Donnerstag, 17. März 2011

Anti-Atom-Stampede: Noch ist nicht bei allen Deutschen die Gehirnkühlung lädiert

 Den intelligentesten Kommentar zum Nutzen-Risiko-Verhältnis von Kernenergie, den ich gelesen habe, hat der Leser Dietmar Fleischhauer (dfleischhauer) auf FAZ.Net abgegeben.

Sein Anknüpfungspunkt war ein schon für sich sehr interessanter Artikel des Bielefelder Historikers Joachim Radkau. [Aus der auf seiner Homepages veröffentlichten Vita entnehmen wir: "Seit 1974 - zunächst noch fasziniert und unbeeinflußt von dem beginnenden Atomkonflikt - Forschungen zur Geschichte der Kerntechnik, aus denen die Habilitationsschrift „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“ (1981, 1983 als Buch veröffentlicht) entstand. Seit 1980 Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld." ]
Unter der Überschrift "Japans Umweltaktivisten. Beim nächsten Beben wird alles anders" versucht er dort, die Gründe für die Unterschiede zwischen dem japanischen, deutschen und amerikanischen Umweltbewusstsein und entsprechend den Zielsetzungen der jeweiligen Umweltbewegungen herauszufinden. In der Tat ist es ja ziemlich rätselhaft, "warum es keine breite japanische Anti-Atomkraft-Bewegung gibt,  Japan war das erste und bislang einzige Opfer der Atomwaffen; seine engen Ebenen sind viel dichter besiedelt als die Bundesrepublik und schon gar die Vereinigten Staaten, und dass Japan eines der erdbebenreichsten Länder der Welt ist, weiß man nicht erst seit letztem Freitag."
Ich bin mir nicht sicher, ob ihm das gelungen ist, aber sehr anregend ist die Lektüre allemal, weil er auf jeden Fall eine Fülle an Informationen bietet*.


Der Leser Dietmar Fleischhauer knüpft in seinem Kommentar (15.03., 16.20 h) an einen Vergleich Radkaus zwischen den Reaktionen in Haiti einerseits und andererseits in Japan auf die jeweiligen dortigen Erdbeben an:



Zitat aus Radkaus Aufsatz:
"Und in der Tat, ein größerer Kontrast wie der zwischen der Hilflosigkeit auf Haiti und der japanischen Tatkraft im Anblick der Katastrophe ist kaum vorstellbar. Nur gibt es auf Haiti keine Kernkraftwerke."
Dazu Fleischhauer:
"Wie wahr, der Vergleich mit Haiti drängt sich geradezu auf! Nur möchte der Autor offenbar daraus folgern, die Haitianer hätten mit ihrer Kernkraftlosigkeit Glück im Unglück gehabt. Ich behaupte, das Gegenteil ist der Fall. Nur durch den enormen Technisierungsgrad mit entsprechend hohem Energiebedarf (der sich in Japan nie und nimmer aus alternativen Energien decken ließe) sind die Japaner bei aller Tragik in der Lage, um Größenordnungen weniger Opfer zu beklagen als das rückständige Haiti. Und das wohlgemerkt bei einem Beben, das fast tausend mal stärker war als das haitianische.
Darf man in der herrschenden Stimmung noch darauf hinweisen, daß die Zahl der Kernkraft-Unfallopfer nach dem jetzigen Stand bei 0 liegt? Und auch wenn solch eine Aufrechnung zynisch wirken mag: diese Zahl wird auch niemals nur annähernd so hoch liegen wie die Kernenergie bedingende Hochtechnologie Japans bereits Opfer verhindert hat
."



* In einem interessanten Detail (das auch mir bei der Betrachtung aktueller Videoaufnahmen aus Japan auffiel) wird er dabei allerdings von der Leserin  Henriette Kaschulke (Wissibesser) korrigiert:
"Wer dagegen durch japanische Städte geht, wundert sich über den Mundschutz bei vielen Passanten. Dort dominieren noch Ängste der früheren Zeit: vor Bazillen und vor giftigem Staub" schreibt Radkau.
Dem entgegnet Frau Kaschulke, dass die "Japaner den Mundschutz nicht [tragen], um sich vor Erregern anderer zu schützen, sondern gemeinhin nur, wenn sie selbst krank sind und ihre Mitmenschen vor einer Ansteckung bewahren wollen. Wir halten uns beim Husten die Hand vor dem Mund, genau aus diesem Grund."


Nachtrag 19.03.11
Zum Thema vgl. jetzt auch den FTD-Artikel "Alternativen zur Kernkraft. Das Märchen vom sauberen Strom" von Michael Gassmann vom 18.03.11:
"Ein atomfreier Energiemix ist möglich, aber er wird teurer und umweltschädlicher, als uns lieb ist. Das ist der Preis, der für den Ausstieg aus der Gefahrentechnologie Atom zu zahlen ist. Alles andere ist Augenwischerei."

Außerdem, bereits vom 14.03.11, im Manager Magazin "Nach der japanischen Katastrophe. Können wir uns den Atomausstieg leisten?" Von Henrik Müller:
"Die wieder anschwellende Ausstiegsdebatte wirft unangenehme Fragen auf. Wer sie ernsthaft führen will, muss sich mit den schwierigen Alternativen ernsthaft auseinandersetzen.

Bislang wurde die deutsche Stromdebatte in dem Glauben geführt, es gebe große Überkapazitäten bei der Stromerzeugung und jede Menge Geld zu verbauen. Nur aus dieser Grundhaltung heraus konnte es passieren, dass die Solarstromerzeugung mit vielen Milliarden Euro gefördert wurde, dass sie trotz dieses gigantischen Mitteleinsatzes aber nicht mal 1 Prozent zur gesamten deutschen Stromerzeugung beiträgt. Eine extrem ineffiziente Verwendung knapper Mittel. Derartige Verschwendung werden wir uns nicht mehr leisten können. Ein rascher Ausstieg aus der Kernenergie wird Kapazitätsengpässe verursachen, die sich nur mit hohen Ersatzinvestitionen schließen lassen. Gelder, die nicht mehr vorhanden sind: weder bei den Stromkonzern noch bei den gestressten Staatshaushalten. Um nicht missverstanden zu werden: Man kann trotzdem aus der Atomwirtschaft aussteigen. Aber eine Debatte, die vor allem mit großen Emotionen - "Atom=böse", "Sonne=gut" - geführt wird, wird dieses Ziel nicht erreichen."

Und heute titelt bei Spiegel Online die Französin Cécile Calla, jahrelang Korrespondentin von "Le Monde" in Berlin: "German Atom-Angst. Die spinnen, die Deutschen!"


Die Bedeutung von (kostengünstiger) Energie hat besonders eindringlich der amerikanische "Atom-Admiral" Hyman Rickover in einer Rede aus dem Jahre 1959 geschildert. Meine Übersetzung hatte ich am 27.07.2008 u. d. T. "Salut für den Atom-Admiral! Hyman Rickovers visionäre Energie-Rede von 1957 hier auf Deutsch" in diesem Blog veröffentlicht.



Nachtrag 02.05.11
Regelmäßige Leserinnen und Leser meines Blogs (so es denn solche im Plural geben sollte) sind ihm bereits mehrfach begegnet: dem britischen Journalisten George Monbiot (hier seine Homepage). Der ist, gegenläufig gegen die Anti-Atom-Meinungs-Stampede, aufgrund der Ereignisse um die japanischen Kernreaktoren in Fukushima zu der Einsicht gekommen, dass wir nicht auf Kernkraftwerke verzichten sollten. Die österreichische Zeitung "Der Standard" hat am 22.04.11 auf ihrer Webseite seinen entsprechenden Artikel u. d. T. "Wie mich Fukushima lehrte, die Atomkraft zu lieben" übersetzt. Wie wir auf seiner Webseite sehen können, lautet der Titel seines (bereits am 21.03.11 veröffentlichten) Aufsatzes im Original "Going Critical" und der Untertitel "How the Fukushima disaster taught me to stop worrying and embrace nuclear power".
Vorausgegangen war am 16.03.11 der Artikel "Atomised", UT: "The Fukushima crisis should not spell the end of nuclear power."


Nachtrag 23.06.2011
Jetzt haben die transatlantischen Menschenrechtsbomber die Hosen voll: "Die Angst vor dem Kollaps des Gadhafi-Regimes" titelt die ZEIT am 21.06.11:
"Die westliche Allianz [ist] derzeit überhaupt nicht gerüstet ... für das, was sich in Libyen nach einem Kollaps abspielen kann: Ein Zusammenbruch der staatlich-diktatorischen Ordnung setzt stets weitere garstige Kräfte frei. Es wird zu Plünderungen und Racheakten kommen, der Kampf um die Kontrolle der Ölindustrie und deren Einnahmen wird einsetzen. Nicht zuletzt dürfte die lose Oppositionsallianz Libyens aufbrechen, die sich im Hass auf das Gadhafi-Regime vereinte, in der aber fundamentale Gegensätze existieren, etwa jene zwischen säkularen Kräften und Dschihadisten...... Die Situation nach dem Zusammenbruch des Regimes von Gadhafi [wird] in vielerlei Hinsicht der im Irak 2003 gleichen. Dort fingen die Probleme nach dem schnellen Sieg der Allianz über Saddam Hussein erst richtig an."
Danke, Guido Westerwelle und Angela Merkel, dass ihr das vorausgesehen habt. Das war nicht schwer; größerer Dank gebührt euch, dass ihr uns da rausgehalten habt: das war sehr schwer, zumal große Teile sogar der Journaille in unserem eigenen Land euch das bis heute nachtragen!







Textstand vom 23.06.2011. Auf meiner Webseite
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