Mittwoch, 26. November 2014

Ukraine-Konflikt 360°


 Die Akteure und ihre Interessen bzw. Ziele:

A. Staaten und staatsähnliche Gebilde:


1.     Russland (gereizter Bär als Angreifer):

a.      militärische Interessen:
                         i.        guter Schwarzmeerhafen (Sewastopol; Ziel ist durch Anschluss der Krim erreicht, allerdings fehlt Anerkennung durch den Westen)
                       ii.        NATO nicht zu nahe an die eigenen Grenzen rücken lassen (Ukraine-Mitgliedschaft der Ukraine verhindern oder notfalls zumindest Stationierung von NATO-Streitkräften in der Ostukraine verhindern)

b.      Interesse bzw. Ziele der "Staatsraison":
                         i.        Rechte russischer Bevölkerungsteile in der Ukraine verteidigen (Krim durch Anschluss erreicht, ausländische Anerkennung fehlt noch; Donezk-Becken noch unklar) 
                       ii.        (möglich, aber derzeit nicht erkennbar: ) Annexion der Ostukraine(theoretisch sogar der Gesamtukraine). Bei der Frage, ob Russland Annexionsabsichten hat, muss die Chronologie der Ereignisse berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass der Anschluss der Krim an Russland und die (zweifellos von Russland geschürten) Unruhen in der Ostukraine erst in diesem Jahr begannen (vgl. ausführlich das Wikipedia-Stichwort "Krise in der Ukraine 2014"), sprechen gegen eine grundsätzlich expansive Tendenz Moskaus. Das ist kein "Einsammeln russischer Erde", was da abläuft, sondern einfach die Abwehr eines westlichen "Auf-die-Pelle-Rückens".
Auslöser war offenkundig der Sturz des tendenziell eher pro-russischen (oder zumindest dem russischen Einfluss zugänglichen) Präsident Wiktor Janukowytsch. Der Wikipedia-Eintrag "Geschichte ... seit 1991" schildert die Entwicklung wie folgt (meine Hervorhebung):
"Durch aktive Einflussnahme des russischen Präsidenten Putin Ende 2012 und Anfang 2013 sind die Verhandlungen zur Partnerschaft zwischen der Ukraine und der EU ins Stocken geraten. Daraufhin erklärte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė im Juli 2013 zu Beginn der Litauischen EU-Ratspräsidentschaft 2013, Litauen sei darauf bedacht, das Assoziierungsabkommen im November 2013 auf dem EU-Gipfel in Vilnius zu unterzeichnen. Im August 2013 erklärte Putin, dass im Fall der Unterzeichnung des Abkommens mit der EU, Russland „Schutzmaßnahmen“ durchführen werde. Die Importkontrollen auf ukrainische Güter wurden durch die russische Seite verschärft. Der ukrainische Premierminister Mykola Asarow forderte Russland in diesem Zusammenhang dazu auf, die baldige Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU zu dulden. Nach einem monatelangen Tauziehen um die Unterzeichnung, in dem von Seiten der EU die Haftentlassung bzw. die Ausreise von Tymoschenko zur medizinischen Behandlung im Ausland zur Bedingung gemacht wurde, beschloss die ukrainische Regierung am 21. November 2013 ein „Einfrieren“ des Abkommens mit der EU. Laut einem Dekret wurde die „Suspendierung des Vorbereitungsprozesses“ angeordnet, um die „nationalen Sicherheitsinteressen zu wahren und die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu beleben und den inneren Markt auf Beziehungen auf gleicher Augenhöhe mit der EU vorzubereiten“. Janukowytsch erklärte hierzu, die Ukraine ändere ihren EU-Kurs nicht, das Land strebe aber danach, dass seine nationalen Interessen berücksichtigt werden. Zurzeit sei die Ukraine zum Abschluss des Assoziierungsabkommens aus wirtschaftlichen Gründen noch nicht bereit, eine Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU im Frühjahr 2014 sei aber möglich. Zuvor müsse man jedoch eine Reihe von aktuellen Problemen im Handel mit Russland lösen. Janukowytsch erklärte weiter, niemand werde in der Lage sein, die Ukraine vom europäischen Weg abzubringen. Das „Einfrieren“ des Abkommens führte zu Demonstrationen und Protesten, die als Euromaidan bezeichnet wurden und sich gegen die Politik der ukrainischen Staatsführung richteten."
Aus dem Artikel Ukraine + EU:
"Nach einem monatelangen Tauziehen um die Unterzeichnung, in dem von Seiten der EU die Haftentlassung bzw. Ausreise von Tymoschenko zur medizinischen Behandlung im Ausland zur Bedingung gemacht wurde, beschloss die ukrainische Regierung am 21. November 2013 ein „Einfrieren“ des Abkommens mit der EU. Die Entscheidung wurde mit Überraschung aufgenommen. Laut einem Dekret wurde die „Suspendierung des Vorbereitungsprozesses“ angeordnet, um die „nationalen Sicherheitsinteressen zu wahren, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu beleben und den Binnenmarkt auf gleichwertige Beziehungen mit der EU vorzubereiten“. Janukowytsch erklärte hierzu, die Ukraine ändere ihren EU-Kurs nicht, das Land strebe aber nach Berücksichtigung seiner nationalen Interessen. Zurzeit sei die Ukraine zum Abschluss des Assoziierungsabkommens aus wirtschaftlichen Gründen noch nicht bereit, eine Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU im Frühjahr 2014 sei aber möglich. Zuvor müsse man jedoch eine Reihe aktueller Probleme im Handel mit Russland lösen. Janukowytsch erklärte weiter, niemand werde in der Lage sein, die Ukraine vom europäischen Weg abzubringen. Anfang Dezember 2013 fuhr Janukowytsch nach Brüssel, "in der vergeblichen Hoffnung auf finanzielle Unterstützung seines nahezu bankrotten Landes durch die EU. Erst danach fuhr er nach Moskau." Das Stilllegen des Abkommens war Anlass und Auslöser der mehrmonatigen Demonstrationen und Proteste des sogenannten „Euromaidan“, die sich gegen die Politik der ukrainischen Staatsführung richteten und am 22. Februar 2014 letztlich zum Sturz von Janukowytsch führten."
Eine noch detailliertere Darstellung der Vorgänge um das Abkommen enthält der Wikipedia-Artikel "Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine".
Klar ist, dass Russland hier in einer machtpolitisch sehr rationalen Weise (und sogar "mit Ansage"!) auf Aktivitäten "des Westens" (konkret: der EU) reagiert hat, die es als eine Verletzung seiner wirtschaftlichen, vor allem aber wohl machtpolitischen Interessen wahrgenommen hat.
Der EU ist zunächst vorzuwerfen, dass sie Russland nicht eingebunden bzw. sich mit Putin nicht abgestimmt hat.
Darüber hinaus stellt sich allerdings die Frage, ob die Rebellion des "Euromaidan" gegen Janukowytsch und für die EU-Assoziierung wirklich eine Volksbewegung war - oder ob der Westen da ein wenig "nachgeholfen" hat.

2.     Ukraine (Verteidiger):
Erhaltung der territorialen Integrität. Rechtliche Lage:
"Am 5. Dezember 1994 trat die Ukraine zusammen mit Weißrussland und Kasachstan dem Atomwaffensperrvertrag ohne Vorbehalt bei. Am Rande des Gipfeltreffens der KSZE am selben Tag in Budapest wurden die Ratifikationsurkunden zum Abrüstungsabkommen START I zwischen den Präsidenten der USA, Russlands, der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans ausgetauscht und der am 31. Juli 1991 unterzeichnete START I-Vertrag trat somit am 5. Dezember 1994 in Kraft. Russland, die USA und Großbritannien gaben Sicherheitsgarantien ab und bekräftigten de jure die Unverletzlichkeit der Grenzen und die territoriale Integrität der Ukraine."
(Vgl. Wikipedia-Stichwort "Geschichte der Ukraine seit 1991" für das Jahr 1994; Hervorhebung von mir). Rein juristisch ist Russland also im Unrecht. (Obwohl die Bewertung der Krim-Annexion im Detail dann doch wohl nicht ganz so einfach ist; vgl. dazu den FAZ-Gastkommentar "Die Krim und das Völkerrecht. Kühle Ironie der Geschichte" des Hamburger Rechtsprofessors Reinhard Merkel vom 07.04.2014.)

 3.     USA (welthegemonialer Einmischer, aber auch Sicherheitsgarant der Ukraine):
Wollen nach Möglichkeit ihre weltweite Dominanz erhalten und keine anderen "Götter" neben sich aufkommen lassen.
Russland wird zwar ohnehin nie ein ebenbürtiger Rivale der USA werden; trotzdem zielt die US-Politik offenbar darauf ab, den russischen Einfluss auf das Territorium des russischen Staates einzuschränken und alle Randstaaten möglichst der eigenen Einflusssphäre, und womöglich der NATO, einzugliedern: Also im Grunde eine Art Einkreisungspolitik zu betreiben. Vgl. dazu aus dem Wikipedia-Eintrag über Georgien: "Die USA haben sich 1999 im Silk Road Strategy Act darauf festgelegt, starke politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Bindungen zwischen den Ländern des Südkaukasus … und dem Westen zu entwickeln. Seit 1994 erhält Georgien US-amerikanische Militärhilfe und seit 2002 sind US-Militärausbilder für verschiedene Programme in Georgien tätig." Diese "Seidenstraßen-Strategie-Gesetz" war zwar nur eine Vorlage, die keine Gesetzeskraft erlangt hat. Angesichts der Fakten (u. a. auch das Eingreifen der USA in Afghanistan, das möglicherweise nicht nur als Bekämpfung der Taliban gedacht war) darf aber wohl davon ausgehen, dass die US-Außenpolitik ihre alte Strategie des "Containment", ursprünglich gegen eine Ausbreitung des Kommunismus in der Welt konzipiert, nicht aufgegeben hat. Nur dass diese heute jedwede Ausbreitung des russischen Einflusses verhindern und möglichst alle Länder an Russlands Grenzen der amerikanischen Einflusssphäre einverleiben will.
Sehr aufschlussreich ist dazu auch die Aussage des ehemaligen CDU-Verteidigungspolitikers Willy Wimmer in dem Interview »Es gibt ein NATO-Netzwerk in den deutschen Medien« mit der "junge Welt" vom 13.09.2014. Auf die Frage
"Im Jahr 2000 nahmen Sie in ­Bratislava an einer vom US-Außenministerium ausgerichteten Konferenz teil, auf der ganz offen über die Strategie Washingtons gesprochen wurde"
antwortete Wimmer u. a. (meine Hervorhebungen):
"Sie [die Amerikaner] erklärten außerdem, wie sie sich Europa künftig vorstellen. Sie wollten einen Linie ziehen, die von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und von da aus weiter nach Anatolien geht. Alles was westlich von dieser Linie liegt, betrachteten sie als Einflussgebiet der USA. Die Russische Föderation sollte aus den europäischen Entwicklungen herausgedrängt werden. Das heutige Geschehen in der Ukraine ist für mich ein Beleg dafür, dass diese Leute damals nicht in den Mond geguckt haben. 2006, beim NATO-Gipfel in Riga, haben wir den Versuch gesehen, Georgien und die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Das ist aus einem wichtigen Grund verhindert worden: Die Westeuropäer haben kein Vergnügen daran gefunden. Denn wenn diese durchgehende Limes-Linie von der Ostsee bis nach Anatolien etabliert würde, dann bräuchten Deutsche, Franzosen, Italiener und Spanier sich keine Gedanken mehr darüber machen, wie ungehinderte Beziehungen zur Russischen Föderation aufrechterhalten werden können. Die könnten dann je nach Interessenlage der Vereinigten Staaten von diesen jederzeit unterbrochen werden. Sie könnten dabei auf die Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten bauen: vom Baltikum bis zu Rumänien. Die USA unternehmen alles, um dieses Ziel doch noch zu erreichen. So erklärt sich auch ihr Verhalten im Hinblick auf die Ukraine."
Diese Darstellung halte ich für glaubhaft. Sie entspricht einerseits der konkret zu beobachtenden US-Politik in diesem Raum. Und zum anderen der weltweiten Hegemonialpolitik der Amerikaner, wie sie seit Jahrzehnten an zahlreichen Ländern statuiert wurde.
Fairer Weise darf man allerdings auch nicht vergessen, dass die USA 1994 im Budapester Abkommen Sicherheitsgarantien für die Ukraine abgegeben hatten - und das damals einvernehmlich mit Russland.

4.     Europäische Union (expansionslüsternes Elefantenbaby)
Krakistisches Ländergrabbing als Eigengesetzlichkeit der Brüsseler Zentralbürokratie.
Die Beziehungen der Ukraine zur EU sind ausführlich dargestellt im Wikipedia-Eintrag "Ukraine und die Europäische Union". Daraus:
"Die offizielle Position von Seiten der Europäischen Kommission lautet: „Die EU strebt eine zunehmend enge Partnerschaft mit der Ukraine an, die die allmähliche wirtschaftliche Integration und eine Vertiefung der politischen Zusammenarbeit zum Ziel hat.“

5.     Deutschland (zwischen den Stühlen?)
Deutschland ist in mancher Hinsicht insbesondere zwischen den großen Machtspielern Russland und USA eingeklemmt. Freilich nicht genau in der Mitte, sondern mehr auf der westlichen, amerikanisch dominierten Seite.
Gleichwohl erkennt man an der Außenpolitik der Bundeskanzlerin, und mehr noch der SPD (Außenminister Steinmeier), das Bestreben, sich nicht voll für die US-Interessen vereinnahmen und den Draht zu Moskau nicht abreißen zu lassen. Warum die Bundesregierung dennoch den Sanktionen der EU gegen Russland zugestimmt hat, kann ich nicht beurteilen: Hat man sich amerikanischem Druck gebeugt? Oder tatsächlich vor einem russischen Expansionsdrang gefürchtet? Wollte man sich den osteuropäischen EU-Staaten als verlässlicher Partner zeigen? Ich weiß es nicht.
Unser Interesse sind gute Beziehungen zu Russland; das sieht wohl auch die Bundesregierung so.
Aber vielleicht möchte man keine allzu große Nachgiebigkeit zeigen, um dem russischen Bären nicht Appetit auf mehr zu machen?

6.     Osteuropäische Staaten (Mitspieler)
Geschichtlich verständlich, fürchten sich die Osteuropäer vor einer russischen Expansion, bzw. vor einer Einigung zwischen Russland und (insbesondere) Deutschland zu ihren Lasten (vgl. historisch: Polnische Teilungen; Hitler-Stalin-Pakt mit Aufteilung Polens). Somit stehen sie gegen Russland und voll auf der Seite der Ukraine.


B. Völker und Bevölkerungsteile

7.     Ukrainisches Volk (Schimäre?)
Im Kapitel "Ethnien" des Wikipedia-Eintrages zur Ukraine erfahren wir über die volkliche Zusammensetzung des Landes (Hervorhebung von mir):
"Nach der offiziellen Volkszählung von 2001 leben in der Ukraine 77,8 % Ukrainer, 17,3 % Russen und über 100 weitere Ethnien. ..... Die Ukrainer stellen in allen Regionen mit Ausnahme der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol den größten Teil der Bevölkerung. In diesen beiden Regionen sind die Russen die bei weitem bedeutendste Volksgruppe, weitere Gebiete mit hohem russischem Bevölkerungsanteil von 39,0 % bzw. 38,2 % (Volkszählung von 2001) sind die Oblaste Luhansk und Donezk im Südosten der Ukraine."

8.     Nichtrussische Bevölkerung in der Ukraine (Patrioten/Nationalisten?)
Man kann wohl annehmen, dass die Mehrheitsbevölkerung das gesamte Territorium der Ukraine gerne intakt halten möchte, also patriotisch bis national(istisch) eingestellt ist. Und deshalb auch bereit, gegen eine Abspaltung der Ostukraine zu kämpfen.

9.     Russische Minderheitsbevölkerung in der Ukraine (Bauern auf Putins Schachbrett?)
Auch im sog. Donezk-Becken stellen die Russen lediglich eine Minderheit der Bevölkerung (s. o. die Daten unter "Ukrainisches Volk"). Deshalb bezweifle ich, dass die dortigen Separatistenbewegungen tatsächlich den Willen der Einwohnermehrheit verkörpern. Allerdings mag es sein, dass es unabhängig von der Volkszugehörigkeit politische und/oder wirtschaftliche Spannungen zwischen diesen Gebieten und der Kiewer Zentralregierung gegeben hat.
Trotzdem wäre ein Anschluss dieser Gebiete an Russland wohl eine echte, von der Bevölkerungsmehrheit mutmaßlich NICHT gewollte Annexion. Und wahrscheinlich die Errichtung eines eigenen (Klein-)Staates ebenso.
Für die Krim darf man dagegen mutmaßen, dass die dortige Mehrheit tatsächlich eine Rückgliederung nach Russland wollte. Allerdings hat sich Russland mit dem geradezu "sowjetischen" Abstimmungsergebnis, und vor der Abstimmung der Unterdrückung der Werbung der Einheits-Befürworter, keinen Gefallen getan.


C. Personen

10. Wladimir Wladimirowitsch Putin (kühler Pokerspieler?)
Eine feste Haltung gegen den Westen und die entschlossene Interessenwahrung zu Gunsten der russischen Minderheiten in der Ukraine wertet den russischen Präsidenten Putin innenpolitisch sicherlich auf. Ich bin mir aber sicher, dass der innenpolitische Beliebtheitsgewinn NICHT die entscheidende Antriebsquelle für Putins Handeln ist. Sonst hätte er schon sehr viel früher einen Konflikt vom Zaun gebrochen.
Allerdings: Wer immer glaubt, Putin, oder irgend einer seiner Nachfolger, könne es sich leisten, die Krim an die Ukraine zurück zu geben, ist ein Tagträumer. So viel von (Innen-)Politik müssten doch eigentlich auch unsere Politiker verstehen?


D. Was tun?

Dazu müssen wir zwei Fragen beantworten:
1.     Was können wir Putin geben und
2.     Was will Putin eigentlich?
Deutschland / die EU / der Westen (also insbesondere die USA) könnten die Angliederung der Krim an Russland rechtlich anerkennen.
Das ist eine Verletzung der Rechtsposition der Ukraine, und wäre zudem, im Falle der USA, ein Verstoß gegen deren Garantieverpflichtung gegenüber der Ukraine aus dem Budapester Abkommen.
Nicht nur in den Augen der Ukrainer, sondern auch für die anderen Osteuropäer wäre das zweifellos eine Enttäuschung und würde als Verrat westlicher Wert angesehen werden.

Wahrscheinlich kann man eine Anerkennung durch die USA schon aus diesem Grunde nicht erwarten. Deutschland ist insoweit weniger gebunden; allerdings kann es, will es nicht bei anderer Gelegenheit selber der Solidarität seiner Freunde verlustig gehen, nicht so einfach aus dem, zumindest europäischen, Konsens ausscheren.

Von den baltischen Ländern und Polen (sowie der Slowakei und Rumänien?) ist wohl ein massiver Widerstand zu erwarten, und natürlich können sie auf der Basis des Rechts argumentieren.
Allerdings sollte auch denen klar sein, dass eine Rückgabe der Krim von Russland an die Ukraine illusorisch ist.

Und, wenngleich nicht die Legalität auf Russlands Seite ist: Legitim war die Angliederung der Krim an Russland schon.
Zwar kann man mutmaßen, dass das Hauptinteresse Russlands eher machtpolitischer Natur ist (Hafen in Sewastopol für seine Schwarzmeerflotte).
Man wird jedoch einem geschlossen siedelnden Teilbevölkerung ein Sezessionsrecht zugestehen müssen. Und obwohl das Abstimmungsergebnis zweifellos verfälscht war, darf man sicherlich von einer mehrheitlichen Zustimmung der dortigen Russen zur Rückkehr ihrer Halbinsel ins russische Reich ausgehen.
Außerdem war die Krim 1954 bekanntlich von Chruschtschow an die Ukraine verschenkt worden, über den Kopf der Bevölkerung hinweg. Auch das wäre nach heutigem Verständnis wohl kaum legal und ist ein gewichtiges Argument für eine heutige Revision dieser früheren Grenzverschiebung.

Selbst wenn sich die EU-Mitglieder nicht auf eine Anerkennung einigen würden, könnten sie zumindest die Sanktionen gegen Russland aufheben.
Das wäre allerdings unklug, so lange Russland weiterhin die Separatistenbewegungen in der Ostukraine (s. "Krise in der Ukraine 2014") unterstützt.

Stellt sich also die Frage, was Putin dort bzw. damit überhaupt erreichen will. Nur wenn man das weiß kann man die Chancen einschätzen, einen fairen Interessenausgleich mit Russland zu erreichen.

An einem Anschluss dieser Gebiete an Russland sollte er, rational betrachtet, eigentlich kein gesteigertes Interesse haben. Verfolgt er dennoch dieses Ziel, sehe ich keine Möglichkeit des Entgegenkommens. Die territoriale Integrität der Ukraine durch Annexion von Gebieten mit einer russischen Minderheitsbevölkerung zu verletzen wäre ein Akt, den der Westen nicht ohne Gegenwehr hinnehmen kann. Dann wären die bestehenden Sanktionen das Mindeste, was der Westen tun müsste - obwohl sie natürlich auch der eigenen Wirtschaft schaden.

Geht es Putin um
a) Fernhaltung der NATO aus der Ukraine und
b) Schutz der russischen Bevölkerungsmehrheit,
dann wären das rational nachvollziehbare begrenzte, und auch legitime Ziele.
Diese sollte der Westen respektieren, indem er sich, zumindest für einige Jahrzehnte, verpflichtet, die Ukraine NICHT in die NATO aufzunehmen. (Frage ist natürlich, ob die USA dazu bereit wären.)
Zugleich müsste die EU auf die Ukraine einwirken, dass sie eine Zweisprachigkeit in Gebieten mit starker russischer Minderheit einführt, und evtl. auch der Ostukraine ein gewisses Maß an Autonomie zugesteht. 
Kommen vielleicht
c) noch wirtschaftliche Interessen Russlands hinzu,´
sollte sich auch dafür eine Lösung finden lassen.

Aber als Außenstehender weiß man halt nicht, worüber Angela Merkel kürzlich in Brisbane 4 Stunden lang mit Putin konferiert (und davor schon einmal 5 Stunden in Mailand!) bzw. was die Bundeskanzlerin aus dem russischen Präsidenten dabei herausgebracht hat.
Was hat er gefordert - wenn überhaupt etwas; welche Zugeständnisse hat Angela Merkel ihm ggf. angeboten? Man weiß es einfach nicht.
(In dem verlinkten SPON-Artikel wird auch der Abschuss der Maschine MH17 der Malaysia Airlines über der Ukraine thematisiert. Insoweit habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass die Rebellen dafür verantwortlich sind. Nicht nur hat sich deren Befehlshaber bei, glaube, Facebook anfänglich zum Abschuss einer "Antonow" bekannt. Die ukrainischen Regierungstruppen hätten auch keinen Grund für einen Angriff auf das Flugzeug gehabt, denn davon, dass die Russen die Rebellen mit Flugzeugen unterstützen oder versorgen würden, ist nichts bekannt. Dieser zweifellos versehentliche Abschuss einer Passagiermaschine durch die Separatisten ändert aber nichts an meiner politischen Beurteilung der Gesamtlage.)
(Hier ein SPON-Bericht aus dem Vorfeld des Treffens in Brisbane.)

Gegenwärtig kann man sich als einfacher Bürger also nur darüber Gedanken machen, was fair ist, was für alle Seiten zumutbar wäre, und wie sich Deutschland in diesem Zusammenhang aufstellen sollte.
Wenn man ehrlich ist muss man sich eingestehen, dass man nicht einmal die Zweckmäßigkeit oder die Berechtigung der westlichen Sanktionen beurteilen kann.
Wenn Putin einfach Spannungen haben will, dann soll er sie halt auch bekommen.
Aber, wie oben schon gesagt, eigentlich macht sein Verhalten einen aus der Perspektive einer russischen Machtpolitik durchaus rationalen Eindruck; nicht anders haben in der Vergangenheit die USA agiert. Vom Völkerrecht haben die sich ebenfalls nicht hindern lassen, ihre Ziele zu verfolgen.
Eroberungsgelüste im Stil von Adolf Hitler vermag ich bei Putin nicht zu erkennen.

Am Ende bin ich, armer Tor, auch nicht schlauer als zuvor.
Aber immerhin habe ich für mich diese Geschichte jetzt mal "durchdekliniert" und weiß zumindest, dass ich nichts weiß.
Das ist mehr als andere (Russland-Versteher oder Russland-Gegner) wissen, die ganz genau zu wissen wähnen, was in Sachen Ukraine Sache ist.

Jedenfalls meine ich, dass es im dringenden Interesse Deutschlands und Europas wäre, sich mit dem rohstoffreichen Russland eng zu verbinden. Auf jeden Fall wirtschaftlich, und in einer längerfristigen Perspektive vielleicht sogar auch politisch.

Nach allgemeinen machtmechanischen und geopolitischen Kriterien müsste Russland das bevölkerungsreiche, wirtschaftlich dynamische und rohstoffhungrige China an seiner sibirischen Grenze eigentlich als eine potentielle Bedrohung wahrnehmen. Europa dagegen nicht, zumal ja auch Russland historisch enger an den abendländischen Kulturkreis angebunden ist, als an irgend einen ostasiatischen.
Europa und insbesondere Deutschland könnten ihrerseits Russland als faire Partner Hilfe beim Aufbau moderner wirtschaftlicher Strukturen anbieten; das wäre eine echte Partnerschaft zum BEIDERSEITIGEN Nutzen.
Ich weiß nicht, welche Seite welche Bedenken gegen eine solche Konstellation hat: Wollen die Europäer nicht, oder will Russland nicht?
Was ich allerdings weiß: Es wäre tragisch für BEIDE Seiten, eine solche Chance auszuschlagen.



Nachträge  27.11.2014

Eine brillante Replik von Annett Jubara ("Philosophin und Osteuropawissenschaftlerin, lehrt Übersetzung ... und Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz") an einen US-amerikanischen Russland-Kritiker hat die FAZ gestern u. d. T. "Russland-Kritik. Nietzsche hilft nicht weiter" veröffentlicht.
Auch die deutschen Intellektuellen lassen sich also nicht durchweg von scheinobjektiven Pseudoanalysen täuschen, welche in Wahrheit lediglich handfesten (amerikanischen) Machtinteressen dienen.

Hier übrigens der Bezugsartikel "Entfremdung und Erniedrigung. Die Russen verlieren den Bezug zur Realität" von 
Der hat mit seiner Kritik an den Russen und Putin sicherlich nicht ganz Unrecht. Denn als ein beherzter Modernisierer, dem es darum ginge, sein Land vor allem auch INNERLICH stark zu machen, damit es stolz und wohlhabend in der modernen Welt bestehen kann, ist Putin leider noch nicht aufgefallen.
Aber eben auch deshalb sollte eine enge Partnerschaft mit einem FAIREN UND VERSTÄNDNISVOLLEN Europa ein echter Gewinn für Russland sein. (Und für Europa sowieso.)

Wenn man den heutigen SPON-Bericht "Separatisten vs. Proeuropäer: Moldau droht das Ukraine-Schicksal" liest, dann stellt sich allerdings auch die Ukraine-Frage in einem ganz anderen Licht dar. Ob das noch rationale Interessenpolitik ist, die Putin hier (schon seit längerem: "Transnistrien"!) betreibt?
Trotzdem sollte die EU natürlich versuchen, den Russen zumindest eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit anzubieten, damit dem Land aus einer evtl. EU-Anbindung Moldawiens zumindest keine ökonomischen Nachteile entstehen.
Aber die Frage ist und bleibt natürlich immer auch, was Putin wirklich will.


Nachtrag 06.12.2014
Zur Ukraine-Debatte in Deutschland siehe aktuell auch in der ZEIT:
"Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!" Einleitung:

"Roman Herzog, Antje Vollmer, Wim Wenders, Gerhard Schröder und viele weitere fordern in einem Appell zum Dialog mit Russland auf. ZEIT ONLINE dokumentiert den Aufruf."
Textauszüge:
"Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer. Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden."
"Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, als vom Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein."
"Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden."


ceterum censeo
Zerschlagt den €-Gulag und den 
offensichtlich rechtswidrigen Schlundfunk der GEZ-Gebühren-Gier-Ganoven! 
Textstand vom 06.12.2014

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen