Freitag, 25. Dezember 2009

Ziesemer ziseliert sich eine Theorie zur Ursachenverschleierung der Finanzkrise zurecht

Mein u. g. Leserkommentar zu dem Leitartikel "Komplexitätskrise: Wie viel Staat brauchen wir wirklich?" des Handelsblatt-Chefredakteurs Bernd Ziesemer vom 24.12.09, also von Heiligabend, wurde nicht veröffentlicht.
Den Grund kenne ich nicht, nehme aber nicht an, dass es an der Schärfe meiner Kritik liegt. [Pikanterweise ist sie noch schärfer als diejenige von marxistischer Seite; der Kommentar "Weihnachtsbotschaft der eigenen Art" vom 24.12.09 von Lutz Brangsch (auch hier veröffentlicht) ist zwar im Ergebnis noch radikaler als meine ("Die Krise wird in eine Legitimation der absoluten Herrschaft des Kapitals umgedeutet – denn Märkte können ja wohl kaum herrschen" schlussfolgert Brangsch), aber in sich recht matt, was insofern auch nicht verwundern kann, als die Kameraden auf der Linken alle Äußerungen und Vorgänge irgendwie in ihr Schablonensystem pressen müssen.]
Es könnte die Länge meiner Antwort gewesen sein doch vermute ich eher, dass Links in Leserkommentaren unzulässig sind.

Neulich in der ZEIT hatte ich das gleiche Problem mit einem recht kurzen Kommentar zu dem Artikel "Finanzpolitik. Sinnlose Schulden. Schwarz-Gelb verschenkt Geld – und schwächt ohne Not den Staat" von Marc Brost. Dort hatte ich zu einem meiner Blotts verlinkt, aber auch zu einem früheren Artikel vom Marc Brost vom 21.08.09 ("Staatsverschuldung. Billionen fressen Seele auf. Warum bloß fürchten sich die Deutschen so sehr vor hohen Staatsschulden?"), dessen Tenor mir mit seiner aktuellen Geißelung der Hornissenkoalition (die ich inhaltlich absolut teile) kompatibel zu sein schien.
Über die Gründe der mutmaßlichen Abneigung gegen Links in Leserkommentaren kann ich nur spekulieren. Es könnten geschäftliche sein (man will schließlich die Leser auf den eigenen Seiten halten) oder rechtliche Bedenken bezüglich der Verantwortlichkeit für eventuelle Verlinkungen zu Seiten mit rechtsverletzenden Inhalten.
Meine Reaktion wird allerdings ein Verzicht auf weitere Leserkommentare in der ZEIT und im Handelsblatt sein. Die Links sind für mich aus mehreren Gründen ein unverzichtbarer Bestandteil meiner Texte.
Zunächst stellen sie einen Service für den Leser (und auch, bei einem Wieder-Lesen, für mich selbst) dar. Man muss nicht lange nach einem Text googeln. Das ist zwar jetzt nicht mehr sonderlich arbeitsaufwändig, weil man sowohl beim Internet-Explorer von Microsoft als auch beim Firefox von Mozilla Worte oder ganze Textpassagen markieren und direkt in Google aufrufen kann; dennoch kommt man nicht unbedingt direkt zu dem gesuchten Text.
Es vereinfacht auch die Arbeit: man muss das eine oder nicht mehr erklären, es erklärt sich aus dem Link.
Und es zwingt zu Präzision, man kann nicht einfach daherreden im Stil von "irgendwo habe ich mal gelesen ...", sondern muss die Quelle exakt identifizieren.
Die Möglichkeit zur Linksetzung ist überhaupt ein Kern des Internet-Systems; ich kann es nicht akzeptieren, zum Verzicht darauf gezwungen zu werden.

Hier aber endlich mein Kommentartext; den hätte ich übrigens so oder so auch in meinem Blog veröffentlicht, weil mir die Auseinandersetzung mit dem Ziesemer-Text auch bei der Klärung eigener Anschauungen geholfen hat:


Lieber Herr Ziesemer,

die scharfe Kritik, die etwa meine Vorkommentatoren N peterbrown1946 (Nr. 1) und Axel Volker von Juterzenka (Nr. 2) an Ihrem Kommentar üben, erscheint auf den ersten Blick etwas unverständlich und unmotiviert. Gleichwohl halte ich sie für berechtigt.

Schon in der Überschrift senden Sie widersprüchliche Signale aus:
"Komplexitätskrise" suggeriert, dass Sie die übergroße Komplexität der Finanzprodukte als Krisenursache verorten, und als Rezept eine Reduktion der Komplexität. Sie sehen sie aber wohl nicht in dieser Weise, denn wenn Sie sagen "Am besten kann man die Finanzkrise und ihre unmittelbaren Folgen als erste Komplexitätskrise der postindustriellen Gesellschaft beschreiben" dann erweitern Sie den Blickwinkel auf die Gesamtgesellschaft. Das impliziert sowohl eine Verschleierung als auch eine Resignation: Nicht die Derivatewirtschaft ist das Problem; vielmehr ist das Leben an sich halt so komplex, kann man leider nix machen.
Verdrängt wird dabei z. B., dass genau diese Einstellung den US-Kongress (massiv vom Deregulierer Alan Greenspan belobbysiert) dazu geführt hat, Restriktionen moderner Finanz"produkte" aufzuheben und diese von jedweder Regulierung und Überwachung auszunehmen. Auch ich sehe zwar darin nicht die Letztursache der Krise, aber es hat sehr geholfen die Finanzmärkte zu destabilisieren.

Und definitiv wollen Sie Komplexität nicht reduzieren. Das lässt sich aus Ihrem vorliegenden Kommentar erschließen; das ließe sich auch in einem einfachen Test belegen.
Sie kennen zweifellos den berühmten Satz von Gerhard Mackenroth zur Finanzierung der Altersversorgung (und werden deren Richtigkeit auch kaum abstreiten):
Nun gilt der einfache und klare Satz, daß aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß. Es gibt gar keine andere Quelle und hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der Sozialaufwand fließen könnte, es gibt keine Ansammlung von Periode zu Periode, kein "Sparen" im privatwirtschaftlichen Sinne, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwand.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Mackenroth-These)
Diesen Sachverhalt bildet das Umlageverfahren zur Rentenfinanzierung direkt, transparent und ohne unnötige Komplexität ab.
Wetten dass Sie dennoch das Kapitaldeckungsverfahren bevorzugen? Obwohl die Produkte für die Anleger intransparent sind, zumindest aber einen hohen Informationskostenaufwand erfordern. Aber wenn die privaten Drückerkolonnen Kasse machen können, kann es gar nicht genug Komplexität geben.
Dabei die von den Professores Sinn et al. z. B. in ihrem Gutachten "Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung" (1998) zusammenfantasierte Steigerung der Wirtschaftsleistung durch KDV-induzierte Investitionssteigerungen spätestens durch die Finanzkrise empirisch widerlegt: Unsere Riester-Renten-Groschen sind zu Granit-Arbeitsplatten in Luxusküchen amerikanischer Einfamilienhäuser mutiert und keineswegs zu neuen Arbeitsplätzen in Deutschland (und auch nicht den USA!) geworden.
[In Wirklichkeit hat sich der Mainstream der deutschen Ökonomen natürlich lediglich als Transportameisen-Kolonne von Memen aus der US-Ökonomiediskussion betätigt und diese Aktivität lediglich pseudo-rationalisiert.]
Aber gegen solche Lehren aus der sog. Finanzkrise haben Sie sich wahrscheinlich mental gut immunisiert; wie ich z. B. aus Ihrer Lektüre-Empfehlung schließe, möchten Sie das alles gar so genau wissen. Prof. Kirchhof habe ich in der Sloterdijk-Steuerdebatte als einen Menschen guten Willens schätzen gelernt ("Die Steuer ist ein Preis der Freiheit" - http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~EC80A1D66914648E6AFF6710426DCFCF9~ATpl~Ecommon~Sspezial.html), aber wenn ich nach Erklärungen der gegenwärtigen (2.) Weltwirtschaftskrise suche, dann greife ich sicherlich nicht zu dem von Ihnen empfohlenen Buch mit einem Titel "Das Maß der Gerechtigkeit". Kein Wunder, dass ich am Handelsblatt schon seit längerem den Biss vermisse (http://beltwild.blogspot.com/2009/06/handelsblatt-financial-times.html), wenn der Chefredakteur seine Leser mit Grimms Märchen einzulullen versucht!

Da überrascht es dann auch nicht mehr, wenn Sie nicht einmal die realwirtschaftliche Funktion der hypertrophierten Finanzwirtschaft hinterfragen, obwohl doch Ihre eigene Zeitung kürzlich (über Großbritannien) berichtete: "Industrie verliert doppelt so viele Jobs wie Finanzbranche". (http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur-nachrichten/grossbritannien-industrie-verliert-doppelt-so-viele-jobs-wie-finanzbranche;2501682)
Man muss die Sicht von International Banking Professor Richard Werner ("Ein untragbares System" - http://www.ftd.de/unternehmen/finanzdienstleister/:interview-mit-richard-werner-ein-untragbares-system/50042398.html) nicht unbesehen übernehmen, aber eine mögliche Dysfunktionalität der Finanzmärkte sollte man zumindest thematisieren, wie das Ihr "Kollege" Thomas Fricke in der FTD tut (z. B. u. d. T. "Warum die Finanzbranche schrumpfen muss" - http://www.ftd.de/politik/international/:kolumne-thomas-fricke-warum-die-finanzbranche-schrumpfen-muss/50039822.html).
Wenn man etwa in einem aktuellen Bericht über das Treiben der US-Banken liest:
"Kredite ohne bankübliche Sicherheiten (Cov Lite), Kreditkonstrukte ohne laufende Zinszahlungen, die erst am Ende der Laufzeit mit exorbitanten Aufschlägen in bar oder neuen Schuldenpapieren zurückgezahlt werden müssen (Pik Toggle) oder die systematische Überschuldung von Unternehmen, um Dividenden an die Investoren privater Beteiligungsgesellschaften auszahlen zu können (Dividend Recap), sind wieder an der Tagesordnung" ("Sorgen um Überhitzung des Kreditmarkts wachsen" - http://www.ftd.de/finanzen/maerkte/anleihen-devisen/:gefaehrliches-comeback-sorgen-um-ueberhitzung-des-kreditmarkts-wachsen/50045371.html), dann ist das eine Information, die sich nicht mit einem würdevollen "Maß der Gerechtigkeit" exorzieren lässt.
Freilich ist Ihr Artikel (und die relative Zahmheit des Handelsblattes bei Analyse und Kritik der Krisenerscheinungen) selbst das beste Beispiel für ein Symptom, dass Sie selbst unserem Lande zutreffend attestieren: das Arrière-Garde-Syndrom. Auch beim Welt-Wirtschaftsdenken marschiert Deutschland leider an der Spitze - der geistigen Nachhut.
(Übrigens habe ich als langjähriger Leser eine gewisse emotionale Bindung an das HB so dass meine Kritik an der Zahmheit Ihrer Zeitung - die freilich ungehört verhallen wird - durchaus freundschaftlich gemeint ist.)

Doch zurück zu meiner Ausgangsbemerkung widersprüchlicher Signale Ihrer Überschrift(en). Wenn es im Anschluss an "Komplexitätskrise" heißt: "Wie viel Staat brauchen wir wirklich?" dann wird klar, dass sich die Fragestellung für Sie auf die Doofheit der Staatsbeamten reduziert, welche die Weisen der Finanzbranche nur machen lassen sollen.

Gewiss fordern Sie "sehr wenige, aber harte Regeln" für die Banken. Aber unabhängig davon, ob es Ihnen ernst damit ist, oder ob das als Desinformation zu Gunsten der Banken gedacht war: im Ergebnis wird es sich wie eine solche auswirken. Zum einen bleiben Sie vage, zum anderen wird jeder Leser es schon von der Bauchlogik her als widersprüchlich empfinden, wenn Sie eine komplexen Welt mit einfachen Regeln steuer wollen: angesichts eben dieser Komplexität können solche Regeln ja nur grobschlächtig sein und dadurch schon per se unwirksam oder kontraproduktiv.
(Die Bankenbranche selbst wird letztlich auch nicht für einfache, sondern gegen harte Regeln optieren, und sie wird das über ein möglichst komplexes Regelwerk durchsetzen, weil sie nur darin die Laxheit vor der Öffentlichkeit verstecken kann. Komplexität hat noch nie gestört, wenn man daran, bzw. in einem solchen Umfeld, prächtig verdienen kann - wie die Investmentbanken es ja auch aktuell wieder tun.)

In Wirklichkeit ist aber die Krisenursachen gar nicht so komplex, wie Sie und viele andere uns glauben machen wollen (und sich vielleicht auch selbst einreden). Und noch weniger ist die aktuelle Weltfinanzkrise und Weltwirtschaftskrise einmalig. (Mehr darüber vermutlich - ich habe es nicht gelesen - in dem Buch "Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen" von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff - http://www.amazon.de/Dieses-Mal-ist-alles-anders/dp/3898795640/ref=sr_1_2?ie=UTF8&s=books&qid=1261327583&sr=8-2-spell; engl. OT: "This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly".)
[Erg. 28.12.09: Wahrscheinlich eine Art Rohentwurf zu diesem Buch ist online gratis verfügbar: das Arbeitspapier "This Time is Different: A Panoramic View of Eight Centuries of Financial Crises" vom April 2008. (124 S.; hier eine Kurzversion mit 59 S.) Daraus die Zusammenfassung (abstract):
"This paper offers a “panoramic” analysis of the history of financial crises dating from England’s fourteenth-century default to the current United States sub-prime financial crisis. Our study is based on a new dataset that spans all regions. It incorporates a number of important credit episodes seldom covered in the literature, including for example, defaults and restructurings in India and China. As the first paper employing this data, our aim is to illustrate some of the broad insights that can be gleaned from such a sweeping historical database. We find that serial default is a nearly universal phenomenon as countries struggle to transform themselves from emerging markets to advanced economies. Major default episodes are typically spaced some years (or decades) apart, creating an illusion that “this time is different” among policymakers and investors. A recent example of the “this time is different” syndrome is the false belief that domestic debt is a novel feature of the modern financial landscape. We also confirm that crises frequently emanate from the financial centers with transmission through interest rate shocks and commodity price collapses. Thus, the recent US sub-prime financial crisis is hardly unique. Our data also documents other crises that often accompany default: including inflation, exchange rate crashes, banking crises, and currency debasements."
Ein weiteres Papier dieses Autorenteams befasst sich mit der internen Staatsverschuldung: "The Forgotten History of Domestic Debt" (49 S.). Einleitende Zusammenfassung:
"There is a rich scholarly literature on sovereign default on external debt. Comparatively little is known about sovereign default on domestic debt. Even today, cross-country data on domestic public debt remains curiously exotic, particularly prior to the 1980s. We have filled this gap in the literature by compiling a database on central government public debt (external and domestic). The data span 1914 to 2007 for most countries, reaching back into the nineteenth century for many. Our findings on debt sustainability, sovereign defaults, the temptation to inflate, and the hierarchy of creditors only scratch the surface of what the domestic public debt data can reveal. First, domestic debt is big—for the 64 countries for which we have long time series, domestic debt accounts for almost twothirds of total public debt. For most of the sample, this debt carries a market interest rate (except for the financial repression era between WWII and financial liberalization). Second, the data go a long way toward explaining the puzzle of why countries so often default on their external debts at seemingly low debt thresholds. Third, domestic debt has largely been ignored in the vast empirical work on inflation. In fact, domestic debt (a significant portion of which is long term and non-indexed) is often much larger than the monetary base in the run-up to high-inflation episodes. Last, the widely held view that domestic residents are strictly junior to external creditors does not find broad support."]

Lassen wir die Asienkrise, Japankrise usw. mal beiseite und gehen zurück auf 1929. Das Ausgangsszenario war damals dasselbe wie heute: überschuldete Wirtschaftssubjekte. Egal, ob die irgendwann objektiv die Kredite nicht mehr tilgen können, oder ob der Finanzmarkt eine solche Unfähigkeit schon vorher antizipiert: an irgendeinem Punkt kracht es.
Den Zeitgenossen war es 1929 durchaus bewusst, dass die Überschuldung die tiefere Krisenursache war. Sie haben aber auch schnell wieder davon abgelenkt und die Diskussion auf technische Dimension der Übertragungskanäle reduziert. (Frühes Beispiel ist Irving Fishers "Debt Deflation Theory of Great Depressions", wo die Überschuldung am Anfang steht, aber irgendwie einfach unwichtig wird, wenn nur die Zentralbank kräftig Geld ins System pumpt.
Wie sich die Diskussion später in den Wirtschaftswissenschaften hübsch zerfasert hat, kann man (Stand 1993) z. B. in der Zusammenfassung "Financial Factors in the Great Depression" (http://www.wissensnavigator.com/interface1/trading/documents/FinancialFactorsGreatDepression.pdf) von Charles W. Calomiris nachlesen. Das Ausgangsszenario einer Schuldenkrise (wie es für unsere Krise z. B. Prof. von der Vring u. d. T. "Die Subprime-Krise" http://wcco0y847.homepage.t-online.de/html/subprime-krise.html anschaulich-populär beschreibt) ist der Wissenschaft völlig aus den Augen geraten.
Über die Gründe brauchen wir nicht zu rätseln: die Wissenschaftler freuen sich über ihre kleinen Entdeckungen von Zusammenhängen; an den großen Kontext gehen sie nicht ran, weil er einerseits schwer mit wissenschaftlicher Präzision darzustellen ist und andererseits (auch mir selbst) kaum veränderbar erscheint.

Die marxistische Lösung ist, da haben Sie Recht, dauerhaft diskreditiert. Keynes, den Sie nicht mögen, ist jedoch keineswegs widerlegt. Die aktuelle Finanzkrise hat einen Zusammenhang eindrucksvoll bestätigt, den er wissenschaftlich bearbeitet hat, den sich aber schon das Alltagswissen unschwer zusammenreimen kann: Auf Dauer kann es nicht funktionieren, wenn die einen (Privaten, meinetwegen aber auch Pensionsfonds) mit Geldgeschäften immer mehr Kapital aus der Realwirtschaft herausziehen und dieses nur noch auf dem Kreditwege dorthin zurückkehren will und kann.

Die Verteilungsfrage ist der Kern der aktuellen Krise; diese Einsicht fürchten Sie wie der Teufel das Weihwasser und baden derweil in Häme gegenüber der diskreditierten Linken und allen anderen, die zwar ebenfalls bis zu dieser Einsicht gelangt sind, sich aber schmerzlich (und, im Gegensatz zu Ihnen: intellektuell redlich) eingestehen, dass sie keine Lösung für dieses Problem haben.


Auf der mehr technischen Ebene wundere ich mich ein wenig, wie sehr sich die Debatte auf Regulierungen des Finanzmarktes (Derivate usw.) versteift. Da mag zwar Handlungsbedarf bestehen; indes halte ich dafür, dass die Buchungsregeln ein wesentliches Element der Finanzkrise waren. Mir scheint, dass sie es den Finanzintermediären ermöglicht haben (und noch ermöglichen), Geldschöpfung auch außerhalb der Kreditgewährung an die Realwirtschaft zu betreiben. Und dass sie, auf welchen Wegen auch immer, Scheingewinne ermöglichen und dadurch falsche Anreize setzen.
Ohne dass ich das im Detail belegen könnte habe ich den Eindruck, dass die mittlerweile mehr oder weniger auch bei uns geltenden angelsächischen Buchhaltungsregeln auf "schnelle Beute" ausgelegt sind und dadurch Verhaltensweisen in der Finanzwirtschaft ermutigen, die sich verheerend auf die Realwirtschaft auswirken. (Außerdem mögen sie auch direkt negative Konsequenzen für die Realwirtschaft haben; das kann ich mangels Fachkenntnis nicht beurteilen.)
Diese Aspekte müssten m. E. (zusätzlich zu den bereits vielfach erörterten Fragen wie z. B. Regulierung und Kapitalverkehrssteuer - Tobin Tax - usw.) in der öffentlichen Debatte einen breiteren Raum bekommen.
[Erg. 28.12.09: Eine scharfe Kritik an der unkritischen Übernahme der US-Regeln am 27.12.09 in der FTD-Serie "Das Kapital": "Die USA und ihre folgsamen Schüler":
"Auf's Vermarkten leider auch ihrer Finanz- und Rechnungslegungsmodelle verstehen sich die Amerikaner gut. Die Europäer folgen oft blind, obwohl US-Firmen sich der reinen Lehre oft widersetzen."]


Nachträge 26.12.09

Der Zufall führt mich zu einem Zitat, das vorzüglich auf den Ziesemer-Kommentar passt. Es stammt von Peter Wahl und ist einem Papier (das ich ansonsten aus Zeitmangel nicht gelesen habe) der Heinrich-Böll-Stiftung (die der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahe steht) entnommen (Reihe "Global Issue Papers", April 2008): "Regiert Geld die Welt? Zur Rolle der Internationalen Finanzmärkte für
Globalisierung, öffentliche Finanzen und Entwicklungsfinanzierung" (meine Hervorhebungen):
"Dabei sollte man sich nicht davon abschrecken lassen, dass das Thema von einer Aura umgeben ist. Finanzfragen erscheinen vielen als besonders schwierig und komplex und nur Eingeweihten zugänglich. Und so mancher Experte verstärkt diesen Eindruck. Sicher, die Zusammenhänge auf den Finanzmärkten sind oft nicht einfach. Aber der Satz von der Komplexität stimmt in gleicher Weise auch für andere Themen, ob es sich um Welthandel, Klimaveränderung, Soziales, kulturelle Vielfalt oder was auch immer handelt. Die Zivilgesellschaft hat sich bei diesen komplexen Themen qualifizierte (Gegen)-Expertise angeeignet, Politikfähigkeit entwickelt und erfolgreiche Kampagnen durchgeführt. Das Finanzmarktthema ist also auch nicht komplizierter als andere. In der Rede von der Komplexität ist oft auch ein Schuss von Herrschaftsanspruch enthalten. Der große französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in diesem Zusammenhang immer von den „Hohepriestern des Neoliberalismus“ gesprochen. So wie der Priester vorgibt, über Geheimwissen zu verfügen, so erwecken manche Prediger des Neoliberalismus den Eindruck, nur sie wüssten wie die Sache funktioniert. Eine uralte Herrschaftstechnik, von der man sich nicht beeindrucken lassen sollte. Wenn die Banker und Fondsmanager es verstehen, kann die Zivilgesellschaft es auch verstehen. Hinzu kommt: sobald man auf die axiomatischen Grundlagen des Systems stößt – etwa die „unsichtbare Hand des Marktes“ - werden Parallelen zum Numinosen und Irrationalen augenfällig. Insofern ist der Vergleich mit Hohepriestern nicht nur polemisch. In jeder anderen Wissenschaft würde man ausgelacht, wenn man mit Erzählungen von einer „unsichtbaren Hand“ ankäme. [Richtig, aber da würde man es Regelkreis oder Selbstregulierung o. ä. nennen, was für unser heutiges Systemdenken nichts anderes ist als für den alten Adam -Smith- die "unsichtbare Hand"!] Vor allem aber ist die grundlegende Triebkraft des Systems alles andere als komplex: es ist das altbekannte Prinzip der Profitmaximierung, das als Hauptmotiv und Motor auch die Finanzmärkte antreibt. Mitunter exzessiver und aggressiver als auf anderen Märkten. Als alleinige Grundlage für ein Wirtschaften auf der Höhe der komplexen Probleme des 21. Jahrhunderts ist die Profitmaximierung aber hoffnungslos unterkomplex."
Etwas skeptisch bin ich gleichwohl gegenüber frohgemuten Demokratisierungsrezepten wie z. B. auch hier bei Wahl:
"Statt der ominösen unsichtbaren Hand müssen die Menschen ihrer selbst bewusst über ihr Schicksal bestimmen. Demokratie darf nicht vor den Finanzmärkten Halt machen. Die destruktiven Dynamiken entfesselter Märkte muss von Vernunft in Bahnen gesteuert werden, die das Potential der Finanzmärkte so nutzt, dass es, dem Wohlstand der Nationen - also allen - zugute kommt und nicht nur dem Reichtum der Reichen und Superreichen. Regiert das Geld die Welt? Bisher sicher zu einem beträchtlichen Teil. Es kommt darauf an, dass die Menschen die Welt regieren. Deshalb brauchen wir auch eine demokratische Regulierung der Finanzmärkte."

Eine Krisenperspektive aus der Prä-Krisen-Zeit bietet vermutlich das (marxistische?) Theorieheft PROKLA 134 aus dem Jahr 2004 u. d. T. "Die kommende Deflationskrise?".

Die Kernfrage zur Krise könnte man vielleicht so formulieren:
"Wie hat der Rentner seinen Tod überlebt", oder auf Englisch: "What killed Keynes' euthanasia of the rentier"? Welche Mechanismen erlauben es den Kapitalbesitzern, trotz eines gigantischen Kapitalüberflusses (im Verhältnis zur tatsächlichen Absorptionsfähigkeit der Realwirtschaft) noch heute gewaltige Erträge aus ihren Anlagen zu generieren, obwohl doch die Renditen bei vollkommenen Marktmechanismen in gleicher Weise am Boden liegen müssten wie die Milchpreise der Bauern?


Nachtrag 28.12.2009

Wer wissen möchte, was die intellektuelle Avantgarde (und nicht der Märchenonkel an den Ufern der Düssel) über die Finanzkrise denkt, sollte unbedingt die Diskussion (vom 30.04.2009) "The Crisis and How to Deal with It" mit Bill Bradley, Niall Ferguson, Paul Krugman, Nouriel Roubini ["Dr. Doom"], George Soros und Robin Wells" lesen. Ich beschränke mich hier darauf, einen einzigen Absatz zu zitieren. Der stammt von Nouriel Roubini und gehört für mich zu dem Weitsichtigsten, was überhaupt irgend jemand im Zusammenhang mit der Finanzkrise gesagt hat (meine Hervorhebung):
"However, fiscal policy cannot resolve problems of credit, and it is not without cost. Over the next few years it's going to add about $9 trillion to the US public debt. Niall Ferguson said it's the end of the age of leverage. It's not really. There is not deleveraging. We have all the liabilities of the household sector, of the banks and financial institutions, of the corporate sectors; and now we've decided to socialize these bad debts and to put them on the balance sheet of the government. That's why the public debt is rising. Instead, when you have an excessive debt problem, you have to convert such debt into equity. That's what you do with corporate restructuring—it converts unsecured debt into equity. That's what you should do with the banks: induce the unsecured creditors to convert their claims into equity. You could do the same thing with the housing market. But we're not doing the debt-into-equity conversion. What we're doing is piling public debt on top of private debt to socialize the losses; and at some point the back of some governments' balance sheet is going to break, and if that happens, it's going to be a disaster. So we need fiscal stimulus in the short run, but we have to worry about the long-run fiscal sustainability, too."
Mit anderen Worten: It's the overindebtedness, stupid!




Textstand vom 28.12.2009. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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