Derivate sind Zeugen. Zeugen zum einen für einen Überfluss an Geldkapital, der sich nicht rentabel in Realkapital umwandeln (investieren) lässt.
Zum anderen bezeugen sie die Genialität des Marktes (als Institution; sicherlich nicht diejenige der Marktteilnehmer), welcher eben durch die Erfindung von und den umfangreichen Handel mit Derivaten (d. h. letztlich durch den Glauben an die Werthaltigkeit der Derivate) diese (durch unser Geld- und Zinssystem wohl zwangsläufig entstehenden) Überschüsse neutralisiert.
Der Markt ist in diesem Punkt sogar genialer, als selbst seine glühendsten Verehrer sich selbst eingestehen dürfen. Damit die Derivatewirtschaft als wirksamer Absorptionsmechanismus für überschüssiges Geldkapital funktionieren kann, müssen die Akteure in diesem Bereich (aber auch die Gesellschaft insgesamt) ihr Handeln als rational verstehen und fest daran glauben, dass sie mit Werten handeln und Werte schaffen.
In der Tat ist die Derivatewirtschaft marktwirtschaftlich wertvoll und vermutlich unentbehrlich, obwohl (bzw. aus anderer Perspektive: weil) sie keine Werte schafft, und sogar Werte vernichtet. Indem sie dem dort „investierten“ Geldkapital die Möglichkeit nimmt, realwirtschaftliches Wachstum zu schaffen, koppelt sie das Geldkapital teilweise von dem Realkapital ab. Insoweit nimmt sie ihm die Möglichkeit, in der Realwirtschaft Werte zu schaffen. Damit hilft sie, ein Absinken des Renditeniveaus zu verhindern bzw. umgekehrt eine Inflation der Preise für Güter und Dienstleistungen (im Anlage- wie in Konsumbereich, wohin ein Teil des Geldes zweifellos fließen würde, wenn die Investitionen nicht mehr zinsträchtig wären).
In dem Maße, wie das Geldkapital aus der Realwirtschaft in eine Art „Cyberwirtschaft“ des Geld- und Derivatehandels abdriftet, trägt es natürlich tendenziell auch zur Verarmung der Massen bei. Gleichzeitig entlastet es durch denselben Effekt – nämlich dadurch, dass es nicht produktiv verwendet wird – jedoch auch die Umwelt. Überhaupt müsste sich der Geldkapitalüberhang (und damit die Absorptionsanforderungen an den, d. h. im Ergebnis der Umfang des) Derivatemarkt(es) bei sinkender Population zukünftig noch gewaltig erhöhen.
Meine intuitiven Überlegungen (ursprünglich im Rahmen meiner Kritik an der von der Mainstream-Wirtschaftswissenschaft vorgeschlagenen – und letztlich auch durchgesetzten – teilweisen Umstellung der Rentenfinanzierung vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren entwickelt; vgl. in meiner Webseite „Rentenreich“ das Kapitel “Einige Indizien für Kapitalüberfluss ...“) müssten natürlich einer wissenschaftlichen Verifikation (bzw. ggf. Falsifikation) unterzogen werden. Allerdings ist fraglich, ob die Wirtschaftswissenschaft ein Interesse daran haben kann oder überhaupt in der Lage ist, die geniale Irrationalität des Marktes auf dieser Ebene nachzuweisen oder auch nur zu erforschen.
Im übrigen gibt es, was die umweltschonende Produktion angeht, aber auch in der Realwirtschaft Unternehmen, welche (fast) gänzlich ohne Ressourcenverbrauch auskommen.
Wie das Handelsblatt in dem Artikel vom 22.05.06 u. d. T. „Vodafone sieht Klassik im Kommen“ feststellt, „beläuft sich der Umsatz mit Klingeltönen fürs Handy in Deutschland mittlerweile auf eine dreistellige Millionenhöhe“.
Bleibt zu hoffen, dass uns die Textilwirtschaft eines Tages endlich Des Kaisers Neue Kleider verkauft. Dann verbraucht auch dieser Wirtschaftszweig keine Rohstoffe und Energien mehr.
(Vgl. zu dieser Thematik auch "Nur die totale Entfesselung des Kapitalismus rettet unsere Umwelt!" auf meiner Webseite "Drusenreich - Teil 4")
Nachtrag vom 31.07.06:
U. d. T. "Das Risiko der Rezession" gibt Udo Rettberg im Handelsblatt vom 31.07.06 u. a. einige Informationen zum Verhältnis von Derivate- zu Realwirtschaft:
"Längst hat die globale Integration der Finanzmärkte dazu geführt, dass sich die virtuelle Welt der Finanzen sehr weit von der realen Güterwirtschaft entfernt hat. Der Wert der an den Devisenmärkten abgewickelten Kontrakte hat das 42fache des weltweiten Handels erreicht. Die Realwirtschaft hat im Verhältnis zur Finanzwirtschaft also längst an Bedeutung verloren.
Nur wenige der an den eng verflochtenen globalen Finanzmärkten durchgeführten Transaktionen haben einen echten Bezug zur Realwirtschaft."
Nachtrag vom 10.08.06:
Nanu? Da gibt es ja noch ganz andere Cyberwirtschaften, von deren Existenz ich bisher gar nichts wusste? Vgl. Handelsblatt-Artikel vom 07.08.2006 "Die wunderbare Welt der virtuellen Ökonomie"!
Nachtrag vom 27.12.06:
Heute erfährt man im Handelsblatt-Artikel "Zertifikateanleger sind am Zug" beiläufig, wie der Zertifikatemarkt in Deutschland explodiert: "Allein 2006 wuchs das in Zertifikate investierte Geld um 30 Prozent auf mehr als 110 Mrd. Euro an" heißt es dort. Und: "Das weckt Begehrlichkeiten."
Vor allem aber wirft es Fragen auf: Wieso werden solche Summen an Geldkapital (und der Zertifikatemarkt ist ja nur ein kleiner Ausschnitt der Derivate- und sonstigen Finanzmärkte, die weitgehend ohne Bezug zur realen Wirtschaft existieren)gewissermaßen als Jetonkapital ins Finanzmarkt-Casino geschleppt, anstatt für Investitionen in der Realwirtschaft verwendet?
Während man gleichzeitig uns Arbeitnehmern erzählt, wir möchten uns doch bitte mit unseren Lohnforderungen zurückhalten, um nicht die Investitionsbereitschaft der Unternehmen zu gefährden?
Nachtrag vom 03.01.2007:
"Geld überschwemmt die Märkte" berichtet Marietta Kurm-Engels im Handelsblatt vom 03.01.2007. Und nennt eine ganze Reihe von erschreckenden Zahlen über das Wachstum der weltweiten Finanzmärkte, wobei sie diese Werte auch sinnvoll mit Daten zum (weitaus geringeren) BIP-Wachstum kontrastiert.
Aber Vorsicht, Frau Engels: Feind liest mit! Was Sie in ähnlicher Weise bereits am 11.08.2006 u. d. T.
"Liquiditätsschwemme bedroht die Finanzmärkte" im Handelsblatt geschrieben hatten, hat flugs seinen Weg auf die Webseiten der Linkspartei (hier: des MdB Werner Troost) gefunden!
Nachtrag 28.02.09:
Meine eher gefühlte Beschreibung der Geldversickerungsmaschinerie ("Diskurs über die Gravitation des Geldes ...") unterlegt der Blogger Heribert Genreith in seinem Eintrag "Die Mutter aller Blasen: Warum diese Krise keine normale Blase ist" vom 20.02.09 mit Fakten, Fakten, Fakten. Das ist (zwangsläufig, wenn man präzise sein will) sehr mathematisch und darum für mich in den Einzelheiten kaum wirklich verständlich, aber sein Fazit begreife auch ich: dass alles Geld früher oder später zu den Vermögenden durchsickert.
Die Zinsen scheinen mir bei seiner Berechnung freilich mit 7,5% und 10% recht hoch angesetzt. Insbesondere bei den Derivaten dürfte außerdem wegen der Hin- und Her-Handelei ein ziemlicher Anteil der Zinsen in Form von Löhnen, Gehältern, Boni (!) und sonstigen Kosten wieder dem Konsum zugeführt werden, also in der Realwirtschaft landen.
In abstrakterer Form, unter Verwendung variabler Annahmen (und für sogar mich, trotz mathematischer Unbelecktheit, auch einigermaßen nachvollziehbar), behandelt Genreith das 'Trickle-Down-Problem' auf seiner (auch sonst interessanten) Homepage auf der Seite "Wirtschaftskrisen".
Textstand vom 07.06.2023
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