Kommunikation muss anschlussfähig sein, lernen wir von Niklas Luhmann. Politiker, wie z. B. Rupert Scholz, müssen das nicht erst bei Luhmann nachlesen: wer von denen diese Erkenntnis nicht schon mit der Muttermilch eingesogen haben, hat in dem Metier keine Chance.
Rupert Scholz, einstmals (zwar für nicht allzu lange Zeit) Bundesverteidigungsminister, schloss an Jacques Chirac an, und so konnte man in der Bild-Zeitung vom 26.01.06 lesen: "Verteidigungsminister a. D. Rupert Scholz bricht ein Tabu. Braucht Deutschland eigene Atombomben?"
Von EINAR KOCH
Jacques Chirac hatte zuvor u. a. gesagt: "Die Führer von Staaten, die gegen uns auf terroristische Mittel zurückgreifen, sowie alle, die in der einen oder anderen Weise den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägen, müssen verstehen, dass sie sich einer festen und angepassten Antwort unserer Seite aussetzen würden. Diese Antwort kann konventionell sein; sie kann auch anderer Natur sein." [Hervorhebung von mir]
Die Bild-Zeitung berichtete über die Vorstellungen von Scholz u. a. Folgendes [Hervorhebungen - und Anpassung der Schreibweise an die neue Rechtschreibung - von mir]:
Der renommierte Staatsrechtler und Grundgesetz-Kommentator stößt eine Debatte an, die bisher als tabu galt: Braucht Deutschland eigene Atomwaffen? Scholz ... ist sich der Brisanz bewusst: „Ich bin mir völlig darüber im klaren, dass ich mit dieser Frage ein Tabu anspreche. Aber im Lichte der Gefahr, dass nukleare Massenvernichtungswaffen auch in die Hände von Terroristen geraten können, müssen wir diese Frage ernsthaft diskutieren. [Scholz] erinnert daran, dass die Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg auf Atomwaffen verzichtet habe, „weil wir uns unter den nuklearen Schutzschirm der Amerikaner und der Nato begeben konnten“.
Scholz: „Die Frage ist aber, ob diese Schutzgarantie aus der Zeit des Kalten Krieges auch heute gegenüber den neuen Gefahren des internationalen Terrorismus noch hinlänglich greift? Die nukleare Schutzgarantie des Westens für Deutschland muss der veränderten Weltlage angepasst werden. Das heißt konkret: Wir brauchen von unseren Partnern und der Nato bindende Zusagen, dass sie Deutschland auch vor einer nuklearen terroristischen Bedrohung oder Erpressung mit dem Einsatz von Atomwaffen schützen.“
„Wenn“, so Scholz weiter, „solche Zusagen nicht erreichbar sein sollten – dazu müsste gegebenenfalls auch die Nato-Doktrin in entsprechend klarstellendem Sinne geändert werden –, müssen wir die Frage ernsthaft diskutieren, wie wir auf eine nukleare Bedrohung durch einen Terror-Staat angemessen, im Notfall also sogar mit eigenen Atomwaffen, reagieren können.“
Scholz warnt: „Der Iran könnte schon bald die Fähigkeit haben, mit nuklear bestückten Mittelstreckenraketen Berlin, Dresden, München, Köln, Hamburg zu erreichen. Wer hilft uns dann? ... Ohne entsprechende Schutzgarantien unserer Partner muss in Deutschland die Frage einer eigenen atomaren Abschreckung ohne Scheuklappen neu debattiert werden. Es wäre politisch unverantwortlich, dies nicht zu tun.“
Die Meinungsmacher schließen auf ihre Art an: politisch korrekt (das böse und gefährliche Atom wollen wir natürlich nicht), aber auch relativ gelassen: "Die Erregung über Rupert Scholz hält sich in überraschend engen Grenzen" schreibt Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau online vom 28.01.06. Mehr oder weniger scharf ablehnend reagieren die aktiven Politiker.
Hier eine mehr oder weniger zufällige Linkfunde mit Berichten bzw. Kommentaren:
Stern 26.01.06 (Florian Güßgen): "Ex-Verteidigungsminister Scholz. CDU-Politiker liebäugelt mit Atombomben für Merkel"
ZEIT online, 26.1.2006: Deutsche Atomwaffen?
Der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) fordert einen nuklearen Schutz gegen Terrorstaaten. Das ist mehr als nur eine Verrücktheit, kommentiert Gero von Randow
Financial Times Deutschland (ftd) vom 26.01.06: "Scholz stößt Debatte über Atomwaffen für Bundeswehr an"
Spiegel online vom 26.01.06: "DEUTSCHE ATOMWAFFEN. Union distanziert sich von Scholz-Vorstoß"
Frankfurter Rundschau vom 28.01.06: "KOMMENTAR: ATOMWAFFEN. Abschreckende Ideen." VON KARL GROBE
Unsereiner muss, als Meinungs-Blogger, natürlich auch wieder anschließen. Ich schließe also an den vermutlich langgehegten Atomtraum von Scholz meinen - auch schon etwas länger bestehenden - Ressourcenpessimismus an.
Zuvor jedoch direkt zum Inhalt der Überlegungen von Rupert Scholz. Dessen Ausführungen sind ja ganz offenkundig schon in sich widersprüchlich.
Gegen wen will Scholz eine deutsche Atombombe einsetzen, oder wem den Einsatz androhen? Gegen Terroristen, oder gegen den Iran (und vielleicht Nordkorea usw.)?
Terroristenbekämpfung kommt immer gut an; da setzt das kühle Denken, wie wir in anderen Weltgegenden gesehen haben, schon mal aus.
[Man könnte allerdings auch genau das Gegenteil behaupten, dass nämlich kühles Denken dort nicht aus-, sondern gerade erst einsetzt: alles eine Frage der Perspektive. Und natürlich der jeweils denkenden Gruppe: im Volk setzt die Ratio (d. h. jene Stufe, welche für eine Massen-Meinung erreichbar wäre) aus. Eine Führung dagegen, in der jede Menge Ölleute rumölen, mag ihre etwas eigenwillige Art von "Terrorismusbekämpfung", oder ihre Abstecher von der Terrorismusbekämpfung in eine Was-auch-immer-Bekämpfung durchaus rational kalkuliert haben. Wobei sie sich natürlich auch verrechnet haben könnte.]
Jedenfalls, wie man Terroristen, die vielleicht mit einer "schmutzigen" Bombe drohen, in ihren Nestern mit handlichen kleinen Atombömbchen ausräuchern könnte, weiß Rupert Scholz sicherlich selbst nicht. Oder er weiß ganz genau: man kann es nicht. Wenn die Terroristen erst im Land sind, sowieso nicht. Und wenn sie sich noch in den afghanischen Bergen, oder der irakischen Wüste, aufhalten, gibt es genau –2- Möglichkeiten:
Entweder wir wissen, wo sie sind, oder wir wissen es nicht.
Kennen wir den Aufenthaltsort der Terroristen (oder das Versteck der schmutzigen Atombombe), können wir diese Ziele – entsprechende Transportmittel für unsere Truppen und die richtige Bewaffnung vorausgesetzt, aber derzeit haben wir wohl nicht einmal die! – im Prinzip mit konventionellen Waffen zerstören.
Wissen wir nicht, wer uns oder von wo genau man uns bedroht, hilft auch der Besitz von Atombomben nicht.
Aber da bleibt ja noch der Iran: der könnte uns ja mal bedrohen oder gar erpressen. Dann werfen wir einfach ein paar A-Bomben druff, und Ruhe iss!
Nun könnte der Iran (dessen Atomaspirationen unbedingt zu verhindern ich übrigens für richtig und legitim halte), hätte er sich erst mal Atomwaffen gebastelt, natürlich nicht nur uns bedrohen. Und überhaupt: warum sollte er den ausgerechnet und exklusiv Deutschland bedrohen? Wir haben kein Öl, Geld kann man z. B. auch bei den Gnomen von Zürich holen, die gehören nicht einmal der Nato an. Und dass die Mullahs uns etwa mit vorgehaltener Atomrakete zwingen würden, den Islam als Staatsreligion zu etablieren, erscheint mir noch unwahrscheinlicher als dass die USA uns in einem brüderlichen transatlantischen Dialog dazu bringen würde, die Scientology-Sekte als kirchliche Organisation zu akzeptieren.
Zusammengefasst: Die Vorschläge von Scholz sind offenkundig Unsinn. Zumindest muss man sagen, dass seine Begründungen unsinnig sind.
Aber auch die Idee selbst, Deutschland möge oder könnte Atomwaffen bauen, ist unrealistisch. Zum einen bringen wir das Geld nicht auf (oder müssten unsere konventionelle Bewaffnung noch mehr herunterkommen lassen, als sie ohnehin schon ist). Zum anderen fehlt es, ganz banal, bereits an einem Testgelände, und dass uns irgendein Land ein solches zur Verfügung stellen würde, ist derzeit zumindest nicht erkennbar. (Und dass man so ein Ding bauen, und vor allem sich auf dessen Funktion verlassen, kann, ohne das mal praktisch erprobt zu haben, nur so mit Computerberechnungen, glaube ich auch nicht).
Trotz allem bleibt aber die Frage bestehen, ob wir unsere Verteidigungsanstrengungen nicht doch neu bewerten, und vielleicht intensivieren, müssten. Dazu müssen wir uns freilich zunächst darüber im klaren sein, unter welchem politischen und/oder historischen "Paradigma" wir gegenwärtig überhaupt leben.
Im Terroristenparadigma wohl kaum. Von Zeit zu Zeit, von Anschlag zu Anschlag, drängt sich die Thematik zwar immer mal wieder in den Vordergrund. Aber einen dominierenden Einfluss auf unser tägliches Leben hat sie nicht – nicht einmal in den USA.
In gewisser Hinsicht ist jedenfalls der internationale Terrorismus ein Wohlstandskind. Wenn die Leute (d. h. diejenigen Leute, die ihn ideell, materiell und personell fördern) verstärkt mit existentiellen Sorgen konfrontiert sind (bzw. sein werden), wird zumindest diese Form von Terrorismus verschwinden (oder teilweise mit der "normalen" Kriminalität verschmelzen).
Was in nicht allzu ferner Zeit die Vorderbühne besetzen wird, ist die Umweltfrage. Zum einen wahrscheinlich in Gestalt des Klimawandels, zum anderen. und mit Sicherheit, aber als Ressourcenverknappung. Sobald diese erst einmal objektiv und im subjektiven Bewusstsein der Menschen die Szene beherrscht, wird diejenige Situation eintreten, die ich im Titel als "Ende der Gemütlichkeit" bezeichnet habe. Wenn wir die Zeitungen durchblättern, können wir Nachrichten über alle möglichen Konflikte auf der Welt lesen. Je nach Mentalität schlagen wir dann (im Geiste) vielleicht die Hände über dem Kopf zusammen und rufen: "Wie schrecklich ist doch diese Welt".
Betrachten wir allerdings die Lage aus historischer Sicht, und zwar nicht nur aus derjenigen der "Haupt- und Staatsaktionen", sondern aus dem Blickwinkel der Alltagsgeschichte, der Lebensbedingungen der breiten Massen, müssten wir sagen "Wie gut ist doch die [zumindest: unsere] Welt". Richtig "gemütlich", eben. Unsere Perspektiven, unsere Maßstäbe haben sich verschoben. Das ist normal, und ebenso ist es normal, dass wir im Alltagsleben diese relativen Maßstäbe zu Grunde legen.
Aber rückblickend werden die Menschen die Zeit von 1945 - ? wohl einmal als die wirkliche "Belle Epoque" der Menschheit erinnern. (Die andere "Belle Epoque" um 1900 war zwar – relativ – friedlich, aber keineswegs für alle Schichten schön. Auch heute ist es natürlich nicht schön, arbeitslos zu sein. Trotzdem glaube ich nicht, dass allzu viele Arbeitslose in den Entwickelten Ländern mit einem Arbeiter der Zeit um 1900 tauschen würden, wenn sie mit dessen Leben für einige Zeit probehalber tauschen könnten.)
Wenn die Rohstoffe knapp werden, geht es wieder zu wie in alten Zeiten: "dog eat dog" oder "survival of the fittest" heißt es dann wieder, und in einem sehr viel elementareren Sinne als gegenwärtig. Dann wird es weltweit erst wirklich ungemütlich.
Wer als Politiker den Anspruch erhebt, als Handelnder oder mit seinen Debattenbeiträgen historische Weichenstellungen einzuleiten, muss derartige Entwicklungslinien im Auge haben. Ob Scholz in diese Richtung denkt? Ich denke: nein. Das sind bei ihm vermutlich eher altkonservative Großmachtreflexe, aus traditionalem statt funktionalem Denken generiert.
Deutschland ist, das sollten auch (oder auch: gerade!) Patrioten einsehen, heute kein "Global Player" mehr und kann es auch in Zukunft nie wieder werden. Frankreich und Großbritannien geben sich vielleicht noch der Illusion hin, dass sie so etwas wie Großmächte sind, und das ist leider ein Hemmnis für das Zusammenwachsen Europas. Nur Europa insgesamt könnte ein hinreichendes Gewicht – politisch, wirtschaftlich, und, nicht zuletzt, auch militärisch – in die Waage werfen, wenn einer der anderen (jetzt oder in nicht allzu ferner Zeit:) großen Spieler - also die USA, China, Indien, Russland (?) – etwa auf die Idee kommen sollte, seinerseits ein Schwert in die Waagschale zu werfen und "Wehe den Kleinen!" zu rufen.
Atomwaffen für uns? Ich bin dafür! (Daneben aber auch das konventionelle Wehrpotential – "Krisenreaktionskräfte" usw. – stärken!).
Will ich also Atombomben für Deutschland?
Nein, und diese Ablehnung erwächst bei mir nicht einmal aus dem obligaten Gedenken an deutsche historische Untaten. Es ist einfach sinnlos; es ist sogar, wie einige Kommentatoren gegen Scholz richtig aufgezeigt haben, gefährlich für uns.
Ist meine Position damit paradox?
Nein!
"Uns", "wir": das kann sinnvoller Weise nur Europa sein. Eine einheitliche Außenpolitik, eine weitgehend einheitliche Innenpolitik gehört unvermeidlich auch dazu, also ein Staat Europa: das müsste die Zielsetzung einer wirklich vorausschauenden Politik sein. Natürlich ein Staat mit einer angemessenen "Europawehr".
Mehr noch als uns sollte dies eigentlich den kleineren Staaten am Herzen liegen, die ja noch eher riskieren, zwischen den ganz Starken und den "Halbstarken" zerdrückt zu werden, und besser wäre es, der Antrieb käme mehr von dort als von uns (weil der sonst von den anderen als Machtanspruch wahrgenommen und missverstanden würde).
Forderungen nach einer atomaren Bewaffnung Deutschlands sind in dieser Konstellation kontraproduktiv. Richtig ist es allerdings, die Welt nicht für grundsätzlich so "gemütlich" zu halten, wie sie es derzeit (für uns, und trotz Globalisierung) aus historischem Blickwinkel betrachtet ist. Richtig und wichtig ist es, mit Nachdruck auf die derzeit erkennbare Risiken hinzuweisen und dafür Vorsorge zu tragen, auch auf militärischem Gebiet. Doch muss eine solche Debatte interessenpolitisch und realistisch, nicht traditionalistisch und quasi fahnenschwingend, geführt werden.
Und, wenn möglich, sollte der Anstoß dazu von den "Kleinen" kommen, die ja noch eher bedroht sind als wir.
Oder anders: wenn derartige Stimmen, oder Einsichten, in anderen europäischen Ländern laut werden, können und sollten wir daran anschließen.
Und bis dahin sollten wir alles tun, um uns als gute Europäer, und nicht als atombombensüchtige Germanen, zu positionieren.
Nachtrag vom 24.02.06:
Anscheinend habe ich die Schwierigkeiten eines Atombombenbenbaus unterschätzt. 90 - 120 Tage würde es nur dauern, bis Deutschland aus dem Stand heraus eine Bombe zu Stande gebracht hätte. Sagte jedenfalls Martin van Creveld, israelischer Militärhistoriker und Militärtheoretiker, in einem Interview u. d. T. "Bei Kernwaffen lügen sie alle".
Auch das Peter Scholl-Latour schon längst den Bau einer deutschen Atombombe gefordert hatte, habe ich dort erfahren. Frage nur, was Scholl-Latour damit anfangen will?
Gefunden habe ich das Interview an der verlinkten Stelle; ursprünglich ist es allerdings in der Zeitschrift "Junge Freiheit" erschienen. Die ist natürlich nicht stubenrein, und deshalb seien polit-sittlich ungefestigte Leser hiermit vor deren Betreten herzlich gewarnt.
Ich selbst war von van Crevelds cooler Analyse fasziniert, habe mehr über ihn recherchiert und irrte dadurch vom rechten Weg des Kriegskampfes in dem Sumpf des Geschlechterkrieges ab.
Davon aber, auf welche Weise ich von der Atombombe zur Frauenemanzipation kam, möchte ich euch aber an anderer Stelle erzählen.
Textstand vom 16.06.2023
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