Donnerstag, 8. November 2012

taz-Wirtschaftskorrespondentin Ulrike Herrmann von FOCUS-Redakteur Clemens Schömann-Finck in die Target-Falle geführt?


Momentan beschäftige ich mich intensiv mit der sog. "Target-Debatte", d. h. der Diskussion um die Zahlungsbilanzungleichgewichte der europäischen Staaten und deren Ausgleich über das Zahlungssystem TARGET2 des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) bzw. über die Europäische Zentralbank (EZB).
 
Zu diesem Thema hat der Münchener Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Hans-Werner Sinn ein Buch unter dem Titel "Die Target-Falle: Gefahren für unser Geld und unsere Kinder" verfasst, das von verschiedenen Medien rezensiert wurde.
Im Handelsblatt geschah das in gleich drei Artikeln, alle vom 08.10.2012:
Von Medien, die nicht spezifisch wirtschaftlichen Themen gewidmet sind, kann man eine so intensive Befassung mit dem Thema natürlich nicht erwarten.
 
Im "FOCUS" hat sich der FOCUS-Online-Redakteur Clemens Schömann-Finck in einer recht ausführlichen Darstellung mit den Thesen von Sinn auseinandergesetzt: "Sinns neues Buch „Die Target-Falle“Erpressen die Schuldenstaaten Deutschland?".
Methodisch sauber stellt er zunächst die Fakten und die Positionen von Prof. Dr. Hans-Werner Sinn dar. Abschließend bringt er zwei (kurze) Abschnitte mit möglichen Einwänden gegen Sinns Theorien:
Unter der Zwischenüberschrift "Was kann man dieser Theorie entgegen stellen?" heißt es (Hervorhebungen von mir):
"1. Auch Kapitalflucht beeinflusst die Target-Salden
Viele Ökonomen stimmen Sinn nicht zu. In einem Aufsatz bestritt zum Beispiel der namhafte belgische Ökonom Paul de Grauwe, dass die Euro-Länder über das Target-System ihre Leistungsbilanzdefizite finanzieren – also die Summe, um die ihre Exporte geringer sind als ihre Importe. Mit Berechnungen wies de Grauwe nach, dass die Target-Salden eher Ausdruck der Kapitalflucht aus den Länder sind. Die Investoren ziehen ihr Geld ab und legen es zum Beispiel in Deutschland an. Auch dadurch steigt der Saldo gegenüber dem Ursprungsland.
Das Beispiel Irlands widerspricht ebenfalls Sinns These: Die Leistungsbilanz des Landes weist nach Jahren des Defizits mittlerweile einen Überschuss aus. Trotzdem hat die irische Notenbank ein hohes Target-Defizit von fast 100 Milliarden Euro gegenüber anderen Euroländern.
2. Die Bundesbank bleibt gar nicht auf ihrem Saldo sitzen
Selbst ein Zusammenbruch des Euro-Raums muss nicht zwangsläufig ins finanzielle Desaster für die Bundesbank führen: Sie hat die Möglichkeit, selbst gewaltige Verluste vor sich herzuschieben und sie mit künftigen Gewinnen zu verrechnen. De Grauwe sieht sogar noch einen anderen Weg: Wenn die Bundesbank danach eine neue Mark einführen würde, könnte sie diese nur an deutsche Staatsbürger ausgeben. Ausländer müssten ihr Geld dann wieder aus Deutschland abziehen. Der Kapitalzufluss, der zu den hohen Target-Forderungen der Bundesbank geführt hat, würde wieder umgekehrt.
"

Es folgt ein letzter Absatz unter dem Zwischentitel: "Wie könnten die Target-Forderungen der Bundesbank wieder sinken?":
"Sinn stellt es so dar, als würden die Target-Forderungen der Bundesbank zwangsläufig immer weiter steigen. Da der Ifo-Chef unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht an eine Lösung der Schuldenkrise glaubt, ist diese Annahme konsequent. Allerdings kann es auch anders kommen: Sobald sich die Banken wieder normal am Interbankenmarkt finanzieren können, endet die Kapitalflucht;,abgezogene Gelder fließen dann vermutlich in ihre Heimatländer zurück. Der Target-Saldo sinkt. Tatsächlich gibt es einen Hoffnungsschimmer: Seit einigen Monaten stagnieren die Target-Salden auf hohem Niveau."

 
 
Bei der taz hatte die (lt. Wikipedia) "Wirtschaftskorrespondentin"(!) Ulrike Hermann offenbar die Berliner Buchpräsentation vom 12.10.12 besucht und dann unter dem gleichen Datum einen Artikel "Neues Buch von Hans Werner Sinn. Von wegen goldene Kreditkarte" verfasst. In dem zusammenfassenden Vorspann erweckt sie allerdings zunächst den Eindruck, als ob es sich um eine Buchbesprechung handele:
"Wer ist schuld an der Krise? Für den Ökonomen Hans-Werner Sinn sind die Feindbilder klar. Das ist auch in seinem neuen Buch, 'Die Target-Falle', so."
Erst weiter unten in dem Artikel finden aufmerksame Leser einen Hinweis darauf, dass sie das Buch garnicht gelesen hat: "Am Freitag stellte er das Buch in Berlin vor." (Das Nicht-Lesen ist als solches nicht zu beanstanden. Nur hätte die Ehrlichkeit eine Klarstellung geboten, dass der Artikel keine Buchbesprechung ist.)
 
Dass sie ihren Artikel im Wesentlichen auf die Ausführungen von Schömann-Finck stützt zeigt sich z. B. an der Schilderung der Target-Salden als ausschließlich durch Kapitalbewegungen verursacht:
"Die Target-2-Salden beschreiben letztlich eine gigantische Kapitalflucht aus Südeuropa."
 
Damit hat sie als Tatsache hingestellt, was bei Schömann-Finck lediglich als Gegenmeinung eines anderen Wirtschaftswissenschaftlers wiedergegeben worden war:
"In einem Aufsatz bestritt ... der namhafte belgische Ökonom Paul de Grauwe, dass die Euro-Länder über das Target-System ihre Leistungsbilanzdefizite finanzieren – also die Summe, um die ihre Exporte geringer sind als ihre Importe. Mit Berechnungen wies de Grauwe nach, dass die Target-Salden eher Ausdruck der Kapitalflucht aus den Länder sind. ..... Das Beispiel Irlands widerspricht ebenfalls Sinns These: Die Leistungsbilanz des Landes weist nach Jahren des Defizits mittlerweile einen Überschuss aus."
 
Sinn dagegen sieht diese Kredite zutreffend als Ausdruck unter anderem (keineswegs ausschließlich!) von Leistungsbilanzdefiziten. Fakt ist, dass  mit dem "Beispiel Irland" insoweit kein Blumentopf zu gewinnen ist. Wenn die Target-Salden im Falle Irlands (gegenwärtig) nur (noch) Defizite in der Kapitalbilanz finanzieren (d. h. Geldabzüge von Iren und Ausländern aus Irland ausgleichen), dann sagt das absolut gar nichts über die Situation in anderen Krisenländern aus. Und diese Staaten, z. B. Griechenland, Portugal oder Spanien, haben nun einmal Leistungsbilanzdefizite, d. h. sie führen mehr an Gütern und Dienstleistungen ein, als sie selber exportieren. Aus rein buchungstechnischen (fachsprachlich: "saldenmechanischen") Gründen können solche Leistungsbilanzdefizite nur über Transfers (= Geschenke wie z. B. Entwicklungshilfe oder hier EU-Hilfen) finanziert werden oder (bzw. ggf. und) über die Einfuhr von Kapital. Da aber Kapital (per Saldo) nur noch über das eurozonäre Zentralbankensystem in die Krisenländer fließt (eben die sog. "Target-Kredite"), müssen die Importdefizite (und zusätzlich evtl. Kapitalabflüsse) zwangsläufig über diesen Zuflussweg ausländischer Kredite finanziert worden sein.
[Erg. 10.11.2012: Die Frage, was denn die "Target-Kredite" eigentlich finanzieren, Kapitalflucht oder Leistungsbilanzdefizite, erörtert überzeugend der Tübinger Prof. Wilhelm Kohler in seinem (wissenschaftlichen) Vortrag "Resolving Sovereign Debt. Crises: Opening or Closing the Tap?" vom 10.05.2012. Darin heißt es (S. 36; meine Hervorhebungen): "By construction, changes in Target2 claims or liabilities reflect unbalanced bilateral exchange in the sense that a country’s expenditure on present goods, or on claims on future goods of a specific other country within the euro zone, exceeds the revenues from its sales of present goods or claims to that country. On a fundamental level, whatever the pattern of expenditure on present goods or claims, it seems rather futile to construct a relationship between the Target2 balances and any one type of expenditure. If a country faces capital flight, this is presumably because investors have lost confidence in the claims that they have hitherto held on future payments, ultimately on future goods, from this country. One way or another, these claims have been issued in the past in order to finance the country’s current account deficits of the past. If for whatever reason investors now shed these claims, then the country faces the need to refinance foreign debt that reflects these past current account deficits. If private investors who are willing to step in cannot be found, then, with a system like Target2 in place, a change in Target2 balances is what we will observe instead. Although they do not reflect financing of a contemporaneous current account deficit, the do reflect re-financing of past current account deficits. But financing a current account deficit is what happens regardless. Emphasizing that Target2 balances mirror capital flight and insinuating that this is fundamentally different from Target2 balances that reflect current account deficits is thus misleading."]

Schömann-Finck bezieht sich bei de Grauwe offenbar auf dessen wissenschaftliches Arbeitspapier "What Germany should fear most is its own fear. An analysis of Target2 and current account imbalances" (12.09.2012; hier runterzuladen; eine Gegenmeinung, die ich aber selbst noch nicht gelesen habe, hier: "He is supposed to be the top economist in both public and academic debates about the Euro Area but unfortunately, there are glaring errors in his paper."). Ich selbst habe es bislang nur überflogen, und kann mich an dieser Stelle damit nicht detailliert auseinandersetzen. Es fällt aber auf, dass de Grauwe lediglich die Leistungsbilanzen von Ländern der Eurozone vergleicht. In der Wirklichkeit können Zahlungen und Lieferungen natürlich über (u. U. verschlungene) Umwege laufen. Das wird z. B. im Artikel von Ulrike Herrmann in folgendem Satz erhellt (meine Hervorhebung): 
"Für Sinn ist damit klar: 'Die Südländer drucken Geld – und kaufen sich dafür chinesische Autos'." (Gedanklich zu ergänzen: 'Und die Chinesen kaufen mit diesen Euros in Deutschland Maschinen'.) 
Sinn hat die Behauptungen von de Grauwe in seinem auf dem Ökonomenportal Vox veröffentlichten Artikel "TARGET losses in case of a euro breakup" am 22.10.2012 widerlegt, und de Grauwe selbst schreibt mittlerweile ("TARGET2 as a scapegoat for German errors"; 02.11.2012)  "that the ultimate source is the €600 billion current account surpluses it ran with other EZ nations during the good years". (Das bezieht sich natürlich großenteils auf die Zeit bis Mitte 2007, aber auch danach hatten die Krisenländer eben noch Leistungsbilanzdefizite.)
Und bereits am 18.09.12 schreibt er in seinem (irritierender Weise ebenfalls mit "What Germany should fear most is its own fear" betitelten) Vox-Artikel (meine Hervorhebung) "If a country has net financial claims against the rest of the world, that nation must have had current account balances [Leistungsbilanzdefizite] that were in surplus in the past."
 
Aber hier geht es mir nicht um diese Debatte, sondern um den Nachweis, dass Ulrike Herrmann sich keine eigenen Gedanken über das Thema gemacht hat. Sie übernimmt z. B. mit dem Verweis auf "Paul de Grauwe" die gleiche unvollständige Autorenangabe, die wir bei Schömann-Finck finden (und die ich  auch selber oben verwendet habe, aber nur vorläufig). Tatsächlich hat de Grauwe das Arbeitspapier vom 12.09.12 (und ebenso seine anderen oben aufgeführten Aufsätze) nämlich gemeinsam mit einem (oder einer?) Yuemei Ji verfasst.
 
Bedenkenlos referiert sie auch die Idee von de Grauwe/Ji, auf welche Weise die Bundesbank angeblich ihre Verluste bei einem Eurocrash vermindern könne:
"Nur wenn die Gemeinschaftswährung tatsächlich zusammenbricht, wären die Euros verloren, die im Target-2-System verbucht sind. Aber auch dafür werden schon Lösungen diskutiert. So schlug der belgische Volkswirt Paul De Grauwe kürzlich vor, dass die Bundesbank den Schaden bei einem Eurocrash ja dadurch minimieren könnte, dass mit der neuen D-Mark nur jene Kontoinhaber entschädigt würden, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben."
Immerhin muss sie zumindest den Vox-Artikel vom 18.09. selber gelesen haben; sie kann nicht mechanisch bei Schömann-Finck abgeschrieben haben. Denn im Gegensatz zu Letzterem spricht sie nicht (fälschlich) davon, dass die BuBa die Abgabe der neuen DM auf  deutsche Staatsbürger beschränken könne. Vielmehr gibt die Meinung von de Grauwe/Ji korrekt so wieder, dass "nur jene Kontoinhaber entschädigt würden [d. h.: entschädigt werden müssten], die ihren Wohnsitz in Deutschland haben". (Im Original z. B. wie folgt; Hervohebung von mir: "Germany could avoid large wealth losses by restricting euro-to-mark conversions to German residents.")
 
Diese Idee ist allerdings insgesamt ein haarsträubender Unsinn und wurde ebenfalls von Sinn in seinem Vox-Artikel "TARGET losses in case of a euro breakup" widerlegt. Diesen am 22.10.2012 erschienenen Sinn-Aufsatz konnte Frau Herrmann aus chronologischen Gründen nicht kennen. Dass aber derartige wirre Vorschläge kein Lösungsbeitrag sind, müsste jede/r in wirtschaftlichen Dingen halbwegs beschlagene/r Leser/in selber merken. (De Grauwe/Ji haben das zwischenzeitlich offenbar auch selbst eingesehen, denn in ihrem Vox-Aufsatz vom 02.11.2012 heißt es (meine Hervorhebung): "This column – a rejoinder to Hans-Werner Sinn’s recent column – agrees that Germany would lose massively from a breakup ...".)
 
Alles in allem also nicht gerade die Sternstunde eines kritischen taz-Journalismus. Denn entgegen der Überschrift und der Darstellung im Artikel ist der Target-Mechanismus, bzw. eigentlich bereits im Vorfeld die lockere EZB-Kreditvergabe in den Krisenländern (die dann in den Target-Salden ihren Niederschlag findet) selbstverständlich eine Art "goldener Kreditkarte" für die Süd-Länder (und Irland).
Nur indem sie jene Argumente, die für Sinns Behauptung sprechen (und die bei Schömann-Finck ausführlich zu Worte kommen) einfach unter den Tisch fallen ließ, konnte Frau Herrmann ihren unsäglichen Propagandaartikel fabrizieren.
 

 
ceterum censeo
 
Die Steuertöpfe quellen über -
Doch für Verkehr und Bildung ist kein Geld mehr über?
Kein deutsches Geld für Eurozone:
Wir leben besser "Eurotz-ohne"! 

Textstand vom 10.11.2012. Gesamtübersicht der Blog-Einträge (Blotts) auf meiner Webseite http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm.
Eine vorzügliche, laufend aktualisierte Übersicht über die Internet-Debatte zur Eurozonenkrise bietet der Blog von Robert M. Wuner. Für diesen „Service“ ihm herzlichen Dank!
Für Paperblog-Leser: Die Original-Artikel in meinem Blog werden später z. T. aktualisiert bzw. geändert.

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