Sonntag, 11. November 2007

Terror im Gartenhaus; Brot-Bombe beim Bio-Bäcker

Dort könnte ich Romane schreiben - wenn ich denn Romane schreiben könnte: in manchen Starbucks-Cafés, pardon: "Coffee-Houses". Zum Beispiel dem in Frankfurt a. M., gegenüber von der (und mit Blick auf die) ehemalige Wertpapierbörse, oder jenem in Darmstadt am Luisenplatz, ebenfalls im Raum im Obergeschoss. Da kann man sich in weichen Sesselpfühlen lümmeln und fläzen, könnte aber auch auf harten Stühlen hockend schreibend arbeiten. In diesen Räumen, die etwas Inspiratives haben, kann ich Behauptungen nachvollziehen, dass manche Wiener Schriftsteller und Intellektuelle ihre belletristischen und anderen Prosastücke im Caféhaus geschrieben haben.

Schon in einem früheren Blott hatte ich unter der Überschrift "OST MINUS WEST = NULL" die Starbucks-Läden und Qualität und Preis des regulären Kaffees gelobt [beiläufig auch vor den Preisen des restlichen Sortiments gewarnt] und zugleich eine patriotische Träne darüber vergossen, dass mein kulturloses Kulturvolk die alteuropäische Kaffeehauskultur nunmehr aus der Neuen Welt re-importieren muss. Nichtsdestotrotz bin ich immer wieder dankbar, wenn ich mich nicht in eines der deutschen Cafés hocken muss, wo man für teures Geld einen Fingerhut mit brauner Brühe von meist mieser Qualität vorgesetzt bekommt.
Auch am gestrigen Samstag versackten wir, nachdem wir uns auf Straßenpflaster, in Läden und Kaufhäusern die Hacken abgelaufen hatten, wieder einmal wohlig in den Sesseln der Darmstädter Starbucks-Filiale am Luisenplatz (die kalkulieren ganz genau, wohin sie ihre Coffee-Shops positionieren: dorthin nämlich, wo man sein Shopping erschöpft beendet hat).

Darmstadt: das Wort löst nicht unbedingt positive Assoziationen aus (vgl. meinen Blott "Kein Denkmal für Darmstadt"), aber langsam fängt manches in dieser Stadt an, mir zu gefallen. Und wir mussten ja schon deshalb hinfahren, weil die Schublade mit den ausgemusterten Büchern, welche ich bereits gelesen hatte oder mangels Interesse bzw. interessantem Inhalt niemals lesen würde sich schon wieder randvoll gefüllt hatte. Und diese Bücher wollte ich wiederum im Pretlackschen Gartenhaus in Darmstadt deponieren.

Regnerisch war es (deshalb keine Fotos von dem wunderbar herbstfarbenen Herrenpark! - nein: "Herrengarten" heißt der!) und kalt (diese Selbstbedienungs-Bibliothek ist nicht geheizt - weswegen wir auch ganz alleine dort waren und blieben). Mit klammen Händen durchsuchten wir die Regale, ob vielleicht etwas Brauchbares zum Mitnehmen dabei wäre. Im Großen und Ganzen sind es natürlich nicht die besten Bücher, welche dort als Bodensatz einer übersättigten Konsumgesellschaft deponiert werden. Bei den Sachbüchern viel Frauenliteratur und Beziehungsliteratur (vom Typ: "Wie stille ich richtig?", "Wie werde ich eine richtige Feministin?", "Partnerschaftsprobleme richtig lösen" usw.) machten einen großen Teil der Sachbuch-Sammlung aus, welche aber wiederum nur einen kleinen Teil des Gesamtbestandes darstellt, der, nicht überraschend, zum weitaus überwiegenden Teil aus Romanen besteht. Fremdsprachige Bücher, vorwiegend natürlich englischsprachige, gibt es gleichfalls in größerer Zahl: was hätte ich in meiner Jugend darum gegeben, so einfach an englischsprachige Literatur zu kommen! Eine Reihe Reisebücher findet man, darunter ein Italienbuch von Corona Berg. Zwei hat sie veröffentlicht: 1952 „Italienische Miniaturen“ und 1956 „Unter der Sonne Italiens“. Beide Italienbücher waren mir früher häufig in Antiquariatskatalogen begegnet; ich hatte sie indes wegen der in meinen Ohren ziemlich muffig klingenden Titel gemieden.

Welches der beiden Bücher hier abstand, weiß ich nicht mehr; gefreut habe ich mich aber, ein ausführliches Kapitel über den einstmals berühmten Badeort Bagni di Lucca (hier mehr ) zu finden, der heute wohl nur noch eine verschlafene Gemeinde ist, bzw. eine Art Samtgemeinde, die aus einer ganzen Reihe von Dörfern und Weilern besteht (auf der Webseite des "pro loco" oder Fremdenverkehrsvereins sind sie aufgezählt).
Die Webseite des "pro loco" erschien mir zunächst als das halbwegs "Offiziellste", was ich im Netz von der Gemeinde finden konnte (man fragt sich nur, für was die werben wollen, da Links z. B. zu Unterkünften fehlen). Aber dann stieß ich auf diese Seite, welche wohl die Homepage der Gemeinde ist (der Button "Home" führt allerdings ins Nichts, der Veranstaltungskalender ist aus dem Jahr 2005 und die Nachrichten enden im Mai 2006).

Einst kurten dort und hinterließen Beschreibungen ihrer Aufenthalte so herausragende Persönlichkeiten wie Michel de Montaigne ("Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581") und Heinrich Heine. Dessen Buch "Die Bäder von Lucca" ist allerdings mehr eine literarische Polemik gegen August von Platen als eine Reiseschilderung.
(Heute kann man in Bagni di Lucca im globalen Dorf einen "holistischen" Urlaub machen - nun ja, oder besser: "holy cow!". Nein, nicht: "wholly cowsh." - wie kommen Sie denn darauf? Okkulte Plätze bzw. Aktivitäten gibt es in der Commune allerdings auch.)

"Corona Berg" ("Corona" klingt für mich ebenso antiquiert wie die Buchtitel; erinnert mich an "Corona Schröter") ist jedoch ein Pseudonym. Erst jetzt beim Abfassen dieses Blotts erfuhr ich den richtigen Namen (und die eigentliche berufliche Tätigkeit) der Autorin: Hanna Kronberger-Frentzen hieß sie, von 1887-1963 hat sie gelebt und war als wissenschaftliche Assistentin Spezialistin für Kunstgewerbe an der Kunsthalle in Mannheim. (Dank an die Stadtverwaltung, dass sie auf ihrer Webseite an diese Autorin erinnert.)

Jedenfalls habe ich das Buch dann doch wieder zurückgestellt, nachdem ich das informative Kapitel über die Bäder von Lucca (bis 1862, also noch zur Zeit von Heines Aufenthalt, hieß der Ort übrigens "Bagno a Corsena") durchgelesen hatte.


Schwelgend in literarischen Reminiszenzen an Italien habe ich doch glatt den Terror vergessen!

Der kam aus dem Sachbuchregal, in Gestalt einer Frau, d. h.: einer weiblichen Autorin.
Loretta Napoletani hat ein Buch verfasst u. d. T. "Die Ökonomie des Terrors. Auf den Spuren der Dollars hinter dem Terrorismus". So der Titel der deutschen Ausgabe, die 2004 erstmals bei der Antje Kunstmann GmbH München erschienen ist; ich fand die kartonierte Lizenz-Ausgabe von 2005 aus dem Frankfurter Verlag Zweitausendeins (der u. a. auch Verschwörungstheorien zum Angriff auf das World Trade Center vom 11. September 2001 publiziert).
Der englischsprachige Originaltitel lautet: "Modern Jihad. Tracing the Dollars behind the Terror Networks" (London 2003). Dieses Buch habe ich, als einziges, trotz meiner überfüllten Bücherregale daheim denn doch mitgenommen. Nicht dass der Terror im Zentrum meiner Leseinteressen stünde, aber die Lektüre des Kapitels 6 "Auf dem Weg zu einer neuen Welt-Unordnung" hat vertieft, was ja allgemein und auch mir schon immer bekannt war: dass die Amerikaner den Krieg der Muslime in Afghanistan gegen die Russen mitfinanziert und unterstützt haben. Nicht bekannt war mir, dass den Kämpfern selbst dieser Sachverhalt unbekannt gewesen sein soll (für die Führungselite kann ich das auch kaum glauben, für "Schütze Arsch im letzten Glied" natürlich schon). "Als die muslimischen Kämpfer nach dem Krieg entdeckten, dass die USA den antisowjetischen Dschihad für ihre Zwecke manipuliert hatten, fühlten sie sich gedemütigt. Und dieses Gefühl verstärkte den Hass gegen Amerika, den die bewaffneten islamistischen Gruppen schürten" (S. 151). So hatte ich die Sache noch gar nicht gesehen.

Von den verschiedenen Rezensionen der (ersten) deutschen Ausgabe, die ich auf die Schnelle finden konnte (vgl. bei buecher.de) ist die von Andreas Freytag in der FAZ vom 05.12.2005 publizierte die aufschlussreichste. Zitate daraus:
"Wer das Buch in die Hand nimmt und den Klappentext liest, ist zunächst enttäuscht. Dort wird doch tatsächlich postuliert, dies sei die erste ökonomische Analyse des "internationalen Terrorismus". Dies ist schlicht falsch, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens gibt es zahlreiche - und gelungene - ökonomische und politikwissenschaftliche Analysen über den internationalen Terrorismus, und zweitens ist das vorliegende Buch keine ökonomische Analyse im strengen Sinne.
Dennoch ist die Lektüre dieses Buches ein Gewinn. Die Verfasserin zeigt darin, daß der internationale Terrorismus keine schwärmerische Basis hat, daß ihm gerade kein Kulturkampf zugrunde liegt und daß er im Gegenteil maßgeblich auf geopolitische Strategien während der Zeit des Kalten Krieges zurückzuführen ist. Der Anerkennung wert ist außerdem, daß die Verfasserin kaum der Versuchung erliegt, Wertungen vorzunehmen - sei es gegen die Terroristen oder gegen deren Ziele. Sie hält sich überdies mit politischen Empfehlungen zur Terrorbekämpfung sehr zurück. Damit löst sie ihr Versprechen, eine Analyse zu bieten, annähernd ein. .........
Es wäre indes verfehlt, das Buch nur positiv zu sehen. Die Gliederung wirkt sprunghaft und enthält Dopplungen; allerdings muß man Napoleoni zugute halten, daß das Thema überaus komplex ist und oftmals Bezüge zu früheren oder späteren Abschnitten im Buch erfordert. Diese Schwäche ist somit verzeihlich wie auch die große Liebe zum Detail und die kleinen Geschichten zu Beginn eines jeden Kapitels. Die vielen Namen aber, mit denen der Leser dadurch konfrontiert wird, erleichtern den Zugang zum Thema nicht unbedingt. Außerdem wirken diese Anekdoten dem Anspruch, eine Analyse zu bieten, deutlich entgegen.
Schwerer jedoch schlagen die ökonomischen Mängel zu Buche. Die Verfasserin konfrontiert den Leser mit unglaublich vielen (sehr hohen) Zahlen über Finanzströme. Teilweise werden Milliarden und Millionen verwechselt, statistisch fundierte Belege finden sich kaum. Dies ist nicht verwunderlich, schließlich sind Statistiken über illegale Geschäfte naturgemäß nicht vorhanden. An dieser Stelle hätte es sich aber gelohnt, wenn Napoleoni die bereits erwähnten ökonomischen Studien zum Terror und besonders zur Geldwäsche in die Hand genommen hätte; nicht eine der zahlreichen Arbeiten findet Erwähnung."


Nun ja: da bin ich aber froh, dass ich für das Buch kein Geld bezahlt habe; den gleichen Eindruck wie Freytag hatte ich nämlich auch schon beim Durchblättern des Buches und beim Lesen des 6. Kapitels gewonnen. Naiv erschien mir etwa, dass die Autorin Revanchegelüste für Vietnam als Triebfeder für die klandestinen Afghanistan-Operation der CIA annimmt; das mag vielleicht in der öffentlichen Propaganda eine Rolle spielen, aber wohl kaum im kühlen diplomatischen Kalkül. An einer Schwächung der Sowjetunion war Amerika ohnehin gelegen, aber vielleicht haben die USA auch damals schon weitsichtig an mineralische Rohstoffe, insbesondere Erdöl gedacht, deren Lagerstätten-Länder sie von der UDSSR abspenstig machen wollten? Trotzdem gewährt mir das Buch vielleicht eine nützliche Tour d'horizon im Reiche des (islamistischen) Terrors.
Eine interessante Tour d'horizon war es jedenfalls, die verschiedenen Rezensionen zu vergleichen.

Einer der wenigen Rezensenten, die sich bemüht haben, in ihrer Besprechung etwas tiefer in die Qualitäten bzw. Mängel des Buches einzudringen, war Wolfgang Sofsky. Im Deutschlandfunk formuliert er gewissermaßen als Schlussbilanz seiner Buchbesprechung wie folgt:
"Diagnosen eines epochalen Widerstreits der Religionen oder Kulturen erklären den Terror aus gegensätzlichen Werten und Überzeugungen. Dagegen setzt Napoleoni den Antagonismus der Wirtschaftssysteme: hier der globale Kapitalismus westlicher Staaten und multinationaler Unternehmen, dort die Schattenwirtschaft islamistischer Kriegsherrn und Terrornetze, das Geflecht der bewaffneten Zellen und Vereine, der Moscheen und Banken, der Waffenschieber, Schmuggelbanden und Drogenkartelle. Auf der Suche nach Sinn und Zweck des Terrors greift die Autorin auf ein altbewährtes Deutungsschema zurück. Primär sei nicht die Religion oder die Politik, sondern die Ökonomie. Nicht Ideen, sondern Interessen, nicht Glaube und Macht, sondern Geld sei die letzte Triebkraft des Terrors. Dessen preiswerteste Waffe ist der Selbstmordattentäter. Er garantiert maximalen Schaden und optimale Propaganda bei minimalem Verlust. Aber kein Bombenleger und kein jubelnder Sympathisant hat bei diesem Gewaltakt jemals die Kosten mit dem Nutzen verrechnet. Terror ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Er soll eine Gesellschaft durch Angst zermürben. Anders als der alte Terrorismus ist der heutige Terror weder durch politische Ziele noch durch ökonomische Kalküle begrenzt. Gewiss muss auch der Terrorkrieg finanziert werden. Aber die Ermittlung seiner Finanzquellen kann unmöglich darüber Aufschluss geben, ob die Schrecken dieses Krieges überhaupt einen Sinn haben."

Johanno Strasser in der Sueddeutschen Zeitung (Text hier bei buecher.de zugänglich) beschränkt sich weitestgehend auf eine Inhaltsangabe.

Thomas Pany dagegen bringt in 2 Aufsätzen bei "Telepolis" ("Auf der Jagd nach den Schätzen von Terror, Inc." und "Der Krieg ist unser Leben" ) immerhin hilfreiche Links zu ergänzenden Informationen.

So geben sich manche Rezensenten mehr, und manche weniger Mühe. Die FAZ ist zwar nicht meine Lieblingszeitung, steht aber hier wieder mal an der Spitze der Qualitätshierarchie.


Und die Brot-Bombe? Die war klein und handlich, ein kopierter DIN-A-4 Zettel, den man gefaltet in die Brusttasche des Hemdes stecken konnte. Er enthält ein von Margret Uhle geführtes Interview aus der Zeitschrift "Der Feinschmecker", einer alten Ausgabe (1/95, S. 71): "Klägliches Brot? Vor arglosem Genuss von Backwaren warnt der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer".
Schon seit langem ärgere ich mich über den Fraß, welchen die moderne Lebensmittelbranche (und darin keineswegs nur die Industrie - s. unten!) uns auf den Tisch pantscht. Nur ist man sich nie sicher: "Ist das jetzt lediglich mein persönliches Geschmacksempfinden, bin ich gar bloß konservativ, oder stimmt da objektiv etwas nicht?".
Von Pollmer (der gemeinsam mit anderen Autoren u. a. die Bücher "Krank durch gesunde Ernährung" und "Food-Design: Panschen erlaubt. Wie unsere Nahrung ihre Unschuld verliert" verfasst hat) finde ich vieles bestätigt, was ich schon immer ahnte:
Frage: "Woran erkennt man gutes Brot?"
Antwort: "Daran, dass man es über einen längeren Zeitraum gern essen mag. Die Bäcker klagen heute, dass der Kunde unstet ist, von Brot zu Brot springt. Das ist ein Beweis für schlechte Ware."
In der Tat gibt es gerade mal eine einzige Brotsorte, die ich (und nicht nur ich, sondern auch meine Frau) gern esse(n). (Welche wird nicht verraten: die ist nämlich immer schon nach wenigen Stunden ausverkauft.)
Unser Brot kaufen wir nicht beim Bäcker (wo ich allerdings jetzt in Allendorf bei einer Familienbäckerei ein wohlschmeckende Sorte entdeckt habe; aber das liegt etwas zu weit entfernt, um Brot zu kaufen). Bäcker-Brot ist nicht selten versalzen oder aus anderen Gründen wenig schmackhaft.
Sollte man eigentlich nicht glauben, schließlich predigt man uns doch ständig die Handwerker-Ideologie: "Hier läuft die Ware nicht vom Band / Hier wird geschafft mit Herz und Hand".
Beim Bäcker, und gerade beim kleinen, wird leider aber auch meist mit Backmischungen gearbeitet. Dazu Pollmer:
Frage: "Können die Großbäckereien überhaupt noch ohne Backmischungen auskommen?"
Antwort: "Die Frage stellt sich gar nicht allein zu Großbetrieben. Es scheint mir sogar, dass in den Brotfabriken insgesamt weniger Chemie verwendet wird als in den Bäckereien[!!]".
Frage: "Wie erklärt sich das?"
Antwort: "Backmischungen sind teuer. Sie sollen vor allem Unterschiede der technischen Ausrüstungen ausgleichen. Der hohe Preis hat auch dazu geführt, dass beim Roggenbrot in der Industrie wieder zunehmend mit natürlich angesetztem Sauerteig gearbeitet wird."
Wiedergegeben sei hier auch noch, was Pollmer über "Gesundheitsbrote" (die mich allerdings ohnehin noch nie interessiert haben) weiß:
Frage: "Was ist von sogenannten 'Gesundheitsbroten' zu halten, die durch Zusätze etwa von Apfelschalen die Darmperistaltik wieder auf Trab bringen sollen?"
Antwort: "Das ist eine gehobene Form von Abfallwirtschaft! Es gibt eine Fülle von Dingen, für die man sonst keine Verwertung mehr hat und daher verbackt. Zum Beispiel die ausgelaugten Rübenschnitzel der Zuckerindustrie."

Menschenhaar wird übrigens ebenfalls verarbeitet:
"Unter den Substanzen, die das Backgewerbe einsetzt, sind ein paar sehr kuriose. Zum Beispiel das L-Cystin. Das wird in aller Regel aus indischem oder chinesischem Menschenhaar gewonnen und sorgt für Maschinengängigkeit des Teiges und den typischen Brötchenduft." [Hervorhebung von mir] (s. aber jetzt unten!)

Nun ja, selbst das ist immerhin noch besser als wenn Sägemehl im Brot verbacken wird, wie im "Steckrübenwinter" 1916/1917, und natürlich auch zu anderen Hungerzeiten (weitere Infos dazu über die Google-Eingabe Brot Sägemehl). (Kurze, aber sehr detaillierte -und vermutlich präzise- Informationen über den deutschen Steckrübenwinter erhält man u. d. T. "The German Potato Famine" auf dieser englischsprachigen Webseite, welcher der Kartoffel und ihrer Geschichte gewidmet ist.)
Aber auch in Friedenszeiten wurde früher gepanscht und gestreckt (1. Abs.); so betrachtet, geht es uns heute trotz aller Zusatzstoffe wohl doch besser.
[Auch meinen Eltern wird es damals nicht gut gegangen sein; vgl. die mikrohistorische Darstellung der Lage in Bielefeld "12. September 1917: Kartoffeldebatte im Stadtparlament" von Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek]

(Weitere Links zu Pollmer: hier, da, dort, noch einer, eine Bio- und Bibliographie, Links zu Texten von ihm, ein Interview - das mag mal genügen. Leider finde ich nichts gleichwertiges direkt und ausschließlich zum Thema Brot wie den mir vorliegenden Zeitschriftenartikel).


Für DDR-Nostalgiker habe ich, auch wenn ich als Wessi die damaligen dortigen Lebensumstände nicht näher kenne, wenig Verständnis und noch weniger Sympathie. Beeindruckt haben mich indes die detaillierten Informationen auf der Speisekarte eines Restaurants, als ich in den 60ern oder Anfang der 70er Jahre mal "drüben" war. Einen Fruchtsaft wollte ich bestellen, und konnte auf der Karte alles Wissenswerte über dessen Nährwert usw. lesen. Wenn die Lebensmittelkennzeichnung auch sonst auf diesem Stand war, wäre das tatsächlich ein Pluspunkt für das kommunistische System gewesen.
Allerdings gab es ausschließlich Sanddornsaft im Angebot: brrrr, Orangensaft wäre mir, auch ohne Kennzeichnung der Inhaltsstoffe, deutlich lieber gewesen!
(Im übrigen wurde natürlich auch und gerade in der DDR der Konsument über's Ohr gehauen. So wurden z. B. für einfache Ausführungen von Verbrauchsgütern Preise niedrig angesetzt und subventioniert - aber diese Qualitäten wurden nicht in ausreichender Menge produziert, so dass die Konsumenten die zwar höherwertigen, aber dafür auch überproportional höherpreisigen Kategorien kaufen mussten.)


Fehlende Information der Käufer über gebrauchswichtige Eigenschaften einer Ware haben mich auch bei dem letzten und gewichtigsten Gegenstand geärgert, den wir aus Darmstadt heim schleppten und der auch der tiefere Anlass unseres Ausflugs in diese Stadt gewesen war: ein großer Koffer, ein "Trolley XL" mit 4 Rädern der Fa. Stratic nämlich, "Quattro" genannt, mit einem Volumen von ca. 116 Litern und einem Gewicht von etwa 5,30 kg.

Diese Serie wird auf der Firmenwebseite nicht mehr angeboten und offenbar weil es ein Auslaufmodell ist, hatten wir es bei Karstadt in Fulda reduziert gesehen. Von 159,- auf 119,- €: das war mir aber zu teuer. Hier nun bei der Karstadt-Filiale im Darmstädter Louisen-Center war der Preis nochmals reduziert worden: exakt auf 99,- €!
Ohne dramatischen Knoten ging der Kauf freilich nicht über die Bühne. Ich hatte den Koffer nicht sofort gekauft, sondern wir schauten zunächst noch anderswo andere Sachen an. Als wir endlich zurück kamen, war ein asiatisches Pärchen gerade dabei, "unseren" Koffer zu begutachten! Wir lauerten in der Nähe, beschäftigten uns zerstreut mit anderen Koffern - bis die beiden das Ding endlich wieder abstellten!
(Ein potentiell dramatischeres Ereignis stieß mir beim Transport des -leeren- Koffers zu: am Darmstädter Bahnhof wollte ich vor einer herannahenden Straßenbahn die Straße überqueren - und legte mich hin. Zum Glück nicht vor die Straßenbahn; zum Pech jedoch auf den Koffer, der damit schon die ersten kräftigen Schrammen und Dellen hat, meinen Sturz aber immerhin gebrauchsfähig überstand.)

Eine dreijährige Garantie gibt es, groß beworben, beim Kleingedruckten aber eingeschränkt auf Verarbeitung! Was nützt mir das? Muss ich einen Verarbeitungsfehler nachweisen, wenn die Räder kaputt gehen? Denn ausdrücklich heißt es: "Keine Garantie bei Überbelastung des Gepäckstückes". Rätselhaft ist, wie ich eine Überlastung ermitteln könnte: jegliche Angabe über die zulässige Belastung fehlt hier nämlich ebenso wie bei allen anderen Koffern auch, die ich mir näher angeschaut habe! Das ärgert mich - bei diesem Koffer und überhaupt. Allerdings dürften die Firmen schlechte Karten haben, wenn sie bei einem evtl. Rechtsstreit eine fehlerhafte Handhabung durch Überlastung einwenden sollten. Ich hoffe sehr, Leute mit gebrochenen Gepäckrollen verklagen die Hersteller so lange, bis es für die kostengünstiger wird, endlich Angaben über die Tragfähigkeit ihrer Produkte zu machen!
Ebenso unbefriedigend ist das Fehlen einer Angabe über die Regenfestigkeit des Materials (Nylon) und, zwar nicht hier, aber oft bei anderen Anbietern, die fehlende Volumenangabe.

Der kommunikative Umgang der Verbrauchsgüterhersteller mit ihren Kunden lässt also weiterhin viele Wünsche offen - und die Produktqualität ebenfalls. Häufig sind wir Verbraucher selbst daran natürlich nicht ganz unschuldig: wir kaufen das billigere Produkt. Warum aber die Produzenten besser Qualitäten diese nicht detailliert beschreiben und damit werben (z. B. "Tragfähigkeit unseres Gepäckstückes 30 kg, der Konkurrenz-Koffer knickt bei 20 kg ein" - vergleichende Werbung ist ja erlaubt -), wird mir ewig ein Rätsel bleiben.


Nachtrag 12.11.2007:
Es wäre an der Zeit, dass irgend ein kluger Karl Machs mal ein kommunitaristisches Manifest der Verbraucher verfasst:
"Verbraucher aller Länder, vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren als euere Unwissenheit über das, was euch die Industrie andreht!"


Nachtrag 12.11.07 - einige Links zum Brot:

Wikipedia-Eintrag (dort weitere Verweise). Schweizer Brotgeschichte. Ausführlicher schweizer Text über Brotzubereitung und Geschichte des Brotes. Auf der Webseite eines Bäckers gibt es recht ausführliche Informationen über Geschichte, Rohstoffe und Zusatzstoffe. "Fachbroschüren" kann man beim Backmittelinstitut e. V. herunterladen. In Ulm existiert ein "Museum der Brotkultur" und wer über Brot diskutieren will, ist wahrscheinlich im "Sauerteig-Forum" gut aufgehoben.


Nachtrag 21.12.07, weitere Brot-Infos:
War wohl nix mit Brötchenduft aus Menschenhaaren. Mario Richter, Osnabrück, verneint in der Zeit 20/2001 (überzeugend) die Frage: "Stimmt es, dass das typische Aroma eines Brötchens ursprünglich aus dem Haar von Chinesen gewonnen wurde?". Aber schon in der "Zeit" Nr. 15/1995 hatte Dr. Hans Pfeiffer, Haan, geschrieben:
"Was der Autor meint, ist vermutlich die Aminosäure Cystein, die Bestandteil nahezu aller Eiweißverbindungen ist und besonders reichlich im Haar vorkommt. Von einer Herstellung aus Menschenhaar kann aber keine Rede sein. Cystein wird mitunter als Reduktionsmittel zur Erweichung des Kleberanteils des Mehls eingesetzt, aber nicht zur Brot- oder Brötchenherstellung und schon gar nicht zur Beeinflussung des Aromas. Das Aroma von Brötchen entwickelt sich durch die Fermentationstätigkeit der Hefe und den anschließenden Backprozeß. Durch Cystein würde das Aroma eher negativ beeinflußt. Ganz zu schweigen davon, daß diese Aminosäure das "Aufgehen" des Brötchens behindern würde".

[Iss also nix mit Frühstück im Stil des Duca di Centigloria. Erstaunlich übrigens, dass ein derartiger Tabubruch wie dessen Roman "Ich fraß die weiße Chinesin" lediglich 123 Google-Treffer generiert und dass das Buch anscheinend auch nicht übersetzt wurde ("Duca di Centigloria" nur 27 Treffer). Die "Geschichte der O" bringt es auf fast 67.000 Treffer (als "story of O" sogar 317000 und als "histoire d'O" 165.000. Anthropophagie ist halt doch ein allzu unappetitliches Thema , während die S/M-Literatur zumindest seit dem Werk des Marquis Sade und von Guillaume Appolinaires "Die elftausend Ruten" eine altehrwürdige Tradition hat. Auch der Text der Fronleichnamsliturgie ist übrigens, wollte man ihn wörtlich nehmen, wenig schmackhaft (ich habe ihn mal aus dem Mund des damaligen Erzbischofs Dyba gehört, als wir in Fulda zufällig in die Fronleichnamsmesse vor dem Dom gerieten; vgl. z. B. auch hier oder da) Solche Gedanken sind natürlich weit entfernt, wenn man etwa Bilder von "Le Infiorate di Spello" sieht, jenem berühmten Blumenteppich, der zum Fronleichnamsfest in der italienischen Stadt Spello (wie auch in anderen Orten) ausgelegt wird.
Ich selbst war übrigens der 'weißen Chinesin' vor langen Jahren mal in einem Buchantiquariat begegnet und hatte (ziemlich geschockt) darin gelesen. Soweit ich mich noch an den Text erinnere, war er letztlich auch nicht unappetitlicher als z. B. Lebensbeschreibungen des Gilles de Rais oder er Erzsébet (Elisabeth) Báthory oder eine 'snuff-story'. Nur verstößt er eben nicht nur gegen das Fünfte Gebot, sondern noch ein weiteres Tabu, und dies ist derart fundamental, dass es die Bibel nicht einmal als Verbot auflisten musste.]

Doch zurück zum Brot: Noch nicht gelesen habe ich einen Text von Harald Lemke: "GEBT UNS UNSER TÄGLICH SYMBOLBROT. Wahrheiten zur gegenwärtigen Brotkultur".




Nachtrag 25.11.07:
Auf merkwürdigen Wegen (nämlich bei der Rückverfolgung eines Zugriffs mit den Suchbegriffen "badenweiler" und "badehose" auf meinen Blog) gelangte ich auf die Webseite des Reisebücher-Verlages "Oase" (die juristisch präzise Firmenbezeichnung, welchen uns die Verlags-Homepage leider verheimlicht, lautet wohl "Oase Verlag Wolfgang Abel, Cornelia Stauch OHG") und bei den dort abgedruckten "Badische Zeitung-Kolumnen" von Wolfgang Abel zu dem köstlichen Kulinar-Kommentar "Textura auf Dokumenta", mit dem vielsagenden Untertitel "Gel, Schaum und Butterbrot - neue Küchentrends und alte Werte". Der Autor mokiert sich dort (zu Recht) darüber, dass die Kochkunst nun auch schon die Kasseler Dokumenta (wo wir bei unserem Besuch diesen Teil freilich nicht besichtigt haben) infiltriert hat. In einer auch sprachlich brillanten Kritik rügt Abel die "bizarre Überkulinarisierung des öffentlichen Lebens". Und fährt fort:
"Zum allgegenwärtigen Kochen und Spritzen würde am ehesten ein Klassiker aus der Grundschule des Benehmens passen: 'Mit vollem Mund redet man nicht.' Nur, wer
möchte sich heute noch benehmen? Und wer kümmert sich eigentlich, abseits von medientauglicher Hyperkulinarik, um die Basisversorgung, die bis heute erschreckend dürftig bleibt. ... Zum Beispiel Brot: ... [Es] sei daran erinnert, dass eine gute Brotkrume auch etwas mit molekularer Verwandlung tun hat, beim Kleingebäck ist das Zusammenspiel von Kruste, Elastizität und Weichheit erst recht entscheidend. Leider bekommt man, vom Backshop bis Gourmetre-Molekularküche, heute mehrheitlich brotähnliche Produkte vorgesetzt, deren Textur an geschäumte Pappe erinnert. Die kulinarische Debatte hat die Basis guten Essens schlicht aus den Augen verloren. Ein nach handwerklicher Tradition gebackenes Wasserbrötchen ist heute schwieriger zu bekommen als eine Kreation von viererlei Schäumen. ... Mit Steinofenbrot und Landbutter kommt aber keiner auf die Dokumenta. Auf deren Buffets wird es diese bleichen Häppchen geben, deren Textur sich im Laufe des Abends in Richtung Waschlappen verwandelt. Und alle werden zugreifen. Davon steht aber nichts im 'Feinschmecker'."
[Hervorhebungen von mir]
Die von Abel gegeißelten "Überkulinarisierung" war mir erstmalig voll bewusst geworden bei der Lektüre einiger jüngerer Merian-Ausgaben und anderer Reise-Magazine; in letzter Zeit auch bei Städteprospekten usw. Ansonsten ist sie, da ich schon seit Jahren aus Zeitmangel nicht mehr fernsehe, großenteils an mir vorbei gegangen.


Nachtrag 29.01.08:
Wenn Ihnen das Bäckerbrot nicht mehr schmeckt - einfach selber backen! "Brotbacken nach alter (sizilianischer) Art" kann man bei "Cosmea49" lernen. Und wem das Backen zu mühsam ist, oder wer keinen Holzofen dafür hat - der sättige sich an den schönen Bildern. (Ähnlich musste sich einst ja auch Till Eulenspiegel im Gasthaus am bloßen Geruch eines Bratens sättigen ).


Nachtrag 1.2.08:
Staun: Auch in Wiesloch gibt es (natürlich in einem bescheideneren Rahmen) Bücher gratis: Vgl. den Artikel "Freie Bücher in Wiesloch" vom 01.11.2007 in dem Weblog KurpfalzNotizen.
... und in Rauenberg auch (Dank an Frau Stindl von de Bürgerstiftung Wiesloch für den Hinweis!).
(In Rauenberg stehen die Bücher übrigens trockener als in Wiesloch.)


Nachtrag 03.05.08:
Wenn Günther Wallraf Brötchen backt, ist das bestimmt interessant. Wg. Zeitmangel muss ich mir leider die Lektüre seines Zeit-Berichts "Unser täglich Brötchen" versagen. Bzw. ich delegiere diese Arbeit einfach - an Sie!


Nachtrag 04.05.2010
Zufällig stieß ich heute auf einen (sehr ausführlichen und bebilderten) Bericht über eine zur "Bücherzelle" ausgebaute ausrangierte Telefonzelle in Magdeburg. Das Prinzip ist ähnlich wie im Pretlackschen Gartenhaus in Darmstadt, nur wird hier der Tausch zur Pflicht gemacht (aber wohl kaum kontrolliert):
"Das Konzept der Bücherzelle ist so originell wie einfach: Jeder darf ein oder mehrere Bücher aus der Bücherzelle mitnehmen. Einzige Bedingung ist, dass jeder Nutzer ebenso viele Bücher wieder einstellt."


Nachträge 22.01.2012

Zum Thema gutes (traditionell gebackenes) Brot vgl. auch das ZEIT-Interview "Nachhaltiges Backen Gut Brot will Weile haben" vom 19.10.2011 über einen Verein "Die Bäcker. Zeit für Geschmack e.V." Von deren Mitgliedsbäckereien würde ich gern mal ein Brot probieren, denn ich muss leider sagen, dass ich seit dem Paderborner Landbrot meiner Kindheit nur noch ganz selten ein schmackhaftes Brot bekommen habe. Aber, wie ein Blick auf die Landkarte der Mitglieder zeigt, gibt es in unserer Gegend keinen.

Dafür haben in Wien gleich mehrere Edelbäckereien eröffnet: Vgl. ZEIT-Artikel "Bäckerhandwerk. Mehr als nur klägliches Brot" vom 30.12.2011 .







Textstand vom 22.01.2012. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
finden Sie eine Gesamtübersicht meiner Blog-Einträge (Blotts).
Soweit die Blotts Bilder enthalten, können diese durch Anklicken vergrößert werden.

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