Sonntag, 12. September 2010

Tief enttäuscht vom Noch-Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin: "Hier schaffe ich - ich kann aber auch anders"

Sein aktuelles Buch "Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" (das 22,99 € kostet und von dem übrigens heute in der Bahnhofsbuchhandlung in Hanau ein ganzer Stapel auslag) werde ich nicht kaufen, weil ich es schon aus Zeitmangel nicht lesen kann.
Trotzdem war ich von der Meldung über seinen Rücktritt als Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank (zum 30.09.2010) derart geschockt, dass ich gestern und heute ein Heidengeld ausgegeben habe, um mir mehr Informationen darüber zu beschaffen.
Normalerweise hole ich mir derartige Infos gratis aus dem Netz, aber diese Sache hat mich netzlos erwischt, nämlich bei dem ersten Teil unseres Umzugs (ein gewissermaßen internationales Projekt: Möbelspedition mit türkischem Inhaber, marokkanischer und deutscher Mitarbeiter) ins Altersdomizil an den Alpenrand, und in unserer zukünftigen Wohnung habe ich keinen Internet-Anschluss.
Also für insgesamt 16 Euronen verschiedene Ausgaben von Spiegel, FAZ und Welt erstanden und auf der Heimreise die einschlägigen Berichte durchgelesen.

Für mich liegt die Bedeutung von Thilo Sarrazin vor allen Dingen darin, dass er die Vertretung deutscher Interessen in der Einwanderungspolitik legitimiert.
Ich sehe darin einen Beitrag zu einer Neuen Härte, wie wir sie m. E. benötigen, um in einer Welt der Ressourcenerschöpfung zu überleben. Denn aus meiner Sicht wäre eine Debatte um Peak Oil noch weitaus wichtiger als die Diskussion über die Einwanderung, bzw. müsste die Einwanderungsdebatte in die Erörterung der Ressourcenverknappung eingebettet werden. (Die Sarrazin-Debatte hat eine eigentlich weitaus sensationellere Meldung über eine Bundeswehr-Studie zum Ölfördermaximum weitestgehend überwuchert.)

Als Eisbrecher gegen die Eierkuchen-Politik, deren hypertrophierte 'menschistische' Ethik (= Gutmenschen-Ethik) in ihrer faktischen Ausprägung letztlich nur die schöne Blüte einer ökonomischen Schönwetterperiode ist: so sehe ich Sarrazins Funktion im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs.
Jetzt hat er klein beigegeben, plötzlich und unerwartet. Menschlich kann man es verstehen, angesichts des enormen Drucks der Politik und von Teilen der Medien auf ihn. Trotzdem ist es merkwürdig. In seiner Ausgabe Nr. 36 vom 06.09.10 (Titelblatt mit Porträt von Sarrazin und Überschrift "Volksheld Sarrazin. Warum so viele Deutsche einem Provokateur verfallen") war sich der SPIEGEL in seinem (wohl nur in der Druckausgabe veröffentlichten) Artikel "Es gibt viele Sarrazins" genau wie ich absolut sicher: "Mit einem Prozess ist zu rechnen. Sarrazin ist kein Mann, der klein beigibt".
Dem gegenüber hatte Thomas Vitzthum bereits am 03.09.2010 in der WELT in seinem Kommentar "Wulffs erste Entscheidung ist die schwerste" das genaue Gegenteil prognostiziert: "Doch zum Prozess wird es wohl nicht kommen. Es wird bereits über einen „goldenen Handschlag“ für Sarrazin geredet: Er könnte seine Pensionsansprüche behalten."
Ich hatte damals einen zornigen Leserkommentar geschrieben (Canabbaia, 3.9.,20.21 h; Grammatikfehler hier korrigiert): "Da sind Sie aber wohl der Einzige Mensch in ganz Deutschland, der glaubt, dass Thilo Sarrazin sein Erstgeburtsrecht der Meinungsfreiheit um das Linsengericht der Pensionsansprüche verhökern wird! Nein, das glauben Sie in Wirklichkeit natürlich keineswegs. Sie versuchen nur, Thilo Sarrazin der Öffentlichkeit madig zu machen. Ich bin sicher: er wird uns nicht enttäuschen. Er wird kämpfen!"
Hat er die Meinungsfreiheit verscherbelt? Ist er also doch käuflich? Zu einer solchen Behauptung möchte ich mich nicht versteigen; man kann ja seine angegebenen Motive verstehen. Wenn es denn wirklich der Druck war, der auf ihm lastete: Sie oder ich hätten wohl noch viel weniger standgehalten.
Trotzdem ist der Vorgang merkwürdig und hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Denn an eben diesem 3.9.10 erschien ein Interview mit Sarrazin im Berliner Tagesspiegel "Sarrazin dachte an Rücktritt". Darin sagt Sarrazin auf die Frage "Haben Sie selbst an Rücktritt gedacht?" (meine Hervorhebung):
" Ich habe von Dienstag bis Donnerstagmorgen geschwankt. Der gewaltige Zuspruch war für mich aber Zeichen genug, dass ich nicht nur an meine Bequemlichkeit denken durfte."
Man musste also glauben, dass er seinen Posten nicht freiwillig räumen würde. Dies um so mehr, als er unmittelbar darauf einen Vorstoß unternahm, der mir in seiner Originalität und Kühnheit den Atem stocken ließ. In einer am 4.9.10 veröffentlichten Mitteilung "Sarrazin setzt Wulff unter Druck" über ein (wohl nur in der Druckausgabe erschienenes) Focus-Interview war zu lesen, dass er den Präsidenten Christian Wulff sozusagen zum Duell herausgefordert hatte (meine Hervorhebung):
Der Bundespräsident wird sich genau überlegen, ob er eine Art politischen Schauprozess vollenden will, der anschließend von den Gerichten kassiert wird“, sagte Thilo Sarrazin im FOCUS-Interview. Er gehe davon aus, dass sich Wulff nicht ohne Anhörung einem Schnellverfahren anschließe, zumal er die Stärkung der Demokratie und des offenen Diskurses als sein Zentralthema gewählt habe. „Im Übrigen ist die Meinung der Verfassungsrechtler in der Frage meiner möglichen Abberufung eher auf meiner Seite“, merkte Sarrazin an."

Es war gewissermaßen ein Hus-Auftritt unseres Immigrations-Ketzers, dessen plötzlicher Sinneswandel ungefähr so rätselhaft bleibt wie das "Wunder an der Marne" (zumindest im Sinne des populären Verständnisses, wonach ein überraschender deutscher Rückzugsbefehl eine eigentlich schon gewonnene Schlacht für die Entente-Mächte gerettet habe).

So, wie sich die (später so benannten) Hussiten gefühlt haben würden, wenn Jan Hus in Konstanz klein beigegeben hätte: so fühle ich mich jetzt von Dr. Sarrazin im Stich gelassen. Oder wie ein Wahlhelfer, der nach der Wahl erleben muss, wie sein "Held" die vorher verkündeten Grundsätze aufgibt. (Schließlich hatte ich in meinem Blott "Wenn des Pawlows Hunde lüllen. Zur Lexikographie des deutschen Politiker-Wortschatzes in der Debatte um Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab" dezidiert pro Sarrazin argumentiert, allerdings mit Schwerpunkt auf dem Thema Meinungsfreiheit und dem Konflikt zwischen Politikerklasse und deutschem Volk.)

Menschlich verständlich ist sein Rückzug; politisch finde ich ihn bedauerlich. Nun kann die politische Klasse erleichtert aufatmen und (mit Ausnahme der SPD, der es Sarrazin vielleicht doch nicht so einfach machen wird, ihn rauszuwerfen) wieder zur Tagesordnung übergehen. Schade.

Aber vielleicht erwächst ja dem, was unsere Partitokraten offenbar als Volkshydra perzipieren, in dem FDP-MdB Frank Schäffler soeben ein neues Haupt?.


Inzwischen hat Dr. Thilo Sarrazin der Bild-Zeitung ein Interview gegeben, das diese in -2- Teilen veröffentlicht hat:
"Wie geht’s jetzt weiter, Herr Sarrazin?" am 13.09.2010 und
"Thilo Sarrazin spricht über seinen Rückzug" am 14.09.2010. Im nachfolgenden Textauszug aus dem 2. Teil nennt Sarrazin ein anderes Motiv als das ursprünglich angegebene ('Druck der Politik') für seine freiwillige Amtsniederlegung:
"BILD: Warum haben Sie dem Bundespräsidenten eigentlich die Entscheidung über Ihre Zukunft als Bundesbanker erspart?
Sarrazin: Wenn ich sage: Die überwiegende Rechtsmeinung hätte meine Abberufung als rechtswidrig eingestuft, dann ist das eher eine Untertreibung. Bei mir stand das Telefon nicht still vor lauter Verfassungsrechtlern.
BILD: Warum dann der Abgang?
Sarrazin: Wäre ich stur geblieben, hätte das den Bundespräsidenten – weil er sich so weit vorgewagt hatte – und das Staatsamt beschädigt. Das wollte ich nicht, ich bin Staatsbürger und war jahrzehntelang Staatsdiener. Ich wollte niemanden in eine ausweglose Situation treiben. Sondern ich habe mich schlicht meiner Haut gewehrt und wollte meine Ehre retten. Das habe ich durchgesetzt.
"
Glauben kann man Sarrazin eine solche quasi preußische Staatsdienergesinnung schon; auch können beide Motive zusammengewirkt haben. Gleichwohl bleibt sein Begründungswechsel irritierend und erweckt den Eindruck einer Art strategischer Positionierung.




Weitere Einträge zur aktuellen Sarrazin-Debatte:
Mein erster Beitrag, etwas unsystematisch, aber dafür äußerst umfangreich ;-) : "Wenn des Pawlows Hunde lüllen. Zur Lexikographie des deutschen Politiker-Wortschatzes in der Debatte um Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab".
Der zweite, nach dem Antrag der Bundesbank auf Abberufung Sarrazins, aber vor seinem freiwilligen Rückzug verfasst:
"DEUTSCHLAND HAT FERTIG! ..."
Momentan (15.09.10) noch in statu nascendi ist der Blott "Beseitigung von Widerständen gegen Türkei-Beitritt der EU als wahres Motiv der Politiker-Kampagne gegen Bundesbank-Vorstand Dr. Thilo Sarrazin?".


Nachtrag 19.09.2010
Eine zusammenfassende Darstellung der Vorgänge um den von Mitarbeitern des Bundespräsidenten Christian Wulff vermittelten Rückzuges von Thilo Sarrazin aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank liefert der FAZ-Artikel "Wulff und der Fall Sarrazin. Der Schiedsrichter ist Partei gewesen" vom 19.09.2010 von Oliver Hoischen, Eckart Lohse, Stefan Ruhkamp und Volker Zastrow.




Textstand vom 11.06.2011. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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