Samstag, 7. August 2010

Loveparade-Massenunglück: Eine Brücke zum Schuldverständnis

Eine Brücke, deren Tragkraft auf 2 t ausgelegt ist, kracht mit tödlicher Sicherheit zusammen, wenn ein 10-Tonner drüber donnert.

Die Kombination von Zu- und Abgang bei der Duisburger Loveparade hatte nicht mit der gleichen physikalischen Zwangsläufigkeit den Tod zahlreicher Menschen durch ein Erdrücktwerden (oder Zertretenwerden) zur Folge.
Es hätte auch alles gut gehen können, wenn nicht die Schleusen am Westtunnel zur Unzeit wieder geöffnet worden wären, die kleine Treppe gesperrt geblieben wäre, die Polizei die Rampe nicht oder nicht unten abgesperrt hätte, die Rampe nicht teilweise an der Seite vollgestellt bzw. abgesperrt gewesen wäre, die Floats nicht so nahe am Rampenaufgang gefahren wären, die Gehenden früher über die 2. Rampe abgeleitet worden wären, Zu- und Abgang auf der Rampe selbst durch Bauzäune getrennt gewesen wäre, genügend Ordner eingesetzt worden wären ... usw..

Welchen Anteil jedes einzelne der o. a. Elemente oder andere, hier noch gar nicht bedachte Umstände an der Katastrophe hatte(n), wird sich niemals mit auch nur einiger Genauigkeit aufklären lassen.

Noch weniger lässt sich mit hinreichender Sicherheit sagen, was passiert wäre, wenn bestimmte katastrophenauslösende Elemente, die gerade zur Verhinderung von Unglücken gedacht waren, weggefallen wären:
- Wären ohne Polizeikette die Kommenden und Gehenden aufeinander geprallt, mit weitaus schlimmeren Folgen?
- Wäre es ohne die Schleusenöffnung am Westtunneleingang dort zu einem Crowd Disaster gekommen?
- Wäre, wenn nicht die Seiten durch Bauzäune abgesperrt gewesen wären, die ganze Rampe voller Menschen gewesen, und hätten die sich dann an irgendeiner oder mehreren Stellen tödlich geballt?

Die Fragen (bei denen manche eine größere, manche nur eine geringe Wahrscheinlichkeit haben) lassen sich fortsetzen; klar ist jedenfalls, dass es niemals eine absolute, oder auch nur eine annähernd befriedigende, Klarheit geben wird.

Andererseits dürfen wir es m. E. aber für (auch strafrechtlich) hinreichend gewiss halten, dass es bei einer Trennung von Ein- und Ausgang nicht zu dieser Katastrophe gekommen wäre. [Wobei man allerdings als Ausgang keinesfalls die 2. Rampe hätte benutzen dürfen: die ist enger, gewunden, und mündet in den Westtunnel, hätte also wieder Kommende und Gehende gegeneinander geführt.]

Die Gerichte werden sich mit Schuldzuweisungen etwas schwerer tun als ich. Dennoch bin ich sicher, dass es zu Verurteilungen (wenn auch ganz konkret vermutlich nur Bewährungsstrafen) kommen wird.

Wahrscheinlich werden diejenigen verurteilt, die ggf. eigentlich in der Planung vorgesehene Maßnahmen nicht umgesetzt (Trennung Zu- und Abgänger) oder auf andere Weise (Vollstellen mit Fahrzeugen ...) die Verhältnisse gegenüber der geplanten und genehmigten Konstellation verändert haben. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass auch die für die Planung und Genehmigung Verantwortlichen nicht ungeschoren davonkommen werden.

Unsere Gesellschaft kann gar nicht darauf verzichten, diejenigen zu verurteilen, die für die dilettantische Besucherlenkung mit hochkritischen Problemzonen verantwortlich waren. Nicht wegen Rache oder Genugtuung für die Opfer (obwohl diese eine Verurteilung natürlich als Genugtuung empfinden werden, und als einen Schlag ins Gesicht, wenn die Strafrichter niemanden belangen würden.) Noch wichtiger für die Gesellschaft ist jedoch die Signalfunktion und damit die präventive Wirkung einer strafrechtlichen Verurteilung der unmittelbar Verantwortlichen.
Die Opfer werden sich natürlich wünschen, dass möglichst hochrangige Beamte und/oder Politiker verurteilt werden; ob die Justiz diesem Verlangen widersteht, oder – wie vielleicht beim Mannesmann-Urteil? - mit dem Mainstream der öffentlichen Meinung schwimmt, bleibt abzuwarten. Ich will auch keineswegs ausschließen, dass auf der Führungsebene Fehler gemacht wurden bzw. Verantwortungen liegen, die zu einer Verurteilung führen können. Nur muss zunächst einmal exakt identifiziert werden, wer welche Entscheidungen a) vorzubereiten und b) zu treffen hatte.

Wesentlich ist (auf der gesellschaftlichen Ebene; juristisch läuft das natürlich unter anderen Begrifflichkeiten und mit anderen Begründungen ab), dass
- das Verantwortungsbewusstsein (und das Rückgrat) auf der Führungs- wie aber insbesondere auch auf der fachlichen Ebene gestärkt werden, zugleich aber
- nicht jegliche Eigeninitiative, (verantwortliche) Souveränität gegenüber Vorschriften und vertretbare Risikofreude abgewürgt werden.


Nehmen wir uns zur Bewertung der Verantwortlichkeiten und des Verschuldensgrades noch einmal ein (anderes) Brücken-Beispiel vor: eine Brücke die gesperrt ist, weil die Geländer fehlen (überhaupt erst noch anzubringen oder in Reparatur sind). Weil auf der Seite des einen Brückenkopfes, in der dicht bebauten Altstadt, gerade ein Volksfest gefeiert wird, hat man vorsorglich auf dieser Seite nicht nur Verbotsschilder und Sperren aufgestellt, sondern auch einige Polizisten die verhindern sollen, dass vielleicht Festgäste im besoffenen (oder mit vollgekifftem) Kopf auf der Brücke herumturnen.
Plötzlich bricht ein Feuer aus: Hohe Flammen lodern, auch vom Brückenkopf sichtbar, in der Altstadt. Die Menschen drängen sich zur Brücke hin. Das Feuer scheint immer heftiger zu werden; bewegt es sich nicht sogar zur Brücke hin?
Zwar gibt es auch auf der Altstadtseite eine Uferstraße, aber die ist sehr schmal. Der Kommandierende der Brückenwache befürchtet, dass die in der Altstadt versammelten Massen sich auf diese Weise nicht schnell genug vor dem Brand retten können: dringen nicht da und dort schon Rauchwolken auf die Uferstraße vor? Trotz striktem Verbot gibt er also die Brücke frei. Viele Menschen kommen heil rüber, einige stürzen aber in die Schlucht und sind tot. Nach einer halben Stunde sind die Flammen verschwunden, es qualmt nur noch, die Feuerwehr hat alles unter Kontrolle, denjenigen Menschen, welche die Uferstraße gewählt haben, ist nichts passiert und man darf annehmen, dass auch dann nichts passiert wäre, wenn die Brücke weiterhin gesperrt geblieben wäre und die Flüchtenden sämtlich die Uferstraße hätten benutzen müssen.

Man wird darüber streiten (und die Angehörigen der Abgestürzten werden es anders sehen), aber aus meiner Sicht kann man dem Wachhabenden KEINEN Schuldvorwurf machen, weder moralisch noch juristisch.
Es hätte ja auch ganz anders kommen können; aus seiner Sicht und an seinem damaligen Platz durfte er sein Handeln für vernünftig (und mutig) halten. Als couragiert würde alle Welt im Nachhinein die Brückenfreigabe ja auch loben, wenn man die Brandentwicklung in meiner o. a. Erzählung ein wenig variiert: Die Uferstraße war an ihrem Ausgang durch brennende Popcornbuden versperrt, verzweifelte Menschen sprangen vom Straßenrand in die Schlucht / wurden von den Nachrückenden in die Schlucht abgedrängt ... .

Mit meiner Schilderung des Verhaltens der Polizisten an der Brücke hatte ich keine Analogiebildung zur Polizeisperre auf der Rampe am Duisburger Güterbahnhof im Sinn. Vielmehr wollte ich sie, um die Frage der Verantwortlichkeiten beispielhaft zu beleuchten, mit einer anderen fiktiven Lage vergleichen.


Die Stadt feiert 3000jähriges Jubiläum. Eine Vorgängerbrücke an derselben Stelle wie die jetzt gesperrte wurde bei der Gründung von Karl dem Großen (Romulus und Remus oder wem auch immer) errichtet und war überhaupt die Grundlage für die Stadtgründung, denn vorher waren die Kaufleute an einer anderen Stelle über den Fluss gezogen. Oder Kaiser Konstantin hat hier mit seinem Heer den Sieg für das Christentum errungen oder was auch immer: jedenfalls hat die Brücke eine außerordentlich prominente Funktion in der Stadt-, Landes- oder gar Weltgeschichte (wie z B. die Milvische Brücke in Rom, die Karlsbrücke in Prag usw.).
Deshalb ist geplant, sie für einen Umzug zu öffnen, der, wenn er irgendwie die Geschichte der Stadt abbilden will, über gar keine andere Brücke als eben über diese führen kann.

Staatsgäste aus dem In- und Ausland haben sich für das Spektakel angekündigt. Höhepunkt ist ein Feuerwerk, das von den Wagen auf der Brücke eröffnet wird. Für die Sicherheit der Besucher hat man auch auf der Brücke gesorgt. Die Brücke ist breit; Bauzäune, auf jeder Seite 2 m nach innen gezogen, ersetzen das fehlende Brückengeländer. Die Zugangsstraße aus der Altstadt, wo der Zug herkommen wird, ist schmaler als die Brücke und auch schmaler als die innerhalb der Bauzäune verbleibende Passage. Ein übermäßiges Gedränge auf der Brücke ist also nicht zu befürchten.

Soeben hat (z. B.) der „Turmwagen“, mit einer Nachbildung der Stammbildung des Stadtgründers, die Brücke erreicht. Plötzlich erschüttert ein leichter Erdbebenstoß die Stadt und die Brücke. Nicht schwerer als der, den man vor 20 Jahren schon mal hatte; die Stadt liegt ja auch nicht in einer Erdbebenzone. Sachschäden waren damals und sind jetzt nicht zu beklagen; nur der Pappmachéeturm auf dem Hauptmotivwagen des Festzuges war wohl nicht richtig zusammengeklebt oder befestigt und beginnt bedrohlich zu wackeln. Ob er umkippt oder nicht, überlasse ich der Entscheidung meiner Leserinnen und Leser. Sofern Menschen von den umstürzenden Aufbauten erschlagen werden, werden sich dafür diejenigen verantworten müssen, die beim Zusammenkleben oder bei der Anbringung auf dem Wagen geschludert haben: die Fa. Festwagenbau nämlich, welche den für solche Dimensionen ungeeigneten „Billikleb“ verwendet hatte. Der hatte zwar die Schwellköppe der Politiker auf den Karnevalswagen bislang immer zusammengehalten. Aber nach den technischen Angaben hätte er eigentlich nur für Verbraucheranwendungen benutzt werden dürfen, und die Scherfestigkeit war sehr begrenzt.

Für meine Zwecke reicht es aus, dass schon das Wackeln der Türme die Menschen zu beiden Seiten des Zugwagens in Panik geraten lässt und sie mit ohne Rücksicht auf andere dem drohenden Umsturz zu entkommen suchen. Dabei pressen sie die äußeren Menschenreihen gegen die Bauzäune, die stürzen um, und schon werden die ersten über den geländerlosen Brückenrand in die Felsenschlucht geschoben.

Diese Geschichte habe ich nun in der Tat als Parallele zur Loveparade-Massenunglück konstruiert. Dabei habe ich aber die Gewichtungen noch zu Gunsten der Stadtverwaltung verschoben:
- Das Motiv für eine Benutzung der Brücke ist stärker (historische Bedeutung, Staatsgäste) und
- Die Vorhersehbarkeit einer Gefahr ist weitaus geringer. Wer hätte aus seiner Erfahrung mit so etwas rechnen können, dass a) überhaupt ein Erdbebenstoß kommt, b) just zu dieser Zeit und dass c) die Aufbauten eines Motivwagens umstürzen oder umzustürzen drohen?

Trotz alledem würde ich die Entscheidung, eine geländerlose Brücke für einen Festzug freizugeben, als vermeidbaren Fehler, ein fahrlässiges Handeln der Verwaltung. Sie hat es nicht nur zugelassen, dass sich die Menschen in diese Gefahrensituation begeben, sondern sie mit dem Festzug geradezu dahin gelockt. Im früheren Beispiel der Feuersbrunst die Stadtverwaltung übervorsichtig: eine Polizeiwache hätte sie m. E. nicht aufstellen müssen; wer sich über den Bauzaun begibt und dann durch einen Sturz von der Brücke umkommt, ist selbst daran Schuld (auch wenn bei uns – und noch mehr in den USA - die Neigung groß ist, ein Verschulden bei anderen zu suchen und dadurch Kasse zu machen.).

Gut möglich zwar, dass auch mit Geländer Menschen umgekommen wären: am Geländer zerquetscht oder drüber weg in den Abgrund geschoben.
Aber auf eine Brücke ohne Geländer lässt eine verantwortungsbewusst handelnde Verwaltung keine Leute laufen, so etwas ist sozusagen ein „Kunstfehler“. Außer natürlich in einer Notsituation - wie ich sie im ersten Beispiel (Feuersbrunst in der engen Altstadt) entworfen habe.


Für Duisburg hat die Wegführung der Festbesucher den Rahmen gesetzt, innerhalb dessen es zu dem Massenunglück zwar nicht kommen MUSSTE (es hätte ja auch alles gutgehen können), wodurch aber die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe aber enorm erhöht wurde. Gibt es überhaupt irgend eine Veranstaltung mit einer Teilnehmerzahl im 6-stelligen oder selbst nur im 5-stelligen Bereich, bei der
a) nur ein einziger Zugang besteht, dieser
b) zugleich als Abgang dient und
c) von vornherein erwartet wird, dass gleichzeitig Besucher kommen und gehen - durch eben dieses einzige Nadelöhr?
Ich bezweifle, dass man ein Beispiel finden wird, wo auch nur die Situation a) gegeben ist, geschweige denn die Lage b) oder gar c).

Mir geht es in diesem Beitrag darum, die Frage nach einem schuldhaften Verwaltungshandeln zu klären, keineswegs darum, ein Mit- oder meinetwegen auch Hauptverschulden des Veranstalters und/oder der Polizei auszuschließen.

Ich gehe davon aus, dass es zu einer Verurteilung der Verantwortlichen, auch der für die Planung und Genehmigung verantwortlichen, kommen wird. Auf eine strafrechtliche Verurteilung kann unsere Gesellschaft überhaupt nicht verzichten. Nicht wegen Rache oder Genugtuung der Opfer bzw. Angehörigen (obwohl das natürlich auch nicht unwichtig ist). Sondern aus Gründen der Prävention. Wer immer zukünftig über eine solche Veranstaltung zu entscheiden hat, muss die Sicherheit der Teilnehmer in den Vordergrund seiner Überlegungen stellen.

Freilich geht es, darauf muss ich auch bestehen, nicht darum, dass die Verwaltung zur Spaßbremse wird. Rechtsprechung wie öffentliche Meinung sollten sich hüten, jegliches Verwaltungshandeln abzuwürgen, das Eigeninitiative und Souveränität gegenüber Vorschriften zeigt. Auf die Breite der Fluchtwege kam es hier nicht an; dass diese schmaler zugelassen wurden, als die Vorschrift vorsieht, war NICHT kausal für die Katastrophe und ebenso wenig das fehlende Brandschutzkonzept. Also bitte, liebe Journalistinnen + Journalisten: reitet nicht ständig darauf herum, Ihr, die ihr sonst doch immer Flexibilität des Verwaltungshandelns einfordert.

Der Knackpunkt ist hier einzig und allein die Tatsache, dass Kommende und Gehende über einen einzigen Weg gegeneinander geleitet wurden. Ein solches Arrangement ist absolut inakzeptabel, egal, ob Vorschriften das verbieten oder nicht. Insoweit haben sich die Stadtverwaltung Duisburg und der Veranstalter (und vielleicht auch der Gutachter), und damit juristisch die jeweils dort verantwortlichen Personen, schuldig gemacht.


P.S. In Zürich führt die "Streetparade" tatsächlich über eine Brücke, die Quaibrücke über die Limmat. Die hat aber zweifellos ein Geländer.



Weitere Überlegungen zur Verschuldensfrage sowie zahlreiche Links im Zusammenhang mit dem Unglück in meinem früheren (1.) Blott "Das Wunder von Duisburg: Von der Liebesparade (Loveparade) über den Kausalkettenmarsch zum Schulddefilée".

Mein 2. Blott zum Thema: "Wahrheit, Lüge, Rechtsgutachten: Zwischenbericht UNTERSUCHUNG DES VERWALTUNGSHANDELNS AUF SEITEN DER STADT DUISBURG ANLÄSSLICH DER LOVEPARADE."

4. Eintrag (vom 17.08.10): "Runter von der Rampe, Adolf! oder: Schwarze Schand für unser Land: Duisburgs OB Sauerland!"








Textstand vom 11.06.2011. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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