Dass die Deutschen die Demokratie nicht wirklich verinnerlicht haben, hat sich in der (fehlenden) Debatte vor der bzw. über die ‚ESM-Eilentscheidung‘ des Bundesverfassungsgerichts vom 12.09.2012 gezeigt.
Selbstverständlich ist es wichtig, künftige Entwicklungen möglichst
realistisch einzuschätzen und sich nicht von eigenen Wünschen zu Illusionen
verleiten zu lassen. So betrachtet war es durchaus vernünftig, wenn die
öffentliche Debatte schon lange vor der Karlsruher Entscheidung davon ausging,
dass das Verfassungsgericht die Klagen im Wesentlichen abweisen würde. (Ein
äußeres Anzeichen für diesen Ausgang war der Umstand, dass das Gericht den Verkündungstermin
für seine Entscheidung just auf den Wahltag in den Niederlanden gelegt hatte,
was möglicherweise mit der Bundesregierung ausgekungelt wurde. Die Richter
konnten davon ausgehen, dass die Eurettungspolitik vor dieser Wahl ohnehin
keine größeren Aktivitäten entfalten würde, um die holländischen Wähler nicht
zu verprellen.) Dennoch hätte ich mir jedenfalls von den Gegnern der
Euhaftungspolitik weniger Kleinmütigkeit gewünscht. Man hätte dem Gericht
signalisieren können: „Es würde uns zwar
nicht überraschen, wenn ihr ein politisiertes Urteil fällt. Aber das werden wir
so auseinandernehmen, dass alle Welt eure Schande sehen und euer juristisches
Mäntelchen zuschanden wird.“
Solche Argumente habe ich weder vorher gesehen, noch hat die öffentliche
Debatte hinterher die Entscheidung des Gerichts detailliert zerpflückt. Zwar
gab es am Entscheidungstag einige kritische Medienartikel: So in der WELT
(Thomas Schmid, hier)
und in der Süddeutschen (Heribert Prantl u. a., hier).
Besonders tief und kritisch ist Thomas Darnstädt bei SpiegelOnline in die
rechtlichen Zusammenhänge eingestiegen (hier).
Aber schon ihrer Natur nach konnten diese Analysen die Schlüssigkeit der
höchstrichterlichen Entscheidung nicht im Detail hinterfragen.
Aus Juristenkreisen kam einiges an Interviews und Artikeln (bemerkenswert
z. B. dieser
Kommentar des ESM-Befürworters Ingolf Pernice). Was ich allerdings auch dort vermisst
habe, war vorher ein nachdrückliches Beharren auf dem Recht. Und nach der
Urteilsverkündung eine genaue Analyse, auf welche Weise die Richter ihre
bisherige Rechtsprechung im Kern ins Gegenteil verkehrt haben, ohne das
offenzulegen. Eine rühmliche Ausnahme macht Paul Kirchhof, Rechtsprofessor in
Heidelberg und früher selber Verfassungsrichter. (Zeitweise war er auch
CDU-Schattenminister für Finanzen; der Partei ist seine Ehrlichkeit damals am
Wahltag allerdings schlecht bekommen). Der hat vor und nach dem Urteil
unerbittlich die Forderung erhoben, allein nach der Rechtslage zu entscheiden,
sozusagen ein „fiat justitia (et pereat
Euro)“.
Kirchhof hatte seine ehemaligen Kollegen am 12.07.2012 auf FAZ.net in
einem Artikel u. d. T. „Verfassungsnot!“
(hier)
eindringlich davor gewarnt, das Recht zu beugen, um politischen oder
ökonomischen Scheinwerten zu dienen:
„Der Unionsvertrag betont besonders
die finanzielle Eigenverantwortlichkeit jedes Mitgliedstaates. Dadurch werden
Anreize zu weiterer Verschuldung unterbunden und die Hoffnung aus der Welt
geschafft, Staaten könnten neue Kredite aufnehmen, deren Zahllasten aber auf
andere Länder überwälzen. … Die Bundesrepublik Deutschland hätte dem Vertrag
über die Währungsunion nicht zugestimmt, wenn diese rechtlichen Sicherungen
[also das „Bailoutverbot“] nicht vorher verbindlich vereinbart worden wären. …
Die Finanzautonomie jedes Staates ist Voraussetzung für eine Demokratie, in der
die Steuerzahler die staatlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens und ihres
Wirtschaftens finanzieren und in der sie selbst, repräsentiert durch ihre
Abgeordneten, über die Staatsaufgaben, die Staatsausgaben, die Steuern und die
Schulden entscheiden. … Die Euro-Union nähert sich einer Einstands- und
Haftungsgemeinschaft. Mancher Interpret des Unionsvertrages begleitet diese
Entwicklung mit einer überdehnenden Interpretation der Vertragsinhalte. Das,
was um der Stabilität des Euro willen ausgeschlossen werden sollte, sei
durchaus erlaubt. Andere bemühen das Stichwort von der Not, die kein Gebot
kenne … . Das ist ein riskantes Unterfangen. Ohne Recht gibt es keinen Frieden.
Wir würden zum Faustrecht, zum Kampf aller gegen alle zurückkehren. … Ohne
Recht fehlt dem politischen Mandat seine Grundlage. Rat, Kommission und ihr
Präsident, Parlament und Europäischer Gerichtshof wären ohne Legitimation und
rechtlich definierte Aufträge. … Nun wird niemand diesen elementaren
Rechtsverlust wollen. Wohl aber sind viele bereit, im Heute ein Stück des Weges
in die weitere Illegalität voranzuschreiten, weil dieser Weg beachtliche
Gewinne verheißt oder auch nur die Chance bietet, drohende Verluste auf andere
zu verschieben. Wir spielen mit dem Feuer, wollen selbstverständlich niemals
den großen Brand. Doch dieser droht ernstlich. … Eine Instabilität des Rechts
wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen. Niemand wird leichtfertig
über Wirtschaft, Markt und Finanzen sprechen, schon gar nicht leichtsinnig
wirtschaftspolitische Entscheidungen treffen. Aber wenn die Autorität des Rechts
nur durch einen vorübergehenden Verzicht auf Wachstum, durch eine zeitweilige
Prosperitätseinbuße zurückgewonnen werden könnte, müssten wir diesen Weg gehen.
Der umgekehrte Weg, Finanzstabilität durch immer weniger Rechtsstabilität zu
erreichen, ist nicht gangbar.“
Er hat also, darf man sagen, das Gericht regelrecht angefleht, das Recht
nicht auf dem Altar des glitzernden Goldes zu opfern. Und „Recht“ ist für ihn
in diesem Zusammenhang eindeutig die Beibehaltung der No-Bailout-Klausel. Wie
beurteilt er jetzt die Gerichtsentscheidung? Auch dazu hat er sich geäußert,
wenn auch sehr viel verklausulierter. Am 16.09.2012 erschien ein weiterer
Artikel von ihm, der nach seinem Erscheinungsdatum wie auch nach seinem
Charakter als Pendant zu seinem früheren Essay nur als sein Urteil über das
Eilurteil verstanden werden kann: „Schuldenkrise.
Der steinige Weg zurück“ (hier).
Liest man sich die Leserkommentare durch wundert man sich, dass nicht eine(r)
diese Kernaussage des (thematisch allerdings breit gefächerten) Aufsatzes verstanden
hat. Der enthält nämlich (freilich in Lob wie etwa „klare Aussage“ verpackt) eine geradezu vernichtende Kritik an
seinen ehemaligen Kollegen:
„Das Bundesverfassungsgericht
spricht seine Entscheidung in eine Rechtswirklichkeit, in der Autorität und
Gestaltungskraft des Rechts elementar gefährdet sind. Deshalb trifft das Gericht
die klare Aussage, dass ohne Beachtung des rechtsverbindlichen Vertrages und
der vom Gericht benannten Vertragsbedingungen rechtliche Haftungs- und
Zahlungsverpflichtungen unwirksam sind. Dieser Schritt zur Rückgewinnung des
Rechts könnte vom EuGH erweitert und bestärkt werden, wenn dieses Gericht über
den ESM-Vertrag befindet und dabei auch Gültigkeit und Reichweite der geplanten
Ermächtigung zu einem dauerhaften Hilfsmechanismus beurteilt. Die gegenwärtige
Rechtsvergessenheit … sollte durch eine entschlossene Rückkehr zur Stabilität
von Recht und Geld abgelöst werden.“
Eine „klare Aussage“ macht in Wahrheit also nicht das Gericht, sondern
Kirchhof: Wer das Urteil als „Schritt zur
Rückgewinnung des Rechts“ bezeichnet sagt damit zugleich, dass sich die
Entscheidung allenfalls im Schneckentempo in die richtige Richtung bewegt: Von
der notwendigen „Rückgewinnung des Rechts“
ist ein einzelner Schritt weit entfernt. Deshalb setzt Kirchhof seine letzte
Hoffnung auf den EuGH: Dieser möge nun jenen Zustand der „Rechtsvergessenheit“ beseitigen, aus dem uns das Urteil des BVerfG
nicht befreit hat. Realistisch ist seine Hoffnung nicht; das weiß Kirchhof
zweifellos auch selber. Aber als Forderung ist der Text die verbale Geste eines
unbeugsamen Mahners, der nicht schon im vorauseilenden Gehorsam dem EuGH einen
faulen Kompromiss andient. Und der auch dem BVerfG einen solchen nicht durchgehen
lässt.
Kirchhofs Artikel dürfte insoweit weniger an die breite Öffentlichkeit
adressiert sein, als vielmehr an seine ehemaligen Richterkolleginnen und ~kollegen.
Denen muss er nicht im Einzelnen erklären, dass und auf welche Weise sie das
Recht missachtet haben: Die wissen das selber nur zu gut. Uns erschließt sich diese
Rechtsmanipulation nur dadurch, dass wir uns die entscheidenden Passagen der
Urteilsbegründung Satz für Satz und Wort für Wort anschauen und mit der
vorangegangenen Rechtsprechung vergleichen. Dabei geht es nicht darum, ob uns
das Ergebnis in fiskalischer oder sonstiger Hinsicht inhaltlich missfällt. Hinterfragt
werden soll einzig und allein, mit welchen argumentativen Finten das
Bundesverfassungsgericht seine verblüffende Kehrtwendung begründet und vor
allem verschleiert. Um den Richtern insoweit auf die Schliche zu kommen muss
man ebenso wenig Jurist sein wie der Verfasser; einen solchen Durchblick kann
sich jeder verschaffen, der (intensiv) lesen und logisch denken kann.
Dazu muss man sich allerdings zunächst einmal klarmachen, dass die
öffentliche Debatte am eigentlichen Kern der Entscheidung vorbeigeht. Nach allgemeiner
Vorstellung dreht sich der ei dem Verfassungsgericht anhängige Rechtsstreit um
Deutschlands Beitritt zum Vertrag zur Einrichtung des Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) Schon kaum noch wahrgenommen wird (und
dieser Punkt spielt auch bei mir keine Rolle), dass die Kläger auch gegen
Deutschlands Beitritt zum sog. Europäischen Fiskalpakt geklagt haben.
So gut wie niemand hat aber auf dem Radar, dass die Kläger einen 3. Punkt
anfechten: Die Aufhebung des Bailout-Verbots in der Eurozone. Dies soll in Form
eines neu eingeführten Abs. 3 des Art. 136 Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union AEUV geschehen, und nur dadurch kann juristisch der
ESM-Vertrag überhaupt eingeführt werden (hier).
Anders gesagt: Wenn das Bailout-Verbot verfassungsmäßig zwingend wäre, müsste
seine Aufhebung logischer Weise verfassungswidrig sein. Deutschland dürfte in
diesem Falle weder dieser Vertragsänderung zustimmen, noch dem ESM-Vertrag
beitreten. Die einschlägigen Texte lauten:
Art. 125 Abs. 1 des „Vertrages über
die Arbeitsweise der EU“ AEUV (stark gekürzter Auszug):
Ein Mitgliedstaat
haftet nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats und tritt
nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.
Art. 136 AEUV Abs. 3, der jetzt neu eingefügt werden soll, lautet:
„Die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen
Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar
ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die
Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird
strengen Auflagen unterliegen.“
Wie allgemein bekannt, hat das Bundesverfassungsgericht die Klagen jetzt in
der Hauptsache abgewiesen (wenn auch rein formal zunächst nur vorläufig im
Eilverfahren). Weitestgehend unbemerkt blieb leider, dass die gegenwärtige
Entscheidung in einem unaufhebbaren Widerspruch zu jenen Grundsätzen steht,
welche die Richter selber vor nur einem Jahr aufgestellt hatten. Und zwar zu
einem Zeitpunkt, als die Abschaffung des Bailout-Verbots und die Einrichtung
des unbefristeten ESM-Bailout-Fonds politisch bereits beschlossen waren! Die
aktuelle Entscheidung ist mit den seinerzeit von den Richtern geäußerten
Rechtsmeinungen logisch schlicht unvereinbar.
Am 07.09.2011 hatten die Richter über Klagen gegen den EFSF und die
Griechenlandhilfe zu entscheiden. Damals hatten Sie im Abs. 129 festgestellt
(Text von mir stark gekürzt; Original hier):
„Vorschriften zur Ausgestaltung der
Währungsunion sichern verfassungsrechtliche Anforderungen des
Demokratiegebots. Zu nennen sind insbesondere das Verbot der
Haftungsübernahme (Bail-out-Klausel). [Daraus] lässt sich entnehmen, dass die Eigenständigkeit der nationalen
Haushalte für die gegenwärtige Ausgestaltung der Währungsunion konstitutiv [grundlegend,
elementar] ist, und dass eine
Haftungsübernahme für andere Mitgliedstaaten - durch direkte oder indirekte
Vergemeinschaftung von Staatsschulden - verhindert werden soll.“
Das Gericht hatte also die einschlägige Klausel
a) eindeutig als Bailout-Verbot identifiziert. Wenn man sich den
o. a. Text des Art. 125 Abs. 1 AEUV durchliest stellt man fest, dass allein
nach dem Wortlaut zwei unterschiedliche Auslegungen möglich wären:
- „Die Haftung für andere Staaten
ist nicht zwingend, aber auf freiwilliger Basis erlaubt“ und
- „Die Haftung für andere Staaten
ist verboten“.
Insofern hat das BVerfG eine wichtige Festlegung getroffen, wenn es diese
Rechtsnorm als Bailout-Verbot deutet. Diese Auslegung entspricht dem
Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte dieser Passage; aber, wie
gesagt, vom reinen Wortlaut her ist sie nicht zwingend.
b) Noch bedeutsamer ist, dass das Gericht an dieser Stelle das
Bailout-Verbot als ein von Demokratiegebot des Grundgesetzes her
unverzichtbares Element des AEUV erklärt hatte.
Das Demokratiegebot verlangt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass
die vom Volk gewählten Abgeordneten gegenüber fremden Ländern bzw. gegenüber
internationalen Organisationen die Hoheit über den Staatshaushalt behalten. Sie
dürfen also nicht beispielsweise einen Beschluss fassen, dass Deutschland
„Italien bei Bedarf einen Kredit in derjenigen Höhe gibt, die von den
Finanzmärkten nicht abgedeckt wird“. Vielmehr müssen sie immer ganz konkrete
Beschlüsse über die Höhe eventueller Hilfeleistungen fassen. Und vor allem
müssen sie in diesen Entscheidungen frei sein; sie dürfen sich nicht schon
vorher binden.
Das wirft bei genauerem Hinsehen die Frage auf, was man unter einer
solchen Entscheidungsfreiheit verstehen will. Bzw. anders formuliert: Ob es
wirklich ausreicht, wenn die Abgeordneten vor jeder ausgabewirksamen
Entscheidung gefragt werden müssen oder ob nicht, wenn man Hilfsmechanismen wie
den ESM schafft, faktische Zwänge (etwa aus Präzedenzfällen) entstehen, die den
Abgeordneten gar keine andere Wahl lassen, als z. B. einem Hilfeersuchen
Italiens ebenso zuzustimmen wie einem früheren Hilfeersuchen Spaniens unter
vergleichbaren Umständen. Insoweit hatte sich das Gericht in seinem früheren
Urteil (Abs. 102) völlig eindeutig geäußert:
„Die abwehrrechtliche Dimension des
Art. 38 Abs 1 GG kommt daher in Konstellationen zum Tragen, in denen
offensichtlich die Gefahr besteht, dass die Kompetenzen des gegenwärtigen oder
künftigen Bundestages auf eine Art und Weise ausgehöhlt werden, die eine
parlamentarische Repräsentation des Volkswillens, gerichtet auf die
Verwirklichung des politischen Willens der Bürger, rechtlich oder praktisch
unmöglich macht.“
Nicht nur eine bloß rechtliche Zustimmungsbefugnis des Bundestages hatten
die Richter also damals gefordert; das Parlament sollte auch keinen faktischen
Zwängen unterliegen dürfen. Anders lässt sich der Passus „rechtlich oder praktisch“ nicht auslegen. Auch sonst kann eine
Reihe anderer Textstellen in jenem früheren Urteil bei verständiger Würdigung
nicht anders interpretiert werden, als dass es auf die tatsächliche
Entscheidungsfreiheit ankommt, nicht auf ein rein formales Zustimmungsrecht des
Parlaments. So heißt es z. B. in Abs. 104: „Der
Wahlakt wäre entwertet, wenn der Deutsche Bundestag nicht länger über
diejenigen Gestaltungsmittel zur Erfüllung ausgabenwirksamer Staatsaufgaben und
zum Gebrauch seiner Befugnisse verfügte, für deren Inanspruchnahme seine
Handlungsmacht durch die Wähler legitimiert wird.“
Es ist ja auch eine nahe liegende Überlegung, dass der Bundestag diese
Gestaltungsmittel u. U. nicht erst aufgrund rechtlicher Verhältnisse verliert,
sondern schon durch rein politische Zwänge, denen er sich unmöglich entziehen
kann. Und selbst wenn das Parlament über die Auszahlung von Hilfsmaßnahmen
„frei“ entscheiden könnte, ist es ja keineswegs sicher, dass die begünstigten
Staaten gewährte Kredite auch zurückzahlen (können). Spätestens dann kann es z.
B. sein, dass der Bundestag auch rechtlich nach den konkreten Bestimmungen des
ESM-Vertrages gezwungen ist, riesige Milliardenbeiträge als
Gesellschaftskapital nachzuschießen. Auch in dieser Lage wäre er seiner
Entscheidungsfreiheit beraubt.
Dass das Gericht derartige Fragen in seiner Eilentscheidung schlicht und
einfach nicht erörtert hat, ist für mich ein Rechtsskandal allererster Güte.
Schon von sich aus hätte das Bundesverfassungsgericht solche Erwägungen
anstellen müssen. Darüber hinaus wurden sie aber auch von den Klägern
vorgetragen. So schreibt z. B. von B. Prof. Dr. Dietrich Murswiek (für MdB Dr.
Peter Gauweiler) in einem Schriftsatz vom 01.08.2012:
"Ob Deutschland sich in eine Währungsunion
begibt, in der es zwar nicht rechtlich, aber doch faktisch gezwungen ist,
für andere Mitgliedstaaten hohe Milliardentransfers zu leisten, ohne für die
Gründe dieser Transfers verantwortlich zu sein, macht für die
Haushaltsautonomie keinen Unterschied. Die Haushaltsautonomie Deutschlands
und seines Parlaments ist auch dann nicht mehr gegeben, wenn eine autonome
Entscheidung über Haushaltsmittel in Höhe hoher Milliardenbeträge aufgrund
faktischer politischer Zwänge nicht mehr möglich ist. Die demokratiesichernde
Funktion des Bail-out-Verbots besteht darin, solche faktischen Zwänge
auszuschließen."“
Ich weiß nicht, wie es in normalen Verfahren rechtlich zu qualifizieren
wäre, wenn ein Gericht in seiner Urteilsbegründung einen zentralen klägerischen
Vortrag schlicht unter den Tisch fallen lässt. In meinen Augen verletzt das den
Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör. Denn was nutzt es, dass man ein
zentrales Argument in der Klageschrift vorbringen darf, wenn das Gericht darauf
überhaupt nicht eingeht? Diese Unterlassung des Verfassungsgerichts lässt sich
auch nicht mit dem Hinweis auf ein Eilverfahren rechtfertigen: Da das Gericht
nach eigenem Bekunden eine summarische Prüfung der Klageberechtigungen
vorgenommen hat, hätte es sich mit einem derart gravierendes Klägerargument auf
jeden Fall auseinandersetzen müssen.
Nicht nur die vorsätzliche Nichtberücksichtigung zentraler Punkte des
Klägervorbringens diskreditiert das Urteil als eine politisierte Willkürentscheidung.
Das Gericht hat sich beispielsweise auch nicht dazu geäußert, warum es
jetzt der faktischen Aufhebung des Bailout-Verbotes zugestimmt hat, obwohl es
dieses selbst früher zum verfassungsnotwendigen Strukturbestandteil der
Währungsunion erklärt hatte. Plötzlich soll dieses grundgesetzlich geforderte
Strukturmerkmal nur eine von vielen möglichen „Ausprägungen“ der
Währungsgemeinschaft gewesen sein (221): "Die bisherige vertragliche
Ausgestaltung der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft bedeutet indes
nicht, dass eine demokratisch legitimierte Änderung in der konkreten
Ausgestaltung der unionsrechtlichen Stabilitätsvorgaben von vornherein mit Art.
79 Abs. 3 GG unvereinbar wäre. Nicht jede einzelne Ausprägung dieser
Stabilitätsgemeinschaft ist durch die hier allein maßgeblichen Art. 20 Abs.
1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG garantiert." Dreist
erklärt also das Gericht seine totale Kehrtwende zu einer „kontinuierliche[n] Fortentwicklung der Währungsunion zur
Erfüllung des Stabilitätsauftrags“ (Abs. 222).
Im Abs. 233 baut das einen Popanz auf, wenn es schreibt: "Mit der
Aufnahme von Art. 136 Abs. 3 AEUV in das Unionsrecht wird die
stabilitätsgerichtete Ausrichtung der Währungsunion jedoch nicht aufgegeben."
Problematisch an dieser Vorschrift ist ja nicht eine mögliche Beeinträchtigung
der (Kaufkraft-)Stabilität. Die kann das Bailoutverbot in Art. 125 weder nach
seiner Bestimmung noch nach seiner Natur sichern. Vielmehr sollte es die
Haushaltshoheit, also die Haushaltsstabilität gewährleisten, und zwar schon im
rein politischen Bereich, indem es die (potentiellen) Geberländer vor einem
politisch-faktischen Zugzwang schützen wollte, der sie de facto zwingen könnte,
riesige Beträge aus den Steuerleistungen ihrer eigenen Bürger an fremde Länder
zu verschenken. Dass das Gericht diese Zusammenhänge kurzerhand dekonstruiert
und zu einer Scheinrechtfertigung rekonstruiert, hat mit professioneller
Rechtsauslegung nichts zu tun und demaskiert das Urteil als politisch fundiert.
Wie das Gericht die deutsche Sprache missbraucht, um die rein politische
Motivation seiner Entscheidung zu verschleiern, zeigt sich auch in Abs. 234: „Die
Entscheidung des Gesetzgebers, die … Struktur der Währungsunion neben den
bisherigen Elementen … und der auf
Marktanreize setzenden Eigenverantwortlichkeit der nationalen Haushalte [gemeint ist hier das Bailout-Verbot] …
um die Möglichkeit aktiver Stabilisierungsmaßnahmen zu ergänzen … .“ Man
kann es nur als Frechheit in Potenz bezeichnen, wenn das Gericht die faktische
Abschaffung des Bailout-Verbots als eine „Ergänzung“ zu dem auf dem
Papier fortbestehenden Verbot ausgibt.
Noch ärgerlich ist der Umgang des Gerichts mit dem Stabilitätsbegriff. Für
sich genommen ist „Stabilität“ inhaltslos; ein reiner Eigenschaftsbegriff.
Stabil sein können Brücken, Beziehungen oder Währungen (und bei denen wäre noch
zu unterscheiden, ob die Kaufkraft innerhalb des Währungsgebietes stabil ist,
oder der Außenwert, also die Wechselkurse). In vielen Fällen ist aus dem
Zusammenhang erkennbar, dass das Gericht die Kaufkraftstabilität (also Inflationsfreiheit)
der Währungen meint. In anderen Fällen bezieht sich der Stabilitätsbegriff
eindeutig auf die Staatshaushalte. Sehr häufig ist es allerdings unklar, welche
Form von Stabilität das Gericht meint. Offenbar ging es dem Gericht in erster Linie
darum, die inflationsängstlichen Deutschen mit dem Stabilitätsbegriff einzulullen
und die Leser damit derart zu überfüttern, dass sie die Widersprüchlichkeiten in
der Urteilsbegründung schlichtweg vergessen.
Absolut sinnfrei ist z. B. die höchstrichterliche Stabilitätsrhetorik im Abs.
220: „Die haushaltspolitische
Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages wird … namentlich durch die
Unterwerfung der Europäischen Zentralbank unter die strengen Kriterien des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union … hinsichtlich der
Unabhängigkeit der Zentralbank und der Priorität der Geldwertstabilität
gesichert … . Ein wesentliches Element zur … Absicherung der
verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG ist insoweit das Verbot monetärer
Haushaltsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank.“ Die Wahrung der Währungsstabilität
war und ist Aufgabe der Notenbank; der Bundeshaushalt hatte und hat damit nichts
zu schaffen. Insoweit ist nicht zu erkennen, was die Sicherung der Unabhängigkeit
der Notenbank und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung mit der haushaltspolitischen
Verantwortung des Deutschen Bundestages zu tu haben sollen.
Der vorliegende Artikel konnte lediglich eine erste Übersicht bieten. Wer
tiefer einsteigen will, sei auf das Blogposting „Verfassungsgericht verscheißert verängstigtes Volk: Eine
quasi-juristische Urteilsschelte der Karlsruher ESM-Entscheidung vom 12.09.2012“
des Verfassers verwiesen (hier).
An der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts können wir nichts mehr
ändern. Leider sind wir Deutschen geduldige Ochsen, die sich zwar manchmal aufbäumen,
aber letztlich doch von ihrer Obrigkeit willig ins Joch spannen lassen. Wären
wir selbstbewusste Demokraten, würden wir den Richtern ins Gesicht schleudern:
„Wir haben eure Manipulationen
durchschaut. Und wir verachten euch für eure doppelte Feigheit: Eure Unterwerfung
unter Politik und Finanzinteressen, und euren schäbigen Versuch, eine opportunistische
Kehrtwende als normale Fortentwicklung des Rechts auszugeben!“
Weder Ochs noch Esel in ihrem Lauf halten die Ausplünderung Deutschlands
auf. Das können nur selbstbewusste Bürger. Könnten - wenn wir sie hätten.
Es
liegt in der Hand meiner Leserinnen und Leser, ob die Kenntnis meiner
obigen Untersuchung auf einige wenige beschränkt bleibt, oder eine weite
Verbreitung findet.
Jedenfalls darf jede/r, der/dem diese Untersuchung gefallen hat, sie gerne teilen und auf andere Weise weiterverbreiten. (Über einen Link bzw. Quellenhinweis würde ich mich natürlich freuen.)
Vielleicht landet sie dann auch bei denjenigen, die geglaubt haben, uns mit ihrer Scheinlogik verarschen
zu können. Jedenfalls darf jede/r, der/dem diese Untersuchung gefallen hat, sie gerne teilen und auf andere Weise weiterverbreiten. (Über einen Link bzw. Quellenhinweis würde ich mich natürlich freuen.)
Nachtrag 30.09.2012
Der Text wurde am 23.09.12 auch als Gastkommentar bei Deutsche Wirtschafts Nachrichten veröffentlicht.
ceterum censeo
Wer die Währungsunion nicht
scheitern lässt, wird Europa scheitern lassen!
Textstand
vom 30.09.2012.
Gesamtübersicht der Blog-Einträge (Blotts)
auf meiner Webseite http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm.
Eine
vorzügliche, laufend aktualisierte Übersicht über die Internet-Debatte zur
Eurozonenkrise bietet der
Blog von Robert M. Wuner. Für diesen „Service“ ihm herzlichen Dank!
Für
Paperblog-Leser: Die Original-Artikel in meinem Blog werden später z. T. aktualisiert
bzw. geändert.
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