Montag, 3. November 2014

Warum Ben Bernankes hochgelobtes "deep financial system" in Wahrheit ein Finanzierungssystem für Diebe ist


Bereits in meinem (sehr viel weiter ausholenden und zu einer Reihe von Quellen bzw. Arbeitspapieren usw. verlinkenden) Blogeintrag "Aufräumarbeiten enthüllen Ben Bernanke's Perspective of the American Financial System as SOWERED" vom 21.03.2010 hatte ich Passagen aus zwei Reden von Ben Bernanke, gehalten als seinerzeitiger Präsident des Federal Reserve Board (Fed) zitiert, in denen er die amerikanische Finanzwirtschaft als "deep" charakterisiert. Und das sieht er (oder sah er jedenfalls damals; die Reden wurden vor dem vollen Ausbruch der Finanzkrise gehalten) als ein positives Charakteristikum (Hervorhebungen von mir):

Aus: "The Financial Accelerator and the Credit Channel" (15.06.2007):
"In the United States, a deep and liquid financial system has promoted growth by effectively [!] allocating capital and has increased economic resilience [!] by increasing our ability to share and diversify risks ... globally."
[Vorliegend geht es zwar um einen anderen Aspekt; dennoch kann ich es mir nicht verkneifen, meinen Kommentar in meinem früheren Blott: hier einzufügen:

Hübscher kann man das Geschehen, z. B. aus Sicht einiger deutscher Landesbanken oder des deutschen Steuerzahlers, garnicht ausdrücken, als durch die Formulierung, dass es dem amerikanischen Finanzsystem gelungen sei, to "share and diversify risks both domestically and globally"! Und alle Anzeichen sprechen dafür, dass die FED das internationale 'burden sharing' mit einem Weginflationieren der amerikanischen Schulden krönen will.]

 Aus : "Global Imbalances: Recent Developments and Prospects" (11.09.2007):
"..... current account deficits had to emerge as counterparts to the developing countries' surpluses. This adjustment could be achieved only by declines in real interest rates (as well as increases in asset prices), as we observed. The effects were particularly large in the United States, perhaps because high productivity growth and deep capital markets in that country were particularly attractive to foreign capital."


Der Begriff "tief" ist uns im Zusammenhang mit Finanzen geläufig in dem Ausdruck "tiefe Taschen". Im übertragenen Sinne bedeutet das: Viel Geld haben, reich sein.
Bei der Eingabe in die Übersetzungs-Suchmaschine "Linguee" findet man auch andere Bedeutungen; die vorliegend gemeinte trifft beispielsweise der Satz

"Wer eine solche Entwicklung in Australien unterstützt, [...] braucht viel Optimismus und tiefe Taschen (lacht)."

Bei Bernanke geht es aber um etwas anderes; in der Form, wie er hier das Wort "deep" verwendet, würde man im Deutschen (wenn man sich sehr präzise ausdrücken möchte) von "tief gestaffelt" sprechen.
Denn was er meint ist nicht (nur), dass die Banken in den USA viel Geld haben (auch weil sie Sparkapital vom Ausland an- bzw. absaugen). Sondern dass die Vielfalt der Institutionen (also neben Banken beispielsweise Geldmarktfonds, Pensionsfonds, Hedgefonds usw.) der dortigen Finanzwirtschaft eine größere Effizienz und Resilienz verleiht. Sie mache, will er offenbar sagen, das System widerstandsfähiger.


Das klingt zunächst einmal gut; aus meiner Sicht ist es aber schlecht. Ein "tiefes" Finanzsystem ist nämlich notwendig kostspieliger als ein "flaches" Finanzsystem.

Nicht umsonst geht es bei Maßnahmen zur Personaleinsparung in Unternehmen nicht selten darum, "flachere Hierarchien" zu schaffen.
Einen noch besseren Vergleichsmaßstab bietet uns allerdings der Handel.

Wir unterscheiden zwischen Groß- und Einzelhandel, aber in früheren Zeiten gingen Waren nicht selten durch mehrere Hände ("Zwischenhandel"), bevor sie den Endabnehmer erreichten.
Wenn wir beispielsweise an die Stapelrecht (und das Umschlagsrecht) von Städten im Mittelalter denken, dann können wir das damalige Handelssystem mit Fug und Recht als "tief gestaffelt" bezeichnen.
Diese Tiefenstaffelung mag seinerzeit durchaus auch positive Effekte für die Störfestigkeit der Warenverteilung (denn das ist "Handel" ja) gehabt haben, genau wie später noch die Zwischenhändler. Drastisches Beispiel: Wenn das Lager des einen abbrennt, gibt es immer noch genügend Vorräte bei den anderen, um den Verlust auszugleichen.
Vor allem aber haben sich viele Finger daran gemästet.

Im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung (maßgebliche dürfte die Entwicklung der Transportmittel gewesen sein) wurden die Zwischenhändler immer mehr ausgeschaltet.
Zwar wird auch heute noch der Trinkhallenbesitzer sein Warenangebot im Metro-Markt einkaufen, also im Großhandel. Aber die großen Handelsketten haben den Zwischenhandel ausgeschaltet und beziehen ihre Waren direkt von den Herstellern.

Eine vergleichbare Entwicklung stellt im Produktionssektor die fertigungssynchrone* Anlieferung der benötigten Vorprodukte dar. Auch hier wird die Lagerhaltung im System minimiert oder entfällt ganz. Das macht ein System naturgemäß störanfällig (die japanische Automobilindustrie musste das nach dem Tsunami im Jahr 2011 feststellen). Aber solange es läuft, spart es erhebliche Kosten. Es bindet weniger Kapital, und braucht weniger Personal. Damit verbilligt es das Produkt für den Endverbraucher.
[just-in-time delivery; danke an den VdS für die Eindeutschung]

Ich sehe keinen Grund, warum das ausgerechnet in der Finanzindustrie anders sein sollte.
Nehmen wir als Beispiel die
Collateralized Debt Obligations (CDOs). Die erklärt uns der einschlägige Wikipedia-Eintrag wie folgt:
"CDOs bestehen aus einem Portfolio aus festverzinslichen Wertpapieren. Diese werden in mehrere Tranchen aufgeteilt, die in Reihenfolge ihrer Seniorität üblicherweise als Senior Tranche, Mezzanine Tranche und Equity Tranche bezeichnet werden. Das Ausfallrisiko steigt – aufgrund der nachrangigen Bedienung im Fall eines Ausfalls – mit sinkendem Rating, daher bietet die Equity Tranche als Ausgleich die höchste Verzinsung. CDOs sind Finanzprodukte (beispielsweise Geldanlagen in Conduits) und ein wichtiges Refinanzierungsmittel für Banken auf dem Kapitalmarkt."

Für Kapitalanleger (Fonds, Versicherungen, Banken und superreiche Privatpersonen) mag es attraktiv sein, aus einer Angebotspalette auswählen zu können, bei der Risikohöhe und Ertrag gegenläufig sind.
In der "Produktion" verursachen solche "Finanzprodukte" allerdings erhebliche Kosten:
  • Die korrekte Zuordnung einzelner Kredite zur jeweiligen Risikokategorie (Tranche) durch den Anbieter
  • Die Bewertung durch Rating-Agenturen und schließlich die
  • hochkomplexen Vertragswerke, die bei einem Verkauf abgeschlossen werden.
Sehr viel unkomplizierter und kostensparender wäre der klassische Weg, dass eine "Immobilienbank" Hypothekenkredite vergibt, und sich ihrerseits das dafür erforderliche Kapital* von anderen Banken bzw. Wirtschaftssubjekten leiht. (Aufnahme von Interbankenkrediten, Verkauf von Pfandbriefen usw.)
[*Banken können bei der Kreditvergabe zwar Geld aus dem Nichts schöpfen; trotzdem sind sie, bzw. ist das Bankensystem in seiner Gesamtheit, auf Einlagen angewiesen. Siehe näher hier.]

Eine zunehmende Komplexität scheint eine generelle Tendenz, ich sage mal: "des Seienden" zu sein. Wir beobachten sie bei der Evolution, also der Entwicklung des Lebens auf der Erde. Aber sogar die unbelebte Materie hat sich im Laufe der kosmischen Entwicklung ausdifferenziert; beim "Urknall" gab es noch kein Eisen, Gold, Tellurium usw.
[Diese Tendenz, nicht unbedingt eine Entwicklung zur moralischen Besserung oder zu mehr Glück, ist es, die wir objektiv als "Fortschritt" identifizieren können.]

Freilich lässt sich eine (künstlich erzeugte oder auch einfach in der Natur der Sache begründete) Komplexität auch ausgezeichnet instrumentalisieren, um andere übers Ohr zu hauen.
Und auf jeden Fall hat sie "Komplexitätskosten" zur Folge. (Relativ ausführlich hier im "Controlling Wiki" behandelt. Simples Beispiel: Eine Schraubenfabrik kann 1 Mio. Schrauben in 10 Varianten billiger herstellen als in 1.000 Varianten.)

Komplexitätssteigerung ist (bzw. wird irgendwann) wohl immer ein ökonomisches Problem. Es kann allerdings zunächst auf der sozialen Ebene in Erscheinung treten. (Beispiel: Würden wir heute bombardiert wie im 2. Weltkrieg, dann müssten wir wohl alle unsere Traumata psychiatrisch behandeln lassen. Und sogar die Helfer - das erleben wir, anscheinend zunehmend, ja auch schon bei schweren Verkehrsunfällen usw. - müssten in diese medizinische Versorgung einbezogen werden. Natürlich mit den entsprechenden Kostenfolgen.)

Ein Forscher, der in besonderem Maße über gesellschaftliche Komplexitätskosten nachgedacht hat, und diese sogar als Ursache für den Kollaps ganzer Zivilisationen ansieht, ist der Amerikaner Joseph Tainter.
Der schrieb unter " COMPLEXITY, PROBLEM SOLVING, AND SUSTAINABLE SOCIETIES" (1996; Auszug aus dem Buch "GETTING DOWN TO EARTH:
Practical Applications of Ecological Economics
";
hier online; ebenso dort ):
"The Roman Empire provides history's best-documented example of how increasing complexity to resolve problems leads to higher costs, diminishing returns, alienation of a support population, economic weakness, and collapse.  In the end it could no longer afford to solve the problems of its own existence."
[Noch ausführlicher unter den im Internet abrufbaren Texten - er hat natürlich auch Bücher darüber geschrieben - ist sein Aufsatz "Problem Solving: Complexity, History, Sustainability" aus dem Jahr 2000.]
Länder wie die USA und Großbritannien freuen sich, dass ihre sog. "Finanzindustrie" prosperiert. Sie generiert im Verhältnis zur Realwirtschaft weit höhere Gewinne, zahlt gigantische Gehälter und "stiehlt" auf diese Weise der Realwirtschaft die besten Köpfe. (Vgl. etwa den Aufsatz "Why does financial sector growth crowd out real economic growth?" von Stephen G Cecchetti und Enisse Kharroubi; 2013. Kritisch auch Steven Keen: "Godzilla is good for you?", 2014.)Nicht zuletzt ist zu vermuten, dass die Finanz"industrie" ein großenteils um sich selber kreisendes System ist, das der Realwirtschaft gleich in zweifacher Hinsicht Geld "stiehlt":
  • Indem es Kosten verursacht, die vermutlich (wenn auch wohl nur teilweise: s. u.) aus den Erträgen der Realwirtschaft bezahlt werden müssen (aber in jedem Falle - s. u. - die Kaufkraft der anderen Wirtschaftsteilnehmer potentiell schmälern) und
  • indem es Gelder (Einlagen) anzieht, die sonst wahrscheinlich in der Realwirtschaft nachfragewirksam geworden wären (also, technisch bzw. statistisch gesprochen, zu einer Verminderung der "Geldumlaufgeschwindigkeit" führt).
Alternativ oder ergänzend habe ich das Finanzsystem im Verdacht, dass es rein aus sich heraus (vielleicht durch gewissen Absurditäten der Mark-to-market Bilanzierung ermöglicht) Scheingewinne generiert. Dadurch entsteht einerseits ein Druck auf die Notenbanken, ständig mehr Geld zu "drucken", weil es in der Realwirtschaft fehlt. Andererseits werden aber diese Scheingewinne gerade durch diese ständige Geldmengenexpansion (die großenteils wohl gar nicht in der Realwirtschaft ankommt oder zumindest nicht dort bleibt) überhaupt erst ermöglicht.
Damit würden die Finanzakteure (soweit es um den "reinen" Finanzbereich geht, also kein Bezug zur Realwirtschaft mehr vorhanden ist) den anderen Wirtschaftssubjekten Kaufkraft stehlen. Dieses ständig zusätzliche Aufblähen der Geldmenge wäre eine Ponzi-Finanzierung und, weil sie (durch die Zentralbanken) sogar auch als eine Basisgeldmengenausweitung betrieben wird, tendenziell inflationär. Auch wenn der Finanzierungsweg rein technisch noch über eine Kreditvergabe funktioniert, und es sich also bei rein formaler Betrachtung um Kreditgeld handelt, wäre diese Art von Geldschöpfung ökonomisch als Schöpfung von "Willkürgeld" zu klassifizieren.
Realwirtschaftlich kommt es natürlich erst dann zum Kaufkraftdiebstahl, wenn a) die Profiteure ihre Scheingewinne ausgeben und b) diese Mehrausgaben nicht durch zusätzliche Ersparnisse anderer Wirtschaftssubjekte kompensiert werden.
Das ist der Stoff, aus dem uns irgendwann eine Inflation erwachsen wird.

Wegen dieser Gefahren und dieser möglicher Weise im Alltagssinne (und im ökonomischen Sinn) sogar betrügerischen Entwicklung des Finanzsystems sollten wir eine "tiefgestaffelte" Finanzwirtschaft nicht bejubeln, sondern äußerst misstrauisch beäugen, und kritisch hinterfragen,
a) welche Mechanismen dazu führen und es ermöglichen und
b) auf welche Weise wir die Komplexität, und damit die Kosten, senken könnten.


Dass wir "belogen und betrogen" werden, wussten wir ja schon immer.
Nur hängen wir, bewusst oder unterschwellig, der falschen Vorstellung an, dass da irgendwelche (Finanz-)Ganoven am Werk wären, die uns vorsätzlich bestehlen wollen.
So einfach (wie einfache Menschen geradezu reflexhafta uch politische Vorgänge regelmäßig deuten) ist die Sache aber leider nicht.

Wenn Ben Bernanke ein "tiefes" Finanzsystem als vorteilhaft hinstellt, dann ist das tatsächlich seine innerste Überzeugung. Natürlich ist er im Ergebnis ein Lobbyist der Finanzbranche. Aber keiner der "gekauft" und "korrupt" wäre.
Die Probleme liegen viel tiefer (und sind deshalb auch sehr viel schwerer auszumerzen).
Da sind Strukturen, Mechanismen und eingefleischte Überzeugungen am Werk, die wir zunächst überhaupt erst einmal ans Tageslicht bringen müssten, um sie als falsch oder schädlich identifizieren zu können.

In diesem Sinne fordere ich ein "Manhattan-Project" für die Volkswirtschaftslehre: Um die finanzielle Atombombe zu entschärfen, die uns nach meiner Überzeugung ansonsten irgendwann um die Ohren fliegen wird.




ceterum censeo
Zerschlagt den €-Gulag
und den offensichtlich rechtswidrigen Schlundfunk der GEZ-Gebühren-Gier-Ganoven! 
Textstand vom 03.11.2014.
Für Paperblog-Leser: Die Original-Artikel in meinem Blog werden im Laufe der Zeit teilweise aktualisiert bzw. geändert.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen