Donnerstag, 31. Dezember 2009

Nouriel Roubini: Aus Dr. Doom wird Dr. Zoom

Von Versteinerungen war die Rede in meinem vorangegangenen Blott, und in gewisser Weise ist diese Thematik auch der Goldgrund, auf dem ich mein vorliegendes (unfrommes) Zeitgemälde male.
Inhaltlich geht es hier um mein Dauerthema der aktuellen Weltfinanzkrise bzw. Weltwirtschaftskrise. Dazu hatte die "New York Review of Books" am 30.04.2009 in New York eine mit hochkarätigen Experten besetzte Diskussionsveranstaltung unter dem Titel "The Crisis and How to Deal with It" mit Bill Bradley, Niall Ferguson, Paul Krugman, Nouriel Roubini ["Dr. Doom"], George Soros und Robin Wells" veranstaltet, deren Protokoll ich zur Lektüre nur empfehlen kann.

Kluge Sätze sagte, wie immer, der Erzkapitalist George Soros [hier habe ich zu dem englischsprachigen Wikipedia-Eintrag verlinkt, weil dieser deutlich länger ist als der deutsche]. Unter anderem (meine Hervorhebung):
"... President Obama [is] faced with two objectives. One, he must arrest the collapse and, if possible, reverse it. Second, he has to reconstruct the financial system because it cannot be restored to what it was. This is a new situation. When people see this crisis as being the same as previous financial crises, they're making a mistake."

Mit seiner Aussage, dass die aktuelle Finanzkrise mit keiner anderen vergleichbar ist, dürfte Soros die Finanzkrisen der Nachkriegszeit - Asienkrise usw. - im Auge gehabt haben. Denn mit der 1. Weltwirtschaftskrise, der Great Depression, erscheint mir, was die Ursache angeht, die aktuelle Krise sehr wohl vergleichbar: in beiden Fällen war die Wirtschaft hoch überschuldet.

Was den Krisenverlauf angeht, haben wir natürlich deutliche Differenzen. Die Zentralbanken haben dieses Mal die Welt mit Liquidität geflutet, die Einbrüche der Wirtschaftsleistung sind heute weit weniger stark, das soziale Netz ist (in Deutschland und Europa; in den USA nur sehr begrenzt) stärker ausgebaut, die Staaten haben im Unterschied zu damals nicht (oder nur vereinzelt und versteckt) protektionistisch reagiert usw. Das sind die Unterschiede, die einem zunächst in den Sinn kommen.

Es gibt aber noch einen tieferen Unterschied, der uns möglicher Weise noch zu schaffen machen wird.
Damals wurden Geldeinlagen bei Banken vernichtet; heute werden die an sich untergegangenen Forderungen (d. h. Kredite, die von den Banken bei den Schuldnern nicht mehr eingezogen werden können) auf andere Schultern verteilt; die Eigentümer des Geldes (und u. U. sogar auch die Eigentümer von eigentlich insolventen Banken, also die Bankationäre) bleiben, jedenfalls soweit sie ihr Geld auf einer Bank deponiert haben ungeschoren. (Und für Staatsschulden wird es, Beispiel Griechenland, möglicher Weise ebenso laufen.)
Darauf hat der wegen seiner frühzeitigen Voraussage der Krise als "Dr. Doom" bekannte Nouriel Roubini hingewiesen (meine Hervorhebung):
"However, fiscal policy cannot resolve problems of credit, and it is not without cost. Over the next few years it's going to add about $9 trillion to the US public debt. Niall Ferguson said it's the end of the age of leverage. It's not really. There is not deleveraging. We have all the liabilities of the household sector, of the banks and financial institutions, of the corporate sectors; and now we've decided to socialize these bad debts and to put them on the balance sheet of the government. That's why the public debt is rising. Instead, when you have an excessive debt problem, you have to convert such debt into equity. That's what you do with corporate restructuring—it converts unsecured debt into equity. That's what you should do with the banks: induce the unsecured creditors to convert their claims into equity. You could do the same thing with the housing market. But we're not doing the debt-into-equity conversion. What we're doing is piling public debt on top of private debt to socialize the losses; and at some point the back of some governments' balance sheet is going to break, and if that happens, it's going to be a disaster. So we need fiscal stimulus in the short run, but we have to worry about the long-run fiscal sustainability, too."


Hier liegt ein wesentlicher Unterschied der aktuellen Finanzkrise gegenüber früheren Krisen. Früher gingen Insolvenzen voll zu Lasten der Banken bzw. schlugen sehr häufig auf die Geldgeber durch, wenn aufgrund massierter Konkurse die Banken selbst pleite gingen. Heute werden die Verluste auf unterschiedlichen Kanälen auf verschiedene Schultern (übrigens keineswegs nur diejenigen der Steuerzahler!) verteilt.

In der Great Depression gingen Banken in Massen in die Insolvenz (vordergründig meist durch "Bank runs", Bankenpaniken, letztlich waren sie aber großenteils wohl nicht nur illiquide, sondern tatsächlich auch insolvent). Hypothekenkredite wurden damals in einem Umfang nicht mehr bedient, der uns heute unvorstellbar erscheinen muss. Nouriel Roubini berichtet in der Diskussion (meine Hervorhebung):
"... by 1933, 75 percent of households had defaulted on their mortgages; they couldn't pay them".
Das Geld der Einleger war damals bei einer Bankpleite futsch bzw. wurde je nach Liquidationserlös für die Werte der Bank nur quotal wieder ausgezahlt. Als Konsequenz aus dieser Erfahrung (und aus der daraus resultierenden Kreditverknappung, denn viele Einleger horteten danach wahrscheinlich ihr Geld unter der Matratze) wurden Einlagensicherungssysteme (Deposit insurance) eingerichtet, die allerdings die Einlagen nur bis zu einem bestimmten Höchstsatz garantierten (und garantieren). Vielleicht die erste derartige Institution wurde 1933 in den USA gegründet, die "Federal Deposit Insurance Corporation". (Deutschland folgte später - vgl. Wikipedia-Stichwort "Einlagensicherung").

Ich vermute, dass die Vernichtung von Geldeinlagen, also der Untergang von Forderungen der Finanzwirtschaft gegen die Realwirtschaft, im Ergebnis als eine Bereinigung gewirkt hat; die Schuldenquote der Realwirtschaft (bzw. bei Staatsbankrotten des Staates) war gesenkt; man hatte wieder Luft für die Aufnahme neuer Schulden. Im Ergebnis müssten derartige Schulden"verzichte" die Kaufkraft gesteigert haben, weil die Wirtschaftssubjekte insgesamt nunmehr weniger als vorher an den Finanzsektor 'abdrücken' mussten. (Wobei ein solcher Effekt, wenn es ihn gab, in der Great Depression für eine dauerhafte Konjunkturbelebung jedenfalls in den USA zu schwach war; bekanntlich hat erst der 2. Weltkrieg dieses Land aus der Depression gezogen.)
Diesen Zusammenhang, der mich schon länger beschäftigt, dürfte auch Nouriel Roubini im Auge gehabt haben. Und weil er sich mit dieser Perspektive (erneut) als jemand ausweist, der weiter blickt als der Rest seiner Zunft, weil er beweist, dass er dort Verstand sitzen hat, wo bei der großen Masse der Fachwissenschaftler nur Rechenmaschinen installiert sind, tituliere ich ihn hier mal scherzhaft als "Dr. Zoom".

Wenn man die Verluste (unbegrenzt) sozialisiert, geht die kaufkraftsteigernde Wirkung von Bankrotten, die in der partiellen Befreiung der Realwirtschaft von Forderungen der Finanzwirtschaft liegt, verloren.


Welche Wirkmechanismen insgesamt dahinter stehen, lässt sich vielleicht am Beispiel eines ganz simpel modellierten "Wirtschaftssystems" demonstrieren, das ich [kontrafaktisch und bibelfern ;-)]
"Der Mensch lebt nur vom Brot allein"
nenne.
Das System soll zunächst aus -3- selbständigen Wirtschaftssubjekten bestehen:
- Der Bauer Feld produziert Getreide,
- Müller Mahlstein verarbeitet dieses zu Mehl weiter und
- Bäcker Ofen macht Brot daraus.
Von diesem Brot leben alle drei. Da wir den Zusammenhängen in einer Geldwirtschaft auf die Spur kommen wollen nehmen wir an, dass unsere drei Produzenten ihre Waren nicht naturalwirtschaftlich tauschen, sondern für jeden Eigentumsübergang vom einen auf den anderen einen Kaufpreis in Geld entrichten. Es kommt zu folgenden Transaktionen:
1) Feld verkauft Getreide für 1.000,- € an Mahlstein.
2) Mahlstein verarbeitet dieses zu Mehl und verkauft das Mehl für 2.000,- € an Ofen.
3) Ofen verarbeitet das Mehl zu Brot in einem Gesamtwert von 3.000,- €; einen Anteil im Wert von 1.000,- € verzehrt er selbst (natürlich ohne eine finanzielle Transaktion mit sich selbst zu veranstalten). Brot im Werte von jeweils 1.000,- € verkauft er an Feld und Mahlstein.
Danach haben wir folgende Kontenstände:
4) Feld hat kein Geld mehr, weil er die 1.000,- € von Mahlstein an Ofen "weitergeleitet" hat.
5) "Mahlstein" hat noch 1.000,- €. Von seiner Einnahme von 2.000,- hat er 1.000,- für Brot wieder an den Bäcker bezahlt. Mit den verbleibenden 1.000,- € wird er den Bauern bei der nächsten Getreidelieferung bezahlen müssen, nach welcher er ebenfalls kein Geld mehr übrig hat.
6) Und der Bäcker hat jetzt vom Bauern und Müller jeweils 1.000,- eingenommen, besitzt also 2.000,- €. Die aber muss er bei der nächsten Mehllieferung an Mahlstein 'abliefern', wonach er zunächst ebenfalls geldlos ist.
Das Geld läuft in diesem System also in einem perfekten Kreislauf um, während die Ware dagegen nach Zwischenstufen der Bearbeitung letztlich verbraucht wird und neu produziert werden muss. Das scheint mir schon ein ganz brauchbares Grundmodell für unsere arbeitsteilige und mit Geldtransaktionen arbeitende Wirtschaft zu sein.
Es funktioniert auch vorzüglich - nur leider allzu gut, um uns über mögliche Störfaktoren Aufschluss geben zu können. Ich lasse "exogene" Faktoren, wie z. B. schwankende Mengenerträge der Getreideernte, mal beiseite, weil es hier um die Frage geht, ob im Konstruktionsschema des Geldsystem oder des Kapitalismus' als solchen potentielle Störfaktoren angelegt sind.
Dies ist in der Tat der Fall: wenn das Geld abgesogen wird, kommt unsere Brotesser-Ökonomie zum Erliegen. Eine Geldentnahme aus meinem System lässt sich in naher Anlehnung an die Wirklichkeit auf dreierlei Weise modellieren:

A.) Der Staat zieht Steuern ein (und/oder die Mafia Schutzgelder). Das ist für die Funktionsfähigkeit des Geldkreislaufs kein Problem, wenn a) genügend Überschüsse im System vorhanden sind, also die Produktiven nicht verhungern müssen (in unserem Beispiel könnten wir z. B. die Mengen, repräsentiert durch die unveränderlich gedachten Preise, verdoppeln) und b) der Staat und/oder die Mafia ebenfalls Brot für das Geld kaufen, es also vollständig wieder in das System einspeisen.

Schwierigkeiten für ein reibungsloses Funktionieren ergeben sich in den beiden folgenden Modellen, die (ebenfalls in enger Anlehnung an unsere ökonomische Realität) eine teilweise Entnahme von Geld aus dem Kreislauf vorsehen und dieses nur leihweise, also im Kreditwege, wieder einspeisen.
Interessanter Weise liegen die möglichen Problemursachen hier teilweise schon im Geldsystem als solchem begründet. Allerdings verschärfen sie sich potentiell in einem kapitalistischen System, also bei Fremdbesitz der Produktionsmittel.

B) Unsere weiterhin als selbständig gedachten -3- Wirtschaftssubjekte (Staat und Mafia denken wir uns mal wieder weg) produzieren die doppelten Mengen/Beträge und damit Überschüsse. Wenn also Bauer Feld von Müller Mahlstein 2.000,- € erhalten hat, aber nur 1.000,- benötigt, um seinen Brotbedarf (jeweils für eine gegebene Periode, meinetwegen von Ernte zu Ernte) zu decken, kann er die überschüssigen 1.000,- € entweder investieren, indem er z. B. das Brot an ein Schwein verfüttert, um später neben Getreide auch Schweinefleisch zu verkaufen. Alternativ kann er den Überschuss aber auch auf die hohe Kante legen und genau das tut er in unserem Modell auch. Dann sieht unser Systemzustand so aus:
1) Feld verkauft Getreide für 2.000,- € an Mahlstein.
2) Mahlstein verarbeitet dieses zu Mehl und verkauft das Mehl für 4.000,- € an Ofen.
3) Ofen verarbeitet das Mehl zu Brot in einem Gesamtwert von 6.000,- €. Einen Anteil im Wert von 1.000,- € verzehrt er selbst (natürlich ohne eine finanzielle Transaktion mit sich selbst zu veranstalten); eine weitere Menge im Wert von 1.000,- € nimmt er auf Lager, weil er dafür keine Abnehmer hat. Brot im Werte von (nach wie vor nur:) jeweils 1.000,- € verkauft er an Feld und Mahlstein.
Danach haben wir folgende Kontenstände:
4) Feld hat 1.000,- € von den von Mahlstein erhaltenen 2.000,- € an Ofen "weitergeleitet" (Brot von ihm gekauft); die überschüssigen 1.000,- € hat er im Kopfkissen versteckt.
5) Mahlstein hat von den von Ofen erhaltenen 4.000,- € an Feld 2.000,- für Getreide weitergeleitet und 1.000,- für Brot an Ofen gezahlt; auch er hat also noch 1.000,- € übrig.
6) Ofen hat von Feld und Mahlstein jeweils 1.000,- für das Brot erhalten; in der nächsten Runde kann er demnach nur noch für diese insgesamt 2.000,- € Mehl einkaufen (dass er außerdem noch Brot im Wert von 1.000,- € gelagert hat nützt ihm nichts, weil wir Tauschhandel in unserem System ausschließen und weil ohnehin für diesen Brotüberschuss keine Nachfrage besteht).
Wie sieht die weitere Entwicklung in unserem System aus? Wir sind jetzt wieder auf dem Subsistenzniveau unseres Ausgangsmodells angelangt; die 2.000,- € werden weiterhin im System kreisen, weil die Wirtschaftssubjekte auf diesem Niveau keine Sparmöglichkeit mehr haben.

C) In dieser Fallvariante führen wir endlich den lang erwarteten Kapitalisten ein. Diesem gehören sämtliche Produktionsmittel (der Boden des Bauern, die Mühle des Müllers und das Backhaus des Bäckers); er verlangt dafür Miete. Entsprechende Überschüsse in der Produktion wiederum vorausgesetzt ist die Situation dann zunächst nicht anders, als wenn der Staat Steuern abzwackt (beide Modelle lassen sich, bei entsprechend höherem Surplus, natürlich auch kombinieren). Ein Problem entsteht dann, wenn der Kapitalist spart. Sagen wir er verlangt von jeder Transaktion 20% und gibt davon nur 10% aus. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass auf diese Weise auf die Dauer das Geld aus der Wirtschaft herausgesogen wird. Aber als anständiger Kapitalist, der er nun einmal ist, will er sein Geld ja arbeiten lassen. Spätestens dann, wenn die Geldmenge unter jenes Niveau gefallen ist, das für Transaktionen auf dem Level des Existenzbedarfs benötigt wird, müssten sich unsere produzierenden Wirtschaftssubjekte verschulden, indem sie beim Kapitalbesitzer Kredit aufnehmen. Leider müssen sie jetzt nicht mehr nur 20% an den Finanzier abführen, sondern zusätzich noch Kreditzinsen. Selbst also dann, wenn sie durch die Kreditaufnahme ihre Transaktionen wieder auf das Ausgangsniveau bringen konnten, kommen sie davon bald wieder herunter. Erneut hat sich das Geld beim Kapitalbesitzer gesammelt, und immer weniger kreist noch in der Realwirtschaft, weil der Eigentümer der Produktivgüter ja bei jeder Transaktion eine Abgabe verlangt. Dieses Mal wird der Kapitalbesitzer den Arbeitenden auch keinen Kredit mehr geben, weil sie ihm aus der früheren Verschuldungsrunde zwar Zinsen gezahlt haben, aber die Hauptforderungen nicht mehr tilgen konnten.
In dieser Lage könnte man ein Spiegelbild der aktuellen Situation in der Finanzkrise vermuten, aber im Moment geht es mir nur um allgemeine Überlegungen zur Funktionsweise einer kapitalistischen Geldwirtschaft. [Wer etwa konkrete Zahlen über die schon im Jahre 2000 erschreckend hohe Verschuldung insbesondere der Geringverdiener in den USA lesen möchte, sowie auch einige andere sehr informative Daten zum damaligen Stand der Wirtschaft, kann diese in der Monthly Review vom Mai 2000 in dem Artikel "Working Class Households and the Burden of Debt" finden, der von den beiden Herausgebern Harry Magdoff und John Bellamy Foster verfasst wurde. Man wundert sich, wie das amerikanische Finanzsystem dann noch 7 oder 8 Jahre (je nachdem, an welchen Ereignissen man den Zusammenbruch festmachen will) weitermachen konnte, bis der Crash offenkundig wurde. Im übrigen warten zwei weitere Texte von bzw. mit John Bellamy Foster noch auf meine Lektüre: "The Household Debt Bubble" vom Mai 2006 und das Interview "The "Great Financial Crisis": A whole new kind of struggle is emerging" vom 27.02.2009]

Für meine Zwecke reicht es hier, dass ich den Beweis der Funktionsunfähigkeit einer kapitalistischen Wirtschaft geführt habe.
Das sei, werden Sie sagen, Quatsch, denn schließlich habe doch der Kapitalismus über lange Jahre - mindestens gut 60 Jahre nach dem 2. Weltkrieg - gar nicht schlecht funktioniert. Was ich auch keineswegs bestreite.
Wäre es dennoch möglich, dass wir beide Recht haben?

Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer und lässt sich auflösen indem man annimmt, dass das Grundmodell unserer kapitalistischen Geldwirtschaft in der Tat nicht über längere Zeit funktionieren kann, dass aber in der Realität eine ganze Reihe von Umständen hinzukommen, welche die Mängel des Grundsystems zumindest über einen längeren Zeitraum hin ausgleichen.

Der Nutzen einer solchen Betrachtungsweise könnte im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise darin liegen, dass nicht die Krise der 'schwarze Schwan', ein eigentlich gar nicht zu erwartendes und unerklärliches Ereignis, ist, sondern erklärungsbedürftig wäre zunächst einmal, wieso der Kapitalismus in der Praxis ganz gut funktioniert hat, obwohl doch die Kapitalisten laufend Geld aus der Realwirtschaft herausziehen (d. h. sparen; dass sie den Produzierenden einen Teil von deren Konsumpotential für sich selbst "abzweigen", ist irrelevant, weil es uns hier nicht um Moral, sondern um die theoretische Funktionsfähigkeit eines Geldsystems geht, und für ihren Konsum speisen sie das den Produzenten abgezwackte Geld ja wieder in den Kreislauf ein), was theoretisch zu deren Zusammenbruch führen müsste.
Zu denjenigen Umständen, welche den Grundfehler der Geldwirtschaft (nämlich die Anfälligkeit der Realwirtschaft für ständige 'Blutentnahmen' zu Gunsten der Finanzwirtschaft) neutralisieren, dürften zählen:
- Wachstum des Gesamtsystems (durch Populationszunahme und/oder Produktivitätszuwächse)
- Inflation (die das Finanzvermögen im Verhältnis zum Güterangebot verringert)
- Steuern auf Kapitaleinkommen und Kapitalvermögen (die das Finanzvermögen gleichfalls verringern)
- Kriege (mit derselben Funktion)
- die Giralgeldschöpfung, die ich in meinem Modellen gänzlich außen vor gelassen habe, weil mir deren Auswirkungen im Rahmen des Modells einfach unklar sind
- und vielleicht noch eine Reihe anderer Umstände (welche Rolle spielt die Verteilung der unterschiedlichen Ereignisse in der Zeit???).

Klärungsbedürftig im Hinblick auf die aktuelle Krise wäre dann, ob und ggf. welche Elemente, die früher zum Funktionieren unserer Geldwirtschaft beigetragen haben, weggefallen sind und ob es sich nur um ein vorübergehendes Aussetzen handelt, oder ob sich (aus welchen Gründen auch immer) die Bedingungen fundamental derart gewandelt haben, dass das System zukünftig unmöglich in der gewohnten Weise funktionieren kann. (Insoweit könnte man, wie Keynes schon vor 80 Jahren, z. B. an eine Sättigung des Produktionsniveaus in den entwickelten Ländern denken, die es unmöglich macht aus weiteren realwirtschaftlichen Investitionen noch nennenswerte Erträge zu erzielen - die berühmte "euthanasia of the rentier", der "sanfte Tod des Rentners", wie der erste deutsche Übersetzer formulierte).
Klar ist, dass der Wirtschaftswissenschaft weder die tieferen Ursachen der Krise klar sind, noch sie zweifelsfreie Rezepte zu deren Bekämpfung hat.

In der o. a. Debatte bemerkte der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson dazu:
"Now we're in the therapy phase. And what therapy are we using? Well, it's very interesting because we're using two quite contradictory courses of therapy. One is the prescription of Dr. Friedman—Milton Friedman, that is—which is being administered by the Federal Reserve: massive injections of liquidity to avert the kind of banking crisis that caused the Great Depression of the early 1930s. I'm fine with that. That's the right thing to do. But there is another course of therapy that is simultaneously being administered, which is the therapy prescribed by Dr. Keynes—John Maynard Keynes—and that therapy involves the running of massive fiscal deficits in excess of 12 percent of gross domestic product this year, and the issuance therefore of vast quantities of freshly minted bonds.
There is a clear contradiction between these two policies, and we're trying to have it both ways. You can't be a monetarist and a Keynesian simultaneously
..."

Andere Diskussionsteilnehmer (Paul Krugman) haben dem zwar widersprochen, aber auch sie konstatieren (auf der Zeitschiene) Widersprüche, welche wir mit unserem derzeitigen Wissensstand nicht auflösen können.
George Soros etwa stellt fest (meine Hervorhebung):
"The interesting thing is that what needs to be done in the short term is almost exactly the opposite of what needs to be done in the long term. Obviously the problem was excessive leverage. But when you have a collapse of credit there's only one source of credit that is still credible, and that's the state: the Federal Reserve and the Treasury. Then you have actually to inject a lot more leverage and money into the economy; you have to print money as fast as you can, expand the balance sheet of the Federal Reserve, increase the national debt. And that is, in fact, what has been done, which is the right thing to do. But then once this policy is successful, you have to rein in the money supply as fast as you can."
Und wieder ist es Nouriel Roubini (nicht der Nobelpreisträger Paul Krugman), der die Richtigkeit dieser Sicht der Dinge bestätigt (meine Hervorhebung):
"I think that the debate here is about what needs to be done in the short term versus the long term."
(Roubini bestätigt indirekt auch Niall Fergusons Meinung, dass die US-Defizite großenteils durch die US-Notenbank (also durch 'Gelddrucken') finanziert werden, und dass darin eine enorme Inflationsgefahr liegt: "I agree, however, that we have to worry about the long run. If we're going to finance budget deficits by printing money, we may have high inflation, even risk of hyperinflation in some countries. That's what happened in Germany in the 1920s during the Weimar Republic. We are having large budget deficits and increasing the public debt, we don't know whether it's going to be $5 trillion or $10 trillion of more debt. But there are only a few ways of resolving that debt problem: either you default on it as countries like Argentina did; or you use the inflation tax to wipe out the real value of the debt; or you have to raise taxes and cut government spending. And given the size of the deficits, over time that's going to be a painful political choice to make. So we need the stimulus in the short run, but we need to restore medium-term fiscal sustainability.")
George Soros bringt mehrfach das Problem der Überschuldung bzw. des Umgangs damit auf's Tapet (meine Hervorhebungen):
"This living beyond our means accumulated mainly in the housing sector and the financial sector, and now those liabilities are being nationalized. It's a bit unfortunate that so far we have only nationalized the liabilities of the banks, and not their assets."
"I think the challenge for the US economy is, can we grow without excessive credit and leverage? Can we grow in a more sustainable way? And what are going to be the sectors of the economy that give us sustainable, long-term growth? I think that's an open question."
Was die "Verstaatlichung der Schulden" ("liabilities are being nationalized") angeht bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit tatsächlich der Staat die Zeche zahlt. Natürlich zahlen die Staaten weltweit mit Steuerausfällen und steigenden Aufwendungen für Sozialausgaben und Konjunkturprogramme indirekt eine gigantische Rechnung; die Verluste des Finanzsystems werden sich aber wohl verteilen auf Staatshilfen einerseits und freiwillige Einzahlungen von Privaten (Kapitalerhöhungen von Banken) andererseits. Nach meinem Eindruck wird jedoch ein weiterer (und großer) Teil der Verluste aktuell durch Änderung der Buchungsregeln versteckt, um erst über einen längeren Zeitraum, also erst in der Zukunft, durch gestiegene Gewinnspannen (Zinsmargen im Geschäft mit der Realwirtschaft, vielleicht auch "Casinoeinnahmen" im Eigenhandels- und Derivategeschäft mit den Geldbesitzern) ausgeglichen zu werden (ist das etwa schon in der Japankrise der 90er Jahre so gelaufen, wo oft kritisch von "Zombiebanken" die Rede ist, obwohl möglicher Weise gerade dieses Mittel zur Krisenbekämpfung durchaus effektiv war? Vgl. die Forschungsergebnisse von Richard Koo in der Zusammenfassung von Dieter Wermuth).

Und eben da könnte ein Problem liegen, dass nämlich das Geld der Realwirtschaft - auf welchem Wege auch immer - wieder entzogen werden soll und muss, um die Kapitalbesitzer (seien es Milliardäre, Kleinstsparer oder Pensionsfonds) schadlos zu halten. Gänzlich einmalig ist das nicht, das hat schon Japan in der dortigen Krise der 90er Jahre so gehandhabt (s. o.). Dafür hat es allerdings heute einen gigantischen Schuldenberg. Die Gelddruckerei der japanischen Notenbank hat wohl nur deshalb keine Hyperinflation ausgelöst, weil die Yens in sog. "Carry Trades", in einem Arbitragehandel unter Ausnutzung insbesondere international unterschiedlicher Zinsniveaus, großenteils ins Ausland verschleppt wurden. Gut möglich, dass auch diese Kapitalflut zur Finanzkrise beigetragen hat. Man kann sich durchaus vorstellen, dass eine Anwendung der japanischen Rezeptur im Weltmaßstab eine Katastrophe auslöst. Was in einem Teilsystem funktioniert (vielleicht deshalb, weil Lasten in andere Teilsysteme exportiert werden?) kann auf gesamtsystemischer Ebene in die Hose gehen - ein sogenanntes Emergenzphänomen.



Im übrigen ist es natürlich denkbar, dass alles, was ich hier denke (und mühsam auszuformulieren versuche), bereits gedacht worden ist, oder sich z. B. auch schon in entsprechend konzipierten Spielen niedergeschlagen hat. Dann haben meine Überlegungen allenfalls für mich selbst einen Nutzen, insofern, als ich durch tieferes Eindringen in die Materie diese besser verstehen kann (konkret z. B. einen anspruchsvollen fachlichen Text wie The Roving Cavaliers of Credit von Steve Keen auf dessen Webseite DebtWatch vom 31.01.2009).
Ganz allgemein wäre es aber vielleicht keine schlechte Idee (falls nicht schon umgesetzt), wenn man ein weltweites Spiel im Internet veranstalten würde, welches die Wirtschaft mit möglichst vielen ihrer tatsächlichen Züge abbildet.
Das fördert vielleicht die Erkenntnis, denn vieles von dem, was Ökonomen von sich geben, erinnert mich fatal an den Stand der medizinischen "Wissenschaft" zu Zeiten der alten Pestärzte. (Allerdings besteht zwischen der Pest und den Finanzmärkten ein wesentlicher Unterschied: bei der ersteren hatten alle Menschen ein Interesse an Aufklärung. Bei letzerer haben dagegen viele ein Interesse daran, die Funktionsweisen im Dunklen zu lassen und die breite Masse zu täuschen und zu ängstigen - vgl. z. B. die Debatte über europäische Hilfszahlungen für Griechenland zur Abwendung eines Staatsbankrotts!)

Insbesondere kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass, um Gelehrsamkeit demonstrieren zu können, Komplexität auch dort gesucht wird, wo (jedenfalls zunächst einmal) ganz einfache Fragen zu klären und Antworten zu geben (bzw. zu suchen) wären.

Wissenschaftsgeschichtlich fängt für mich das Elend, bzw. die Verschleierung von (ökonomischer) Wirklichkeit durch die Wirtschaftswissenschaft spätestens bei dem heute wieder viel beachteten und über den grünen Klee gelobten Irving Fisher und seiner Debt Deflation Theory of Great Depressions an. Fishers Ansatz ist insofern asymmetrisch, als er die Realität einer Überschuldung der Wirtschaftssubjekte als notwendige Voraussetzung einer Wirtschaftskrise durchaus sieht. Schon im nächsten Schritt verdeckt er aber das Solvenzproblem, indem er zur Krisenbekämpfung Liquiditätszufuhr (Geldpolitik der Notenbank, also aktuell das Bernanke-, EZB- usw.-Rezept) sowohl empfiehlt als auch für ausreichend hält. Insolvenz (dauerhafte Zahlungsunfähigkeit) und Iliquidität (als nur vorübergehende Zahlungsunfähigkeit verstanden) sind jedoch 2 (zwar nicht völlig zusammenhanglose aber letztlich doch:) unterschiedliche Dimensionen. Es wird sich noch zeigen (und ich bezweifele es), ob man dem Solvenzproblem der Schuldner in unserer (bzw. speziell in der amerikanischen) Wirtschaft mit bloßer Liquiditätszufuhr (d. h. weitere Kredite!) wirklich beikommen kann.
Die spätere Forschung über die 1. Weltwirtschaftskrise hat in meinen Augen die Mystifikation der Krisenursachen fortgeführt. Bei der Suche nach Übertragungskanälen von Störungen zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft spielt das Problem der Überschuldung der Realwirtschaft und der Hypertrophie der Finanzwirtschaft (des Kreditwesens) kaum noch eine Rolle. (Für einen Forschungsüberblick - Stand 1993 - vgl. von Charles W. Calomiris das Papier "Financial Factors in the Great Depression").

"Back to the roots", also zur Überschuldungsproblematik, muss dagegen aus meiner Sicht sich wenden, wer wirklich an einer tieferen Ursachenerkenntnis von großen Finanz- und Wirtschaftskrisen interessiert ist.


Andererseits könnte sich im Hinblick auf die Ressourcenverknappung jegliches ökonomisches Denken herkömmlicher Art, oder auch unkonventioneller Art über herkömmliche Probleme, als Spiegelfechterei erweisen. Zumindest derzeit bleibt aber ein solches Nachdenken eine reizvolle intellektuelle Freizeitbeschäftigung.


Nachtrag 07.01.09
Das Modell der Brotesser-Wirtschaft habe ich jetzt, weil es mir sehr wichtig erscheint, in einem neuen Blott aus seinem hier allzu üppigen Beiwerk herauspräpariert: "Die Ökonomie der Artos-Phagen: Warum eine eigentumsbasierte Geldwirtschaft (im Basismodell) nicht dauerhaft funktionieren kann."





Textstand vom 07.01.2010. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
finden Sie eine Gesamtübersicht meiner Blog-Einträge (Blotts).
Zu einem „Permalink“, d. h. zu einem Link nur zum jeweiligen Artikel, gelangen
Sie mit einem Klick auf das Erstellungsdatum unterhalb des jeweiligen Eintrages.
Soweit die Blotts Bilder enthalten, können diese durch Anklicken vergrößert werden.

2 Kommentare:

  1. hey,

    dann oute ich mich mal als leser ;-)

    und verweise kurz auf buiters blog
    http://blogs.ft.com/maverecon/

    er hat sowohl zur nachhaltigkeit von staatsverschuldung, wie auch zur umwandlung von schulden zu eigentum mehrere beiträge geschrieben die was du andenkst zu ende denken ... unteranderem: "wie kann man staatsverschuldung eine eigenkapitalähnliche form geben?"

    frohes neues
    inti

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  2. Hallo "inti",

    herzlichen Dank für deinen Kommentar. Ich habe mir mal einige Einträge von Buiter angesehen und dabei Beute für meinen Blott "Endlich! Deutsche Nationalhymne runderneuert: Dummland Deutschland zahlt für alle, Alle PIGS der Euro-Welt" (http://beltwild.blogspot.com/2009/12/endlich-deutsche-nationalhymne.html) gefunden, die ich heute in einem Nachtrag eingebaut habe (auch Buiter spricht sich im Ergebnis gegen eine Hilfe der anderen Staaten für z. B. Griechenland aus).

    Auf die Schnelle nicht finden konnte ich Beiträge zu den Themen "umwandlung von schulden zu eigentum" und "wie kann man staatsverschuldung eine eigenkapitalähnliche form geben?"

    Leider fehlt mir die Zeit, Buiters Blog intensiv zu lesen (obwohl er es zweifellos verdient hätte; er wird ja auch bei "Weissgarnix" und im "Herdentrieb" (die ich freilich aus Zeitmangel ebenfalls nicht regelmäßig verfolge) des Öfteren referenziert.

    Solltest du zufällig einschlägige Links in deinen Lesezeichen / Favoriten gespeichert haben, wäre es nett, wenn du sie hier (damit auch eventuelle andere Leser etwas davon haben) einstellen würdest.

    Auch dir die besten Wünsche zum Neuen Jahr und noch einmal vielen Dank für den wertvollen Hinweis!

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