formen, die in der weiteren Kommunikation anschlußfähig sind, also kommunikativ behandelt werden können. Auf diese Weise kommt es nie zu einer Vermischung der Autopoiesis der Systeme und doch zu einem hohen Maß an Co-Evolution und eingespielter Reagibilität.
Ich bin mir im klaren darüber, daß diese Analyse noch keineswegs ausreicht, um zu beschreiben, was wir als pathologischen Systemzustand erfahren. Das wechselseitige Rauschen, Stören, Perturbieren ist, von dieser Theorie her gesehen, ja gerade der Normalfall, für den eine normale Auffang- und Absorptionskapazität bereitsteht, sowohl psychisch als auch sozial. Vermutlich entsteht der Eindruck des Pathologischen erst, wenn gewisse Toleranzschwellen überschritten sind, oder vielleicht könnte man auch sagen: wenn die Gedächtnisse der Systeme hierdurch in Anspruch genommen werden und Störungserfahrungen speichern, aggregieren, wiederpräsentieren, über Abweichungsverstärkung und Hyperkorrektion verstärken und mehr und mehr Kapazität dafür in Anspruch nehmen. Wie dem auch sei: Von der theoretischen Position aus, die ich versucht habe zu skizzieren, müßte man psychische und soziale Pathologien deutlich unterscheiden und vor allem vorsichtig sein, wenn man die eine als Indikator oder gar als Ursache für die andere ansehen will." [Hervorhebung von mir]
Nachtrag 29.07.09
Ein gewisser Alexander Filipovic hat in seinem Blog "Geloggd" -4- Luhmann-Videos von YouTube eingestellt. Habe sie selbst aus Zeitmangel nicht angeschaut; verlinke sie jedoch hier zu Nutz und Frommen meiner Leser/innen.
In der Internetzeitschrift "FiFo Ost" steht ein längeres Interview mit Niklas Luhmann online, dass Andreas Otteneder und Hermann Schubert im Sommer 1994 geführt haben. Auch das kann ich selbst momentan nicht lesen, obwohl es (wie vermutlich alle Luhmann-Interviews) sehr interessant zu sein scheint.
Textstand vom 29.07.2019
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