Montag, 13. November 2006

Vom Glücklichsein. Und von den Bedrohungen des Glücks.

Die Frau, irgendwo zwischen 40 und 50 Jahre alt, war hemmungslos glücklich.
Seit Jahren schon hatte sie den Kauf einer neuen Weihnachtskrippe geplant, und nun hatte sie ihren Traum verwirklicht.

Gleich mitnehmen konnte sie die Krippe nicht; eine andere Dame war ihr beim Kauf des Ausstellungsstücks zuvor gekommen. Aber noch vor Weihnachten würde der Wächtersbacher Weihnachtskrippenbastler Gerhard Petry, der seine Arbeiten im alten Pfarrhaus im Wächtersbacher Ortsteil Aufenau ausgestellt hatte, ihr eine weitere anfertigen.

Jedem erzählte sie es, dass sie eine Krippe gekauft hatte und diese noch vor Weihnachten bekommen würde: uns am Kaffeetisch, anderen Leuten beim nochmaligen Hochgehen in den Ausstellungssaal zur erneuten Krippenbesichtigung. Und dabei lächelte sie so seelig wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum.

Felicità: un bicchiere di vino con un panino. Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein: eine Weihnachtskrippe muss auch noch sein [demnächst übrigens sogar bei Aldi: für 20,- €; die sind natürlich nicht ganz so schön].

Kaffee und Kuchen (von dem eine bestimmte Sorte bekanntlich schon von Marie Antoinette als Brotersatz für die Armen und mithin auch für uns empfohlen worden war - "S'ils n'ont pas de pain, qu'ils mangent de la brioche") gab es gestern beim "Herbst-Café" der Aufenauer Kolpingfamilie.
Gegenüber vom alten Pfarrhaus und von der Kirche war auf einer Plakatwand eines der drei Motive der Spendenkampagne 2006 der Kindernothilfe e. V. abgebildet: "Entschuldigung, Sie haben da einen Brunnen am Ohr hängen" (Foto in meinen Blog-Eintrag "Wohltätige Gewissenserpressung?"). Für 31,- € im Monat, so die wohltätige Werbung, könnte man (und sollte man doch lieber) einem Kind in Afrika sauberes Trinkwasser, Ernährung und Unterkunft sichern. 70,- € hatte die Krippe gekostet. Eine interessante Vorstellung, wie einige Spendenwerber - vielleicht als Heilige Drei Könige verkleidet? - an den Tisch herantreten und die glückliche Frau anherrschen:
"Moment mal! Sie wollen sich doch nicht etwa zwei Wasserbrunnen aus der Sahel-Zone unter Ihren Weihnachtsbaum stellen?"

Was das Glücklichsein angeht: Als ich im Sommer meine Digitalkamera gekauft hatte, habe ich mich schon ein wenig gefreut. Aber so ein totales Glückserlebnis, wie es Kindern zuteil wird, hat der Konsumakt (oder die Investition?) bei mir nicht ausgelöst. Hätte ich also besser 9 Brunnen für die Sahel-Zone stiften sollen?
Wohl eher nicht. Denn in 10 Jahren werden wir lesen:
"Moment mal, Sie haben uns damals den Grundwasserspiegel abgesenkt. Jetzt rücken Sie gefälligst 50% von Ihrem Gehalt heraus, damit wir hier Tiefbrunnen bohren können!"
Und in 20 Jahren ..... ist das Bohröl alle, das Wasser alle, und wir sind dann bald auch alle alle.

Altmännerdepression? Oder ein sehr rationaler Ressourcenpessimismus?


Nachtrag vom 22.12.06
Für Glücksspiele werden in Deutschland jährlich über 20 Mrd. € ausgegeben (Quelle: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Kurzinformation über das Forschungsvorhaben "Nachfragerverhalten und Verteilungswirkungen des Lotteriespiels in Deutschland", durchgeführt von Prof. Jens Beckert und Mark Lutter.)
Die Spenden für wohltätige Zwecke betragen demgegenüber nur ca. 2,4 Mrd. € (Quelle: Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen, Bericht über das Spendenjahr 2006).

Wundern Sie sich also nicht, wenn sich demnächst am Lottoschalter eine schwere Hand auf Ihre Schulterpresst. Und eine Stimme hinter Ihnen sagt: "Moment bitte, Sie versenken da gerade ein Fischerboot." Oder: "Aber hallo, Sie wollen doch nicht etwa eine Hebamme kreuzigen?"
[Über die Lotto-Studie des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln (die allerdings noch läuft und erst im Jahr 2007 abgeschlossen sein wird) berichtete das Handelsblatt online in der Ausgabe vom 13.12.2006 u. d. T. "Glücksspiel und Gesellschaft. Baugenehmigung für Luftschlösser". Ich vermute mal, dass viele der gewonnenen bzw. erhofften Erkenntnisse auch einfacher zu gewinnen wären: durch eine Lektüre der Literatur über das (insbesondere historische) Lottospiel in der Stadt Neapel. Auf jeden Fall dürfte ein Abgleich der Forschungsresultate mit früheren Meinungsäußerungen über das Lottospiel (die wiederum für Neapel besonders zahlreich sein dürften, auch von Reisenden im 18. + 19. Jahrhundert) erhellend sein.
Übrigens gibt es - toll, was man bei solchen Anlässen so alles entdeckt - sogar eine "Forschungsstelle Glücksspiel", und zwar an der Universität Hohenheim. Die hat auch schon versucht, die Motive der Spieler zu erforschen und informiert auch relativ ausführlich über die Geschichte des Glücksspiels.]


Textstand vom 23.12.2006. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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