Bundesverfassungsgericht
- Zweiter Senat -
Schlossbezirk 3
76131 Karlsruhe
Betr.: Amicus Curiae Brief
zu den Verfassungsbeschwerden gegen (Einführungsgesetze zum) ESM usw.;
(Az. 2 BvR 1390/12 u. a.?)
Sehr geehrter Herr
Präsident,
Sehr geehrte Damen und
Herren,
in welcher Eigenschaft, bzw.
mit welcher Legitimation, schreibe ich Ihnen?
Jedenfalls stellt mein vorliegendes
Schreiben keine eigene Verfassungsbeschwerde dar.
Dem steht allerdings zum
einen entgegen, dass derartige Interventionen in der deutschen Rechtstradition
nicht vorgesehen sind.
Und zum anderen, dass ich
selbst einer der Kläger bin. Ich habe mich nämlich jener Massenklage
angeschlossen, die von den Professoren Dr. Christoph Degenhart und Dr. Herta
Däubler-Gmelin bei Ihnen vertreten wird; mein Name müsste sich also auch auf
jener 262-seitigen Liste finden, die Ihnen lt. S. 2 der Verfassungsbeschwerde
vorgelegt wurde.
Wahrscheinlich legitimiert
mich auch dieser Umstand nicht zur direkten Kontaktaufnahme mit Ihnen. Wenn ich
Ihnen dennoch schreibe dann deshalb, weil ich diesen Brief durch ein Posting in
meinem Blog gleichzeitig der Öffentlichkeit zugänglich mache. Ich präsentiere
meine Überlegungen mithin jenem Deutschen Volke, vor dem Sie Ihre Entscheidung
letztlich verantworten müssen.
Da ist es nur fair, wenn
auch Sie die Gelegenheit haben, diese Überlegungen zur Kenntnis zu nehmen.
Denn jeder Mann und jede
Frau, der oder die des Lesens kundig ist, wird nach der Lektüre meiner
Urteilsanalyse ab dem 12.09.2012 um einiges fundierter beurteilen können, ob
Ihre Entscheidung das Ergebnis einer nüchternen Auslegung ihrer bisherigen
Rechtsprechung zu diesem Thema war.
Oder ob Sie mit den
Wühlmausgängen winkeladvokatischer Auslegungskünste justament jenen allerletzten
Deich mit Fluchtgängen unterhöhlt haben, der derzeit noch unsere Demokratie
gegen die anstürmenden Sturmfluten politischer und finanzieller Interessen
beschützt.
Und den der ESM zuerst
unterspülen und dann zum Einsturz bringen würde.
Meine Einschätzung, dass der
ESM mit jenen Standards unvereinbar ist, die Sie selber in Ihrer Rechtsprechung
aufgestellt haben, ist weder hohles Pathos noch interessengeleitet.
Ja: Ich bin ein wütender
Gegner jeglicher Eurettungs- und Euhaftungspolitik, und das schon seit langem.
Dennoch habe ich seinerzeit
Ihr Urteil vom 07.09.2011, Az. 2 BvR 987/10, in Sachen EFSF begrüßt. Denn auch
aus meiner Sicht wäre es nicht wünschenswert, wenn ein Verfassungsgericht wie
einst der venezianische Consiglio dei Dieci agieren und also jegliche
politische Weiterentwicklung unterdrücken wollte. Deshalb hatte ich in meinem
Blog-Eintrag „Trauer oder Freude über
heutige Schlagzeilen wie: ‘Euro-Hilfen sind verfassungsgemäß‘, ‚Bundesverfassungsgericht
billigt EU-Rettungsschirm‘ oder ‚Verfassungsgericht weist Klagen gegen
Euro-Rettung ab‘?“ vom 07.09.2011 geschrieben:
„ ‘Beschwerde zurückgewiesen. Bundesverfassungsgericht billigt
EU-Rettungsschirm‘ titelt heute z. B. FAZ.net. Soll ich, als Eurealist, und
folglich als ein massiver Gegner der europäischen Rettungspakete,
Rettungsschirme, ESFS, ESM und wie sie auch immer heißen mögen (und ganz
besonders als Gegner der Griechenland-Hilfe!) mich darüber nun ärgern? Nein! Zwar
mache ich nun nicht gerade Luftsprünge vor Freude; aber obwohl ich ein
geschworener Feind unserer Euromantiker und Eurobonditen bin, verspüre ich
dennoch eine gewisse Erleichterung über das Urteil. Die
Verfassungsrichter haben gut daran getan, die Entscheidungsfreiheit der Politik
nicht über Gebühr einzuschränken. Sie haben Recht, wenn sie sagen: ‚Wie viele Schulden Deutschland verkraften
könne, liege im Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, den das
Bundesverfassungsgericht zu respektieren hat'. Das Gericht können sich 'nicht
mit eigener Sachkompetenz an die Stelle des Gesetzgebers setzen'. Im
Rahmen einer Gewaltenteilung darf sich die Judikative nicht zur heimlichen
Beherrscherin des Landes aufschwingen“.
Das Urteil selbst hatte ich
damals nicht gelesen. Und auch später bin ich immer wieder davor
zurückgeschreckt. Denn so, wie die Arbeitselefanten in ihrer Kindheit darauf
konditioniert werden, einen Strick als unüberwindliche Fessel zu begreifen, von
dem sie sich später, wenn sie die Kraft dazu haben, nie mehr zu befreien
versuchen, ist ja auch uns das „dafür
bist du zu klein“ in vielerlei Zusammenhängen tief eingeprägt.
Jetzt habe ich meine Scheu
vor dem Text aber doch überwunden und siehe da: Ihre Entscheidung ist gar nicht
so schwierig zu verstehen.
Gewiss: Die rein formale
Dimension - die Erörterung, welches Grundrecht aus welchen Gründen (nicht)
verletzt sein kann, welches Grundrecht bzw. welche Maßnahmen (nicht)
individuell einklagbar bzw. anfechtbar ist/sind usw. - ist es für einen Laien
schon schwere Kost. Ich habe diese verzwickten Verzweigungen bei der Lektüre
großenteils ausgeblendet. Aber der Kern Ihrer Verfassungsauslegung einerseits,
und andererseits die Gründe, warum Sie den EFSF (dennoch) gebilligt haben, sind
absolut transparent.
Wesentlich für das
Verständnis der Verteidigungsargumentation von Bundestag und Bundesregierung
ist zunächst die rein faktische Information (RdNr. 14; nachfolgend i. d. R.
nur: „14“ usw.), dass wir es mit -2- (die EZB-Anleihekäufe und die
Griechenland-Hilfe klammere ich hier aus) unterschiedlichen Hilfsmechanismen zu
tun haben, die auch beide von den Klägern angegriffen worden waren:
1. Einerseits dem europäischen
Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM). Dabei handelt es sich um einen
Hilfsfonds der EU insgesamt, der mittels „VERORDNUNG
(EU) Nr. 407/2010 DES RATES vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus“
errichtet wurde (und im finanziellen Volumen weitaus kleiner ist), und
andererseits
2. der europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Diese
Zweckgesellschaft zur Gewährung von Darlehen und Kreditlinien wird
ausschließlich von den Mitgliedstaaten der Euro-Gruppe getragen, also nur von
diesen finanziert.
Den europäischen
Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM)
der EU haben sowohl Bundestag (64) als auch Bundesregierung (80) als eine
Notfallmaßnahme auf der Grundlage des Art. 122 Abs. 2 des Vertrages
über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) dargestellt.
Für die europäische
Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)
der Eurozonen-Staaten greift diese Regelung nicht, weil nach dieser Norm nur der Europäische Rat beschließen kann,
dem betreffenden Mitgliedstaat einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Hilfsleistungen von Mitgliedstaaten
untereinander sind dort nicht vorgesehen.
Der Bundestag hat daher zur Rechtfertigung des
EFSF-Vertrages argumentiert (66), der Art. 125 AEUV sei interpretationsoffen.
Es sei vorstellbar, dass er lediglich ein „Verbot
einer Verpflichtung zur Finanzhilfe“
[meine Hervorhebung] enthalte, so dass die freiwillige Finanzhilfe unberührt
bleibe. Es sei also keineswegs gesagt, dass diese Regelung den finanziellen
Beistand an Mitgliedstaaten generell verbiete: „Man müsse nicht Beistand leisten - aber man dürfe es.“ (die an
diese Ausführungen anschließende weitere Interpretation, wonach Art. 125
lediglich den Eintritt in alte
Verbindlichkeiten betreffe, gleitet freilich schon ins Abenteuerliche ab).
Die Darstellung in RdNr. 67 ist
für mich nicht eindeutig. Die Position des Bundestages wird dort so
wiedergegeben:
„Der finanzielle Beistand der Union verstoße ferner auch deswegen nicht
gegen Art. 125 AEUV, weil Art. 122 Abs. 2 AEUV die Union zur
Gewährung finanziellen Beistands ermächtige und dabei gleichzeitig als
Rechtfertigungsgrund für eine Abweichung vom Verbot des Art. 125 AEUV
angesehen werden könne.“
Ginge es wirklich um Finanzhilfen
der EU, wäre damit einfach nur das
Argument aus RdNr. 64 noch einmal wiederholt. Ich vermute deshalb, dass es an
dieser Stelle um Finanzhilfen der Länder untereinander geht, wie sie eben durch
die Einrichtung des EFSF-Fonds ermöglicht werden sollten. Dafür taugt dann
freilich der Art. 122,2 AEUV nicht (s. o.).
Letztendlich beruft sich der
Bundestag auf eine Art übergesetzlichen Notstand (Hervorhebungen von mir,
jedoch aus anderen Gründen - s. u.):
„Selbst wenn man
der Vorschrift ein Verbot der Hilfe entnehmen wollte, könnte sich das Unionsrecht
in einer ultima ratio-Situation bei der Wahl zwischen Stabilitätsverfall der Währung und Hilfeleistung letztlich der
Hilfeleistung doch nicht in den Weg stellen. Vielmehr müsste es im Wege der
teleologischen Reduktion sachgerecht ausgelegt werden. Auf den ultima
ratio-Charakter der gegenwärtigen Maßnahme sei im politischen Verfahren
mehrfach hingewiesen worden. Es erscheine widersinnig, an einer eng
interpretierten Bail-out-Klausel festzuhalten, wenn die Hilfeleistung das
letzte Mittel sei, um die von einer strikt interpretierten Bail-out-Klausel
doch gerade bezweckte Stabilität der
Währung zu wahren.“
(Wie man sieht, wurde die im
politischen Diskurs gegenüber den Bürgern mittlerweile allgemein übliche wahrheitswidrige
Gleichsetzung von Stabilität des Mitgliederbestandes der Eurozone mit
Währungsstabilität hier in ungenierter Dreistigkeit auch gegenüber dem
Verfassungsgericht praktiziert.)
Die Bundesregierung verzichtet
auf eine schlitzohrige Interpretation des Art. 125 AEUV nach Art des Bundestags-Schriftsatzes.
Stattdessen argumentiert sie
wie folgt (81; meine Hervorhebungen):
„Art. 125 AEUV stehe der Zusage von Hilfeleistung über den
Finanzstabilisierungsmechanismus nicht entgegen, denn Art. 122 Abs. 2 und Art.
125 AEUV seien Teil eines einheitlichen und gleichzeitig eingeführten
Regelungssystems.“
Das hilft freilich für den
EFSF wenig, weil der, wie oben dargelegt, schon von seiner Konstruktion her
nicht auf den Art. 122 Abs. 2 gestützt werden kann. Es ist also unklar, was
damit überhaupt gesagt werden soll.
Bemerkenswert ist aber, dass
die Bundesregierung gleich anschließend ausdrücklich einräumt:
„Art. 125 AEUV bezwecke zwar die Einhaltung der
Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten durch den Zwang, Kredite zu
Marktkonditionen aufzunehmen. Eine enge Auslegung des Art. 125 AEUV
könne deshalb für einen Verzicht auf unterstützende Maßnahmen selbst bei
drohenden Gefahren für die Finanzstabilität sprechen.“
(Den ersten Satz habe ich
deshalb unterstrichen, weil diese eigene Sichtweise der Bundesregierung
eindeutig gegen die Einführung des Bailout-Gebotes im neu vorgesehenen Art.
136,3 AEUV spricht.)
Auch die Bundesregierung
kommt nicht umhin, sich auf eine Regelungslücke bzw. eine Art übergesetzlichen
Notstand berufen zu müssen:
„Hätten die Mitgliedstaaten jedoch auf die mit der Verfassungsbeschwerde
angegriffenen Maßnahmen verzichtet, seien gravierende Folgen nicht allein für
das Euro-Währungsgebiet zu befürchten gewesen. Jede mechanische Anwendung von
Art. 125 AEUV hätte die Wirtschaft und auch die Währung in der Eurozone
und darüber hinaus erheblich gefährdet. Die Norm sei auf den Fall einer bereits
bestehenden akuten Gefahr für die Finanzstabilität des Euro-Systems nicht
zugeschnitten. Die Mitgliedstaaten hätten zur Abwehr dieser Gefahr handeln
dürfen, weil Art. 125 AEUV für den Fall der durch eine Finanzkrise
entstehenden Belastungen von Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets
jedenfalls eine Regelungslücke enthalte, soweit eine Gefahr für die Wirtschafts-
und Währungsunion insgesamt drohe.“ (Sämtlich 81.)
Da die Bundesregierung den
EFSF als Notmaßnahme versteht, ist es auch folgerichtig, wenn sie dessen
vorübergehenden Charakter betont (80):
„Gegen die Annahme einer Dauereinrichtung spreche die generelle Beschränkung
auf befristete Maßnahmen und die Überprüfungspflicht, die sicherstellen solle,
dass die Verordnung nur so lange gelte, wie die außergewöhnlichen Umstände, die
die Finanzstabilität der Europäischen Union insgesamt bedrohten, weiterhin
beständen.“
Das Bundesverfassungsgericht
hat unmissverständlich klargestellt (129), dass
a) Art. 125 AEUV als Bail-out-VERBOT zu verstehen (also
die Bundestags-Interpretation unhaltbar) ist und
b) dass diesem Verbot
sozusagen Verfassungsrang zukommt. Die Klausel beugt einer Haftungsübernahme
für andere Mitgliedstaaten durch (direkte oder indirekte) Vergemeinschaftung
von Staatsschulden vor. Sie hat insofern eine demokratiesichernde Funktion, als
sie verhindert, dass die Budgethoheit des deutschen Bundestages durch eine
Inanspruchnahme deutscher Steuermittel für die Finanzierung der
Haushaltsdefizite anderer Länder de facto ausgehöhlt wird.
Die einschlägige Passage der
Gerichtsentscheidung lautet (meine Hervorhebungen):
„Die vertragliche Konzeption der Währungsunion als
Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen
Zustimmungsgesetzes …... Die Verträge laufen dabei nicht nur hinsichtlich der
Währungsstabilität mit den Anforderungen des Art. 88 Satz 2 GG ….. parallel,
der die Beachtung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und das
vorrangige Ziel der Preisstabilität zu dauerhaft geltenden
Verfassungsanforderungen einer deutschen Beteiligung an der Währungsunion macht
…... Auch weitere zentrale Vorschriften
zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern unionsrechtlich
verfassungsrechtliche Anforderungen des Demokratiegebots. Zu nennen sind in
diesem Zusammenhang insbesondere das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von
Schuldtiteln öffentlicher Einrichtungen durch die Europäische Zentralbank, das Verbot der Haftungsübernahme
(Bail-out-Klausel) und die Stabilitätskriterien für eine tragfähige
Haushaltswirtschaft (Art. 123 bis 126, Art. 136 AEUV). Ohne dass es
hier auf die Auslegung dieser Bestimmungen im Einzelnen ankäme, lässt sich
ihnen doch entnehmen, dass die
Eigenständigkeit der nationalen Haushalte für die gegenwärtige Ausgestaltung
der Währungsunion konstitutiv ist, und dass eine ….. Haftungsübernahme für ….. andere[r] Mitgliedstaaten
- durch direkte oder indirekte Vergemeinschaftung von Staatsschulden -
verhindert werden soll.“
Nicht alle Teile meiner o.
a. Interpretation ergeben sich unmittelbar aus dieser Textstelle; zur Frage der
„demokratiesichernden Funktion“ der Haushaltsautonomie unten mehr.
Neben einigen Verweisen auf
Rechtsquellen habe ich oben zwei Textstellen ausgelassen:
„… die Eigenständigkeit der nationalen Haushalte für die
gegenwärtige Ausgestaltung der Währungsunion konstitutiv ist, eine die
Legitimationsgrundlagen des Staatenverbundes überdehnende Haftungsübernahme für finanzwirksame
Willensentschließungen anderer Mitgliedstaaten ….. verhindert werden soll“.
Ich gehe davon aus, dass die
Redeweise von einer „die
Legitimationsgrundlagen des Staatenverbundes überdehnende[n] Haftungsübernahme“
nicht einschränkend, sondern lediglich deskriptiv gemeint ist, also: „Eine Haftungsübernahme (ganz oder teilweise)
für fremde Staatsschulden würde die Legitimationsgrundlagen der
Währungsgemeinschaft definitiv überdehnen“.
Da das zugleich eine starke
Festlegung des Gerichts wäre, könnte man Bedenken haben, aus einem Nebensatz
derart weit reichende Festlegungen abzuleiten. Es wird sich im Fortgang dieser
Urteilsanalyse allerdings zeigen, dass dies tatsächlich der Rechtsansicht des
BVerfG entspricht.
Etwas anders sieht es mit
der „finanzwirksame[n]
Willensentschließung“ aus. Die kann - und soll auch wohl - als
Einschränkung des Verbots der Haftungsübernahme gewertet werden. Das erscheint
zwar folgerichtig, wird aber durch den Wortlaut des Art. 122 Abs. 2 AEUV bei
genauem Hinsehen bereits nicht mehr völlig gedeckt. Denn dort ist lediglich von
einem Beistand der Gemeinschaft insgesamt an den betreffenden Mitgliedstaat die
Rede; nicht von einer Verpflichtung der anderen Länder zur Hilfe (und
folgerichtig schon gar nicht von einer Einschränkung des Kreises der
Hilfsverpflichteten auf die Mitgliedsländer der Eurozone):
„Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder
außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von
Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich
bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem
betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen
Beistand der Union zu gewähren. …..“
Über die Zulässigkeit der
Bailout-Maßnahmen nach dem Gemeinschaftsrecht hat das Gericht nicht
entschieden. Wenn ich das (aus anderen Zusammenhängen) richtig verstanden habe,
hält sich das BVerfG insoweit nicht für zuständig (hier einschlägig wohl RdNr.
116).
Was es jedoch geprüft hat,
war die Vereinbarkeit der beschlossenen Maßnahmen mit Normen des Grundgesetzes,
und zwar spezifisch mit dem Demokratieprinzip. Zur Zulässigkeit
derartiger Verfassungsrügen führt das Gericht aus (98/99/100; Verweise auf
Vorentscheidungen von mir entfernt; Hervorhebungen von mir):
„Art. 38
Abs. 1 und Abs. 2 GG gewährleistet das subjektive Recht, unter
Einhaltung der verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätze an der Wahl der
Abgeordneten des Deutschen Bundestages teilzunehmen. Dabei erschöpft sich der
Wahlakt nicht in einer formalen Legitimation der Staatsgewalt auf Bundesebene
nach Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Vom Wahlrecht mit umfasst ist auch der grundlegende demokratische
Gehalt des Wahlrechts, mithin die Gewährleistung wirksamer Volksherrschaft.
Art. 38 GG schützt die wahlberechtigten Bürger insoweit vor einem
Substanzverlust ihrer im verfassungsstaatlichen Gefüge maßgeblichen Herrschaftsgewalt
durch weitreichende oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und
Befugnissen des Bundestages, vor allem auf supranationale
Einrichtungen. Nichts anderes gilt jedenfalls für vergleichbare
völkervertraglich eingegangene Bindungen, die im institutionellen Zusammenhang
mit der supranationalen Union stehen, wenn
dadurch die demokratische Selbstregierung des Volkes dauerhaft derart
eingeschränkt wird, dass zentrale
politische Entscheidungen nicht mehr selbstständig getroffen werden können.“
„(2) Aus diesem
materiellen Schutzgehalt des Art. 38 GG folgt regelmäßig kein Recht der Bürger,
demokratische Mehrheitsentscheidungen auf ihre Rechtmäßigkeit hin durch das
Bundesverfassungsgericht kontrollieren zu lassen. Das Wahlrecht dient nicht der
inhaltlichen Kontrolle demokratischer Prozesse, sondern ist auf deren Ermöglichung
gerichtet. Als Grundrecht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft
des Volkes verleiht Art. 38 Abs. 1 GG daher grundsätzlich keine Beschwerdebefugnis gegen Parlamentsbeschlüsse,
insbesondere Gesetzesbeschlüsse.
(a) Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat das
Bundesverfassungsgericht seit dem Urteil zum Maastrichter Unionsvertrag
anerkannt, wenn aufgrund
völkervertraglich vereinbarter Verlagerungen von Aufgaben und Befugnissen des
Bundestages eine Entleerung der von der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung
gewährleisteten politischen Gestaltungsmöglichkeiten des Parlaments zu
befürchten ist. Das durch das Wahlrecht geschützte Prinzip der
repräsentativen Volksherrschaft kann danach verletzt sein, wenn die Rechte des
Bundestages wesentlich geschmälert werden und damit ein Substanzverlust
demokratischer Gestaltungsmacht für dasjenige Verfassungsorgan eintritt, das
unmittelbar nach den Grundsätzen freier und gleicher Wahl zustande gekommen
ist. Eine solche Rügemöglichkeit beschränkt
sich auf Strukturveränderungen im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge, wie
sie etwa bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union
eintreten können.“
Ergänzend heißt es (103):
„(b) Die Beschwerdebefugnis über Art. 38
Abs. 1 GG kann auch dann gegeben
sein, wenn, was hier allein in Rede steht, Gewährleistungsermächtigungen gemäß Art. 115 Abs. 1 GG, mit denen völkervertragliche Vereinbarungen
umgesetzt werden, nach Art und Umfang zu massiven Beeinträchtigungen der
Haushaltsautonomie führen können.“
Im Rahmen der
‚Eurettungspolitik‘ sind also -2- Sachverhalte denkbar, welche die Bürger im
Wege einer Verfassungsbeschwerde rechtlich überprüfen lassen können:
·
Eine Substanzentleerung
der Regelungsbefugnisse des Parlaments, die sich aus Strukturveränderungen
im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge ergibt und
·
völkervertragliche
Vereinbarungen, die zu massiven Beeinträchtigungen der Haushaltsautonomie
führen können.
Anders gesagt haben wir zu
untersuchen, aufgrund welcher Überlegungen das Gericht, das die
Verfassungsbeschwerden ja abgewiesen hat, diese beiden Sachverhalte nicht gegen
den EFSF gelten lassen wollte.
Wenn wir das geklärt haben,
können wir uns der Frage zuwenden, ob die Einrichtung des ESM im Licht dieser
beiden Kriterien nach dem deutschen Grundgesetz zulässig wäre oder nicht.
Betrachten wir zunächst den
2. Punkt, die potentielle Bedrohung der Haushaltsautonomie durch die Höhe der
Garantieübernahmen, denn die hat das Gericht in RdNrn. 134 + 135 sehr kurz
abgehandelt:
„Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze für die
Übernahme von Gewährleistungen könnte nur überschritten sein, wenn sich im
Eintrittsfall die Gewährleistungen so auswirkten, dass die Haushaltsautonomie
jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde,
sondern praktisch vollständig leerliefe. Das kann vorliegend nicht festgestellt
werden. ….. . Es kommt insoweit
insbesondere nicht darauf an, ob die Gewährleistungssumme gegebenenfalls weit
größer ist als der größte Haushaltstitel des Bundes und die Hälfte des
Bundeshaushalts erheblich überschreitet, weil dies allein nicht der Maßstab
einer verfassungsrechtlichen Begrenzung des Handlungsspielraums des
Gesetzgebers sein kann.“ (135)
Wir halten hier fest, dass
das Gericht keine Obergrenze aufgestellt hat, dass es aber von der Existenz
einer solchen Grenze ausgeht. Darüber, wo die liegt, oder unter welchen
Umständen diese Grenze als erreicht bzw. überschritten anzusehen wäre, kann man
also nur spekulieren.
Bleibt die Frage, was das
BVerfG unter einer „Substanzentleerung
der Regelungsbefugnisse des Parlaments“ versteht, bzw. warum es eine solche
hier nicht sieht.
Die Antwort geben RdNrn. 136
- 141. In allgemeiner Form stellt Nr. 136 zwei Kriterien auf, die vorliegend
nicht erfüllt sind (und die mithin im Umkehrschluss, wenn sie erfüllt wären,
den EFSF verfassungswidrig machen würden - und ggf. den ESM verfassungswidrig
machen):
1. Keines der angegriffenen
Gesetze begründet oder verfestigt einen Automatismus, durch den der Deutsche
Bundestag sich seines Budgetrechts entäußern würde. (Meine Kurzfassung: „Kein Automatismus, durch den sich der
Bundestag seines Budgetrechts entäußern würde“)
2. Derzeit besteht keine
Veranlassung, einen unumkehrbaren Prozess mit nachteiligen Konsequenzen für die
Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages anzunehmen. (Meine Kurzfassung: „Kein unumkehrbarer Prozess mit
nachteiligen Konsequenzen für die Haushaltsautonomie des Bundestages“)
Näher erläutert wird in Nr. 137 (von mir vereinfachend
umformuliert; Hervorhebungen v. mir:)
„Geltende Rechtsgrundlagen der
Währungsunion lassen keinen Automatismus zu, durch den sich der
Deutsche Bundestag seiner Haushaltsautonomie entäußern könnte.
Deutsches Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag
gewährleistet, dass sich die Bundesrepublik Deutschland keinem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren
Automatismus einer Haftungsgemeinschaft unterwirft.“
Im Grunde ist also die Begründung
beinahe enttäuschend kurz ausgefallen. Aber so einiges gibt sie doch her.
Vorab suchen wir jedoch noch
Zitate aus dem Text heraus, die uns in der Bestimmung der unaufgebbaren
substantiellen Regelungsbefugnisse des Parlaments vielleicht weiterhelfen
können (Verweise auf frühere Entscheidungen entfernt; Hervorhebungen von mir):
101: „Der letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch des Bürgers
auf Demokratie wäre hinfällig, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer
Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine demokratischen
Einflussmöglichkeiten entzöge.“
102: „Die abwehrrechtliche Dimension des Art. 38 Abs. 1 GG kommt daher
in Konstellationen zum Tragen, in denen offensichtlich die Gefahr besteht, dass
die Kompetenzen des gegenwärtigen oder künftigen Bundestages auf eine Art und
Weise ausgehöhlt werden, die eine parlamentarische Repräsentation des
Volkswillens, gerichtet auf die Verwirklichung des politischen Willens der
Bürger, rechtlich oder praktisch
unmöglich macht.“
Das „oder praktisch“ ist
insofern außerordentlich wichtig, als an zahlreichen anderen Stellen leider der
Eindruck entstehen kann, dass das BVerfG sich damit zufrieden gibt, dass die
Abgeordneten geplanten Maßnahmen auf jeden Fall zustimmen müssen.
(Beispielsweise lässt sich
RdNr. 105 durchaus so verstehen, dass es lediglich darauf ankommt, ob der
Bundestag formal zustimmen muss oder nicht; auf eventuelle faktische Zwänge
geht das Gericht hier wie an vielen anderen Stellen nicht ein: „Gewährleistungsermächtigungen zur Umsetzung
von Verbindlichkeiten, die die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen
internationaler Übereinkünfte ….. eingeht, durchaus das Potential, die
Möglichkeiten politischer Gestaltung des Bundestages in verfassungsrechtlich
unzulässigem Umfang einzuschränken. Ein solcher Fall wäre etwa zu besorgen,
wenn die Bundesregierung ohne
konstitutive Zustimmung des Bundestages in erheblichem Umfang
Gewährleistungen, die zur direkten oder indirekten Vergemeinschaftung von
Staatsschulden beitragen, übernehmen dürfte.“
Und ebenso 121 u. a.)
Gerade bei dem ESM wird aber
der faktische Zwang zur Zustimmung um ein Vielfaches höher sein als beim EFSF
(mehr unten).
104: „Die
Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand zählen
zum Kern der parlamentarischen Rechte in der Demokratie. Art. 38
Abs. 1 Satz 1 GG schließt es aus, die durch die Wahl bewirkte
Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch
Fesselung des Haushaltsgesetzgebers so zu entleeren, dass das Demokratieprinzip
verletzt wird. ….. Der Wahlakt wäre entwertet, wenn der Deutsche Bundestag
nicht länger über diejenigen Gestaltungsmittel zur Erfüllung ausgabenwirksamer
Staatsaufgaben und zum Gebrauch seiner Befugnisse verfügte, für deren
Inanspruchnahme seine Handlungsmacht durch die Wähler legitimiert wird.“
107: „Da in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht geklärt ist, unter
welchen Voraussetzungen in einer derartigen Konstellation das Recht aus
Art. 38 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2,
Art. 79 Abs. 3 GG verletzt sein kann, genügt insoweit der Vortrag,
bei den angegriffenen Gesetzen handele es sich nur um erste Schritte in einen sich verfestigenden
und in der Summe stetig ausdehnenden Haftungsautomatismus historisch beispielloser
Art, der tatsächlich der Ausgestaltung oder Umformung übertragener
Hoheitsrechte im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG entspreche und
jedenfalls auf eine solche angelegt sei.“
An dieser Stelle geht es
zwar lediglich um die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Beschwerde,
nicht um deren Begründetheit. Aber das Gericht greift ja in der Entscheidung
unter Nr. 136 diese Vorstellung von einem Haftungsautomatismus wieder auf und
hält die Verfassungsbeschwerden u. a. deshalb für unbegründet, weil der EFSF
einen solchen Haftungsautomatismus nicht begründe. Beim ESM ist das dagegen
eindeutig der Fall.
Näheren Aufschluss sollten insbesondere
auch die Randnummern 120 - 132 geben, wo das Gericht die
Prüfungsmaßstäbe für die Begründetheit der Verfassungsbeschwerden entwickelt.
Schauen wir uns diejenigen
Passagen an, die uns vielleicht weiterhelfen können:
120: „Der Gewährleistungsgehalt des Wahlrechts umfasst die Grundsätze des
Demokratiegebots im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, die
Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung garantiert.“
121: „Das Wahlrecht ist verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag seiner
parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder
zukünftige Bundestage das Budgetrecht
nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können.“
Das könnte man auch rein
formal verstehen: solange der Bundestag abstimmen darf, ist alles okay.
123: „Die Hoheit über den Haushalt ist der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den
Zusammenhang von wirtschaftlichen Belastungen und staatlich gewährten
Vergünstigungen.“
Wenn es um Vergünstigungen
geht, muss dem Parlament ein echter Entscheidungsspielraum bleiben; eine rein
formale Befugnis, Entscheidungen etwa des ESM abzunicken, würde der
Anforderung, „konzeptionelle politische
Entscheidungen“ zu ermöglichen, nicht gerecht.
124: „Für die Einhaltung der Grundsätze der Demokratie kommt es darauf an, ob
der Deutsche Bundestag der Ort bleibt, in dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden
wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten.
Würde über wesentliche haushaltspolitische Fragen der Einnahmen und Ausgaben
ohne konstitutive Zustimmung
des Bundestages entschieden oder würden überstaatliche Rechtspflichten ohne
entsprechende Willensentscheidung des Bundestages begründet, so geriete das
Parlament in die Rolle des bloßen Nachvollzuges und könnte nicht mehr die
haushaltspolitische Gesamtverantwortung im Rahmen seines Budgetrechts
wahrnehmen.“
Das ist wiederum
einigermaßen obskur. Wo hört die „Eigenverantwortlichkeit“ auf; was ist eine
„konstitutive Zustimmung“? Ist sie überhaupt mehr als das Recht der
Abgeordneten zum Händchen heben?
125: „Der Deutsche Bundestag darf seine Budgetverantwortung nicht durch
unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen.
Insbesondere darf er sich ….. keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern,
….. die zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige
konstitutive Zustimmung führen können.“ Diese Formulierung wirft erneut die
Frage auf, ob sich im Umkehrschluss der Bundestag mit seiner vorherigen konstitutiven Zustimmung jedweden
finanzwirksamen Mechanismen ausliefern darf, welche zu unüberschaubaren
haushaltsbedeutsamen Belastungen können?
Nach den ganzen sonstigen
Ausführungen des Urteils muss das verneint werden.
Die Auflösung der auf den
ersten Blick scheinbar widersprüchlichen Formulierung ist offenbar darin zu
suchen, dass der Bundestag durchaus konkrete Einzelmaßnahmen beschließen darf,
die zu unüberschaubaren Belastungen führen können (Beispiel: Griechenlandhilfe;
Berliner Flughafen oder, auf Landesebene, die Elbphilharmonie). Das ist
allerdings selbstverständlich, denn bei anderer Betrachtungsweise dürfte der
Bundestag überhaupt keine Projekte oder Leistungen mehr bewilligen, die in der
Höhe variieren können. Nur darf er sich in keine Situation bringen, in welcher
er politisch in Zugzwang käme, weitere unkalkulierbare (Gewähr-)Leistungen de
facto bewilligen zu müssen.
In der Gesamtschau kann man
die hier untersuchte Urteilsbegründung also etwa wie folgt zusammenfassen:
Es ist dem Bundestag untersagt, eine pauschale Verpflichtung
einzugehen, die in vielerlei Zusammenhängen zu Zahlungsautomatismen führen
würde und wo alles dafür spricht, dass die Höhe der Zahlungen dem Gesetzgeber (und
den Bürgern!) über den Kopf wachsen könnte.
Genau diese Lage würde
jedoch eintreten, wenn Deutschlands dem ESM beitritt und der Einführung einer Bailoutpflicht
nach Art. 136,3 AEUV zustimmt (Begründung s. unten).
126: „Eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag
verletzende Übertragung wesentlicher Bestandteile des Budgetrechts des
Bundestages [läge] jedenfalls dann vor, wenn die Festlegung über Art und Höhe
der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert
und damit der Dispositionsbefugnis des Bundestages entzogen würde.“
Auch dieser Satz schließt
bei oberflächlicher Betrachtung ein rein mechanistisches Demokratieverständnis
im Sinne von „solange der Bundestag
zustimmen muss, ist die Demokratie gewahrt“ nicht aus. Das wäre aber reine
Augenwischerei, und so hat, wie aus anderen Stellen dieses Urteils zu erkennen
ist (vgl. z. B. oben zu RdNr. 102 oder nachfolgend zu RdNr. 127) das Gericht
diesen und vergleichbare Sätze auch nicht gemeint.
(Allerdings hätte ich als
Bürger mir schon gewünscht, dass das Gericht in seiner Begründung oder in
seiner Auflistung der entscheidungsrelevanten Kriterien die Bedeutung einer
faktischen Entscheidungsfreiheit der Parlamentarier - im Gegensatz zum rein
formalen Zustimmungserfordernis - noch unmissverständlicher herausgearbeitet
hätte.)
127: „Eine notwendige Bedingung für die Sicherung
politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung …..
besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über
Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung
seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union trifft
und dauerhaft „Herr seiner
Entschlüsse“ bleibt. Zu diesem Grundsatz stehen
Gewährleistungsermächtigungen, mit denen die Zahlungsfähigkeit anderer
Mitgliedstaaten abgesichert werden soll, in einem erheblichen Spannungsverhältnis. Es ist zwar in erster Linie
Sache des Bundestages selbst, in Abwägung aktueller Bedürfnisse mit den Risiken
mittel- und langfristiger Gewährleistungen darüber zu befinden, in welcher
Gesamthöhe Gewährleistungssummen noch verantwortbar sind …. . Aus der
demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folgt jedoch, dass der Bundestag einem intergouvernemental
oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in
seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus
nicht zustimmen darf, der - einmal in Gang gesetzt - seiner Kontrolle
und Einwirkung entzogen ist. Würde der Bundestag in erheblichem Umfang zu Gewährleistungsübernahmen pauschal
ermächtigen, könnten fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten
zu irreversiblen, unter Umständen massiven Einschränkungen der nationalen politischen
Gestaltungsräume führen.“
Hier kommen wir aus meiner
Sicht dem Kern dessen, was das Verfassungsgericht sagen will, sehr nahe.
Freilich ist der Absatz ein „dicker Brocken“, den man zur angemessenen
Würdigung in seine Einzelteile zerlegen muss. Versuchen wir es also:
1. „Sicherung politischer Freiräume“: Diese Formulierung zeigt, dass
eine rein formalistische Betrachtungsweise (‚Bundestag darf/muss Händchen
heben‘) den Erfordernissen nicht gerecht wird, welche das BVerfG für das
Demokratieprinzip aufgestellt hat.
2. „Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung“:
Für sich genommen sagt diese Formulierung nichts darüber aus, in welchem Falle
aus der Sicht des BVerfG eine Fremdbestimmung von Haushaltsentscheidungen
vorliegen würde oder zu befürchten wäre, also was überhaupt unter einer
Fremdbestimmung zu verstehen ist. Wenn man aber dem BVerfG keine
Trivialaussagen unterstellen will ist es klar, dass damit keineswegs die rein
formale Dimension gemeint sein kann, sondern dass nach der politischen
Gesamtkonstellation dem Bundestag eine echte Entscheidungsfreiheit bleiben
muss. [Was unter dem ESM-Regime nicht mehr der Fall wäre - s. u.]
3. „Herr seiner Entschlüsse bleibt“: Diese Formulierung ist auch bei
bösartigster Auslegung nicht mehr als Abstellen auf die rein formale Dimension
zu verstehen; hier geht es offenkundig darum, dass ein Hilfsmechanismus nicht
so beschaffen sein darf, dass er den Bundestag unter faktischen
Zustimmungszwang setzen würde.
4. „erhebliches
Spannungsverhältnis“ zwischen Haushaltshoheit und Übernahme von
Gewährleistungen für andere Staaten. Dies ist eine wichtige Stelle im Hinblick
auf die anstehende ESM-Entscheidung. Denn hier hat der Senat seinerzeit
eindeutig ein Warnschild für die Politik aufgestellt: Der EFSF ist noch kein Verfassungsverstoß, aber eine andere Form
eines Hilfsmechanismus könnte durchaus gegen das Grundgesetz verstoßen.
5. (verkürzt und leicht
verändert:) „nicht an strikte Vorgaben
gebundener und in seinen Auswirkungen nicht begrenzter Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus,
welcher im Fortgang der Kontrolle und Einwirkung des Bundestages entzogen ist“.
Diese Formulierungen müssen im Hinblick auf den ESM weiter zerlegt werden:
a. „strikte Vorgaben“: Sind aus meiner Sicht beim ESM schon
nicht mehr zu erkennen, und was an „strikten Vorgaben“ noch da ist soll ja nach
den Brüsseler Gipfelbeschlüssen noch weiter verwässert werden. Die in Art. 136
Abs. 3 AEUV vorgesehenen „strengen
Auflagen“ sind nicht bloß Makulatur: Die Formulierung ist ein vorsätzlicher
Betrugsversuch am Wähler und am Verfassungsgericht.
b. „in seinen Auswirkungen nicht begrenzter … Automatismus“: Wie
schon die aktuelle Diskussion europäischer Politiker (Monti!) erkennen lässt,
wird der ESM aa) in seinen Auswirkungen immer mehr entgrenzt werden. Und
bb) Muss er zwangsläufig zu einem Bürgschafts- und Leistungsautomatismus
werden. Dies schon deshalb, weil Art. 136 Abs. 3 AEUV bei richtiger
Betrachtungsweise keine Ausnahme vom Bailoutverbot normiert, sondern de facto
eine Verpflichtung zum Bailout. Wie z. B. die Professoren Christoph
Degenhart und Herta Däubler-Gmelin in ihrer Verfassungsbeschwerde (S. 19)
zutreffend feststellen, geht der ESM-Vertrag bereits in der vorliegenden
Fassung über die Bailoutpflicht nach Art. 136 Abs. 3 AEUV hinaus. Art. 136 Abs.
3 AEUV gibt vor, einen Hilfsmechanismus nur für den Fall aktivieren zu wollen,
dass die Stabilität des Euro-Raums insgesamt bedroht ist. Demgegenüber sieht
Art. 3 ESM-Vertrag Hilfen [im Ergebnis eine Hilfspflicht!] bereits dann vor, wenn dies nicht nur „zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Raums
insgesamt“ unabdingbar ist [faktisch: von der Politik für unabdingbar
erklärt wird], sondern lediglich zur Wahrung der Finanzstabilität seiner Mitgliedstaaten.
Mit anderen Worten: Hier hat die Politik schon in der Papierform verraten, dass
sie einen Haftungsautomatismus etablieren will, dessen Voraussetzungen dazu
bestimmt sind, immer mehr ausgeweitet zu werden. Und unabhängig von einer noch
stärkeren Aufweichung der Konditionalitäten aufgrund der Brüsseler
Gipfelbeschlüsse zeigen die vielfältigen Instrumente in Art. 14 - 18
ESM-Vertrag schon jetzt, dass der Begriff „strenge Auflagen“ in Art. 136,3 AEUV
lediglich das Volk und die Verfassungsrichter an der Nase herumführen soll.
c. „im Fortgang der Kontrolle und Einwirkung des Bundestages entzogen“.
Ein solcher Mechanismus wird sich spätestens durch die Präzedenzfallwirkung
etablieren. Es wäre weder verständlich noch vertretbar, dem einen Land zu
verweigern, was man einem anderen zugestanden hat. Wenn man also beispielsweise
(zukünftig, nach einem entsprechenden Änderungsbeschluss des Gouverneursrates,
der natürlich vom Bundestag abgesegnet werden müsste) spanische Banken zu
Lasten des ESM sanieren würde (und damit, wegen der mit Sicherheit eintretenden
Verluste - vgl. analog in Deutschland die HRE-Sanierung! -, zu Lasten der
gesamteuropäischen Steuerzahler), müsste man Irland, Zypern, Griechenland,
Slowenien und ggf. weiteren zukünftigen Kandidaten - evtl. auch aus Italien und
Frankreich - das Gleiche zubilligen. An diesem Beispiel zeigt sich besonders
deutlich, was aber auch schon für die Staatsschuldenmithaftung gilt: Dass
nämlich der ESM als ein Haftungsautomatismus angelegt ist, und dass es
schon wegen des Präzendenzfallcharakters dem Bundestag politisch-faktisch
absolut unmöglich sein wird, weitere gigantische Geldabflüsse zu verhindern,
wenn er solche in einem konkreten Fall gebilligt hat. Eine formale Kontrolle
verbleibt dem Bundestag natürlich auch dann noch. Aber die kann der Senat hier
nicht gemeint haben, denn sonst wäre seine Aussage total banal.
6. „Würde der Bundestag … zu Gewährleistungsübernahmen pauschal
ermächtigen, könnten fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten zu
irreversiblen, unter Umständen massiven Einschränkungen der nationalen politischen
Gestaltungsräume führen“. Nach den vorangegangenen rhetorischen
Aufschwüngen kann man in der Formulierung „pauschal
ermächtigen“ zunächst durchaus eine kalte Dusche sehen. Denn das könnte ja
im Umkehrschluss bedeuten: Solange der Bundestag jeder Maßnahme einzeln
zustimmen muss, und keine pauschalen Ermächtigungen abgibt, ist alles okay.
Dass das Gericht aber gerade nicht auf die formale Schiene abhebt, habe ich
oben zu RdNr. 125 dargelegt und wiederhole es hier wegen seiner Bedeutung noch
einmal: Es ist dem Bundestag untersagt, eine pauschale Verpflichtung
einzugehen, die in vielerlei Zusammenhängen zu Zahlungsautomatismen führen
würde und wo alles dafür spricht, dass die Höhe der Zahlungen dem Gesetzgeber
(und den Bürgern!) über den Kopf wächst. Genau das aber hat das Parlament
mit seiner Zustimmung zur Bail-out-Pflicht nach Art. 136,6 AEUV und zum
ESM-Vertrag getan - und dadurch gegen das Demokratiegebot des GG verstoßen.
128: „… dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen
Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für
Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit
schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame
solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder
unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. Soweit
überstaatliche Vereinbarungen getroffen werden, die aufgrund ihrer
Größenordnungen für das Budgetrecht von struktureller Bedeutung sein können,
etwa durch Übernahme von Bürgschaften, deren Einlösung die Haushaltsautonomie
gefährden kann, oder durch Beteiligung an entsprechenden
Finanzsicherungssystemen, bedarf nicht nur jede einzelne Disposition der
Zustimmung des Bundestages; es muss darüber hinaus gesichert sein, dass
weiterhin hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des
Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht.“
Noch so ein Brocken, und der
liegt noch schwerer im Magen. Denn mehr noch als in RdNr. 127 erscheinen mir Pro
und Kontra zu einem kaum noch entwirrbaren Knäuel verknüpft - mit der Gefahr,
dass sich das Hohe Gericht selber zu einer alexandrinischen Knotenlösung im
Sinne politischer Opportunität ermächtigt. Dem wollen wir ein wenig vorbeugen,
indem wir sine ira et studio das Texträtsel knacken.
1. „dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen
Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für
Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen“:
a. „Dauerhaft“ ist der ESM (im Gegensatz zum EFSF) auf jeden Fall, weil
er zeitlich nicht befristet ist.
b. Beim „Mechanismus“ kann man insoweit Zweifel hegen, als der Bundestag
auch unter dem ESM-Regime die formale Entscheidungshoheit behält. Dass es aber
nicht auf die rein formale Betrachtung ankommt, ergibt sich aus anderen Stellen
des untersuchten Urteils. Insofern ist es eigentlich zwingend, dass das Gericht
den ESM als einen solchen „Mechanismus“
ansieht.
2.
Die Formulierung „Haftungsübernahme
für Willensentscheidungen“ könnte leider ein Einfallstor für politisch
verzerrte Auslegungen liefern. Die Politik stellt sich naturgemäß gerne als
Opfer böser Finanzmärkte und Spekulanten hin, und gerade in der aktuellen
Debatte erleben wir ja, dass Spanien und Italien ihre Reformanstrengungen
rühmen und die bösen Finanzmärkte für die relativ hohe Verzinsung ihrer
Staatsschulden verantwortlich machen. Die Frage ist natürlich, nach welchem
Maßstab man hier die Normalität beurteilen will. In den 90er Jahren mussten
beide Länder hohe Zinsen zahlen; das war einfach eine von den Märkten
geforderte Risikoprämie. Mit der Einführung des Euro sind die Zinslasten der
Problemländer auch deshalb gesunken, weil die Märkte implizit (trotz
No-Bailout-Klausel) von einer vergemeinschafteten Staatsschuldenhaftung
ausgegangen sind. Das sogar (leider) zu Recht, und diesen Markterwartungen will
die Politik nunmehr auch institutionell entsprechen, indem sie in Art. 136 Abs.
3 AEUV eine verpflichtende Gemeinschaftshaftung für alle Staatsschulden
normiert. Denn etwas anderes ist diese Klausel nicht. Im Ergebnis geht es also
für die Problemländer darum, weiterhin die Niedrigzins-Segnungen der
Währungsgemeinschaft zu genießen, ohne sich vollumfänglich jenen wirklich
harten Strukturreformen und Wohlstandsverzichten zu unterwerfen, denen sich Deutschland
(Stichwort „Hartz IV“) oder, in weit größerem Maße, die vormals sozialistischen
Staaten unterzogen haben. Der ESM-Vertrag ist ein dauerhafter
Subventionsmechanismus für Zinsen von Problemstaaten zu Lasten der Steuerzahler
in den (relativen) Solidländern und/oder (bei der zu erwartenden
Quasi-Direktfinanzierung durch die EZB - Stichwort „Banklizenz für den ESM“) zu
Lasten der Kaufkraftstabilität (Stichwort „Inflationssteuer“). Doch zurück zur
„Willensentscheidung“: War es eine Willensentscheidung der spanischen Politik,
die Hypothekengewährung nicht einzuschränken? Anders als vielfach behauptet ist
es keineswegs die Geldpolitik einer Notenbank als solche, die zu einer
Kreditschwemme führen muss. Erst im Zusammenhang mit laxer Regulierung (hier nicht
der Banken, sondern:) der Kreditbedingungen (z. B. fehlende oder unangemessen
hohe Beleihungsgrenzen für Immobilien) kann aus einer Liquiditätsschwemme ein
nicht nachhaltiger Kreditboom werden. Dem spanischen Staat hätte es frei
gestanden, entsprechende Beschränkungen einzuführen - aber welcher Politiker
will schon als Störer einer fröhlichen Boom-Party dastehen? Mit anderen Worten:
Die Politik wird sich immer als Opfer von Zwängen darstellen, um in den Genuss
der Gemeinschaftshaftung für die Staatsschulden der jeweiligen Länder zu
kommen. Bei richtiger Betrachtungsweise geht es aber so gut wie immer um
Willensentscheidungen. Auch zum Reinfall deutscher Banken mit
US-Schrottpapieren wäre es ohne die Deregulierungen auf politischer und
aufsichtsbehördlicher Ebene nicht gekommen; auch hier waren (gell, Peer
Steinbrück?) letztendlich „Willensentscheidungen der Politik“ für das deutsche
Bankendebakel verantwortlich.
3. „schwer kalkulierbaren Folgewirkungen“: Dass die bei
Hilfsmaßnahmen nach dem ESM (wie auch schon im Rahmen der Griechenland-Hilfe
und des EFSF) vorliegen, dürfte unstreitig sein und muss deshalb nicht weiter
erörtert werden.
4.
Jeder,
der nichts anderes als den (von mir unterstrichenen) ersten Satz liest müsste
zu dem Schluss kommen, dass das Gericht die Einrichtung eines Mechanismus nach
Art des ESM für unzulässig hält. Aber der Senat hält sich in den Folgesätzen
eine andere Interpretation offen. Er hebt nämlich dort wieder auf eine rein
formale Zustimmungsbefugnis des Bundestages ab. Auch dieser Absatz ist also
letztlich nach dem Sauna-Prinzip konstruiert: Heißherziger Aufschwung zu
inhaltlich-demokratischen Höhen; anschließend wieder das Frigidarium des reinen
Formalismus.
5.
Entsprechend
kann man auch die Forderung nach „hinreichende[m]
parlamentarische[n] Einfluss“ analog zu optischen Täuschungszeichnungen von
Treppen betrachten: von oben oder von unten (bzw. hier: inhaltlich oder formal)
- wie man es gerade mag oder braucht. Summa summarum gibt der Text in RdNr. 128
für ESM-Gegner wie mich nicht das her, was er beim ersten Anblick zu
versprechen scheint.
129: Auf RdNr. 129 war ich
oben bereits ausführlich eingegangen. Ich weise an dieser Stelle aber noch
einmal darauf hin, dass der Senat sich mit diesen Formulierungen darauf
festgelegt hat, dass
·
Art. 125 AEUV als ein Bail-out-Verbot zu verstehen ist (also nicht etwa, wie es der Bundestag in
seiner Stellungnahme RdNr. 66 gerne hätte, lediglich als Ausschluss eines
Bailout-Zwangs)
·
und dass dieses Verbot zwingend erforderlich ist, damit die
Währungsunion den deutschen verfassungsrechtlichen Anforderungen des
Demokratiegebots entspricht.
Das ist insofern
außerordentlich wichtig, als es bei den Verfassungsbeschwerden eben nicht nur
um den ESM-Vertrag geht (der in der öffentlichen Aufmerksamkeit im Vordergrund
steht), sondern ganz wesentlich auch um die Einführung eines dritten Absatzes
in den Artikel 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV). Dieser Text hat folgenden Wortlaut:
„Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen
Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar
ist, um die Stabilität des EuroWährungsgebiets insgesamt zu wahren. Die
Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird
strengen Auflagen unterliegen.“
Hier ist also eindeutig die
Einrichtung eines Bail-out-Mechanismus‘ (verbal:) zugelassen (in Wahrheit:)
vorgeschrieben, mit dem einzelne Mitgliedstaaten bei Finanzierungsproblemen
‚herausgehauen‘ werden sollen. Und wenn man Art. 125 als Bail-out-Verbot
begreift, stehen beide Vorschriften natürlich in einem kontradiktorischen (sich
gegenseitig ausschließenden) Widerspruchsverhältnis zueinander.
Ich gehe allerdings davon
aus, dass die Frage der logischen Vereinbarkeit beider Vorschriften als
solche nicht Gegenstand der Prüfung des Bundesverfassungsgerichtes sein
wird. Das Gericht hält sich bekanntlich für die Überprüfung von
Gemeinschaftsrecht nicht für zuständig. Im Ergebnis kommt es hier um eine Klärung
dennoch nicht herum.
Denn beispielsweise die
Verfassungsbeschwerde von Degenhart + Däubler-Gmelin [entsprechend auch die
Beschwerde von CSU-MdB Dr. Peter Gauweiler, die ebenfalls im Internet
zugänglich, aber leider nicht kopierbar ist] richtet sich u. a. auch gegen
„(3) das Zustimmungsgesetz zu dem Beschluss des Europäischen
Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, vom 29.06. 2012“ [Überschrift der
einschlägigen BT-Drs. 17/9047: „Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur
Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren
Währung der Euro ist.“]
Das Bundesverfassungsgericht
muss also prüfen, ob die Einführung dieser Regelung in den einschlägigen
EU-Vertrag mit dem Demokratiegebot der deutschen Verfassung kompatibel ist. Es
kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Art. 136 Abs. 3 AEUV
1. faktisch eine (ggf. auf das
Fondsvolumen beschränkten) solidarischen Haftungsmechanismus etabliert. Die
Regelung enthält nach ihrem eindeutigen Sinn und Zweck keine Ausnahme
vom Bailoutverbot nach Art. 125, sondern sie etabliert eine Bailoutverpflichtung aller
Eurozonenmitglieder untereinander. Es kann bei dieser Sachlage auch nicht mehr
darauf ankommen, dass diese Bailoutpflicht aktuell der Höhe nach auf ein
Volumen von 500 Mrd. € begrenzt ist. Die gesamte Debatte zeigt, dass dieses
Volumen sehr schnell erreicht und überschritten werden wird. Das zeichnet sich
schon jetzt ab. Wenn aber erst einmal a) die vorgeblich geforderten „strengen“
Konditionalitäten noch weiter aufgeweicht sein werden und b) eine Direktrekapitalisierung
von Banken aus dem ESM zugelassen wird (durch Gouverneursbeschluss; dazu ist
wohl noch nicht einmal eine Vertragsänderung erforderlich, weil Art. 3 des
Vertrages, der eine Hilfe für „ESM-Mitglieder“ vorsieht, lediglich
deklaratorischen Charakter hat), werden die Hilfen munter in die Höhe klettern
und aus Krediten werden de-facto-Beihilfen zur Tilgung von
Bankverbindlichkeiten. Und zwar Beihilfen, die jedenfalls teilweise
vorhersehbar verloren sind.
2. mit der Rechtsprechung des
BVerfG unvereinbar ist, weil die Vorschrift genau jenes Bailout-Verbot zur
inhaltslosen Paragraphenhülse entleert, das doch lt. Rechtsprechung zwingend
erforderlich ist, damit die Währungsunion den deutschen verfassungsrechtlichen
Anforderungen des Demokratiegebots entspricht. Ich wüsste nicht, mit welchen
intellektuellen bzw. linguistischen Verrenkungen selbst die findigsten
Rechtsverdreher eine deutsche Billigung des Art. 136,3 AEUV begründen könnten.
130 - 132: Diese Passagen
sind für eine mögliche Übertragung auf den ESM nur bedingt ergiebig. Hier geht
es darum, ob Risikoübernahmen ihrer Höhe nach die Haushaltssouveränität des
Parlaments gefährden. Generell gilt insoweit (130):
„Das
Bundesverfassungsgericht hat sich bei der Feststellung einer verbotenen
Entäußerung der Haushaltsautonomie im Hinblick auf den Umfang der
Gewährleistungsübernahme auf evidente Verletzungen zu beschränken und
namentlich mit Blick auf das Eintrittsrisiko von Gewährleistungen einen Einschätzungsspielraum
des Gesetzgebers zu respektieren.“
Dieser
Einschätzungsspielraum wird bei dem ESM nicht mehr bestehen, weil er den
Bundestag Zwängen aussetzt, denen dieser sich nicht entziehen kann. Hier ist
nicht nur der enorme politische Druck zu erwähnen; vielmehr wird es zu einem
„Präzedenzrecht“ kommen, bei dem Abweichungen (bei den Konditionalitäten usw.)
faktisch immer nur zu Gunsten der Hilfeempfänger möglich sein werden. Bzw. bei
den Betragshöhen nach oben.
Bisher noch nicht erwähnt
hatte ich eine Passage, die man sich im Rückblick wahrhaft auf der Zunge
zergehen lassen muss.
Es geht um den
Verteidigungsschriftsatz der Bundesregierung, und zwar hier um Auszüge aus den
in RdNr. 83 vom Senat zusammengefassten Ausführungen.
Diese habe ich zum besseren
Verständnis noch etwas verkürzt und verändert; der Text lautet dann wie folgt:
"Die bilateralen Hilfen und die durch das EFSF-Gesetz vorgesehenen
deutschen Notfallmaßnahmen seien keine Elemente einer auf die Errichtung einer
Haftungs- und Transfergemeinschaft zielenden Gesamtstrategie. Sie etablierten
auch keinen dauerhaften Finanzausgleich. Dass es sich um Notfallmaßnahmen und
nicht um auf Dauer angelegte Finanztransfers handele, ergebe sich einerseits
aus den strengen Anforderungen, die das EFSF-Gesetz festlege, und zum anderen
aus der Befristung. ….. Die Bundesregierung unterstütze diese Maßnahmen,
weil sie der Stabilität der Euro-Währung dienten. Sie würde sich
Bestrebungen, aus dem Stabilisierungsmechanismus eine der Konzeption der
Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft widersprechende dauerhafte
Einrichtung im Sinne einer Transferunion zu entwickeln, widersetzen und
faktische Vertragsänderungen nicht zulassen."
Die deutsche Bundesregierung,
die damals schon längst an der Einführung des Art. 136,3 AEUV und am ESM-Vertrag
arbeitete, hat also seinerzeit dem Gericht erklärt:
a) Dass sie sich
Bestrebungen zu einer dauerhaften Transferunion widersetzen würde.
b) Und sie hat, während sie
schon an der Beseitigung jener Konzeption arbeitete, selber implizit
eingeräumt, dass (sinngemäße Wiedergabe:) 'die dauerhafte Einrichtung einer
Transferunion der Konzeption der Währungsgemeinschaft als
Stabilitätsgemeinschaft widerspricht'.
Vor diesem Hintergrund darf
man feststellen, dass die Politik nicht nur vor keiner Täuschung des Publikums
zurückschreckt. Schamlos belügt sie sie sogar das höchste deutsche Gericht, um
ihre Ziele durchzusetzen. Auch dieses Faktum darf der Senat bei der Beurteilung
des ESM usw. im Licht der Demokratiesicherung nicht ausblenden.
Der ESM ist der Einstieg in
eine dauerhafte Transferunion. Zwar kann man, solange es nur um
Staatsfinanzierungen geht, bis zum Eintritt eventueller Ausfälle noch die
Fiktion aufrechterhalten, dass es sich ja lediglich um Kredite handele, welche
- großes Griechenehrenwort - ganz bestimmt zurückgezahlt würden.
Indes hat Bundeskanzlerin
Angela Merkel den eurozonären Partnerländern zwischenzeitlich auf dem Brüsseler
Gipfeltreffen in der Nacht vom 28. auf den 29.06.2012 eine Vergemeinschaftung
der Bankenhaftung zugesagt. Diese aus Mitteln des ESM zu finanzierende
Bankschuldenunion muss natürlich ebenfalls zunächst vom Bundestag gebilligt
werden; sie ist daher auch nicht Gegenstand der anstehenden Entscheidung.
Gleichwohl kann das Gericht
auch diesen öffentlich allgemein bekannten Sachverhalt bei seiner Bewertung
nicht ausblenden, weil damit für den ESM ein irreversibler Weg in eine Transferunion
vorgezeichnet ist. Dies gilt zunächst für die Sanierung faktisch insolventer
Banken, was mit der angeblichen Notwendigkeit begründet wird, einen angeblichen
„Teufelskreis“ zwischen Staatsschulden und Bankschulden zu durchbrechen. (Ein
solcher Teufelskreis besteht z. B. für Spanien überhaupt nicht. Dort werden
zwar die Staatsfinanzen durch die Banküberschuldungen geschwächt. Die Probleme
der Banken resultieren aber nicht aus etwa dadurch erforderlich werdenden
Bewertungsabschlägen für spanische Staatsanleihen, sondern aus dem Preisverfall
auf dem Immobilienmarkt.)
Ohne im Detail darauf
einzugehen, verweise ich noch auf die schon zum EFSF sehr kritische
gutachterliche Stellungnahme der Bundesbank (RdNrn. 87 - 89). Das alles gilt mutatis
mutandis noch weitaus mehr für den ESM.
Für die Rechtsprechung
dürfte ein zentrales (unausgesprochenes) Problem, oder ggf. auch eine Falle,
darin liegen, dass der Weg in die Euhaftungshölle mit zahlreichen
Einzelschritten gepflastert ist.
Die Ursünde der
Demokratiemissachtung war natürlich der Umstand, dass das Gericht die
Einführung des Euro ohne Volksabstimmung seinerzeit überhaupt zugelassen hat.
Denn das war der erste und größte Schritt, der uns in die gegenwärtige Lage
geführt hat.
Ich kenne die damaligen
Urteile nicht. Ich gebe auch gerne zu, dass ich selber damals die Lage nicht
sonderlich dramatisch gesehen habe. Im Gegenteil: hätte das Gericht den Euro
einfach abgelehnt, wäre ich wahrscheinlich sogar verärgert gewesen. Aber eine
Volksabstimmung hätte es schon fordern können.
Okay: das ist Schnee von
gestern. Wenn ich dennoch darauf zurück komme dann nicht, um das Gericht zu
ärgern (das heute ja personell ohnehin ganz anders zusammengesetzt ist).
Vielmehr will ich damit die anstehende Entscheidung in einen größeren
Zusammenhang einordnen.
Es geht mir um den Hinweis,
dass wir jetzt vor dem gewissermaßen zweitgrößten Schritt in eine komplette
Haftungsunion (längerfristig vielleicht auch eine politische Union) stehen.
Das ist insofern bedeutsam,
als alle in näherer Zukunft absehbaren weiteren Schritte - Bankenhaftungsunion
durch direkte Bankenrekapitalisierung, Aufweichung der Konditionalitäten bei
Kreditgewährungen an Mitgliedstaaten und „Banklizenz“ für den ESM - weitaus
kleiner sein werden: sowohl objektiv wie auch im Bewusstsein der
Öffentlichkeit.
Es würde daher auf völliges
Unverständnis stoßen, wenn das Gericht jetzt beispielsweise argumentieren
wollte: „Noch haben wir ja keine
Bankschulden-Haftungsunion, und wenn die entsprechenden Änderungen zur
Entscheidung anstehen, können die Bürger ja erneut Verfassungsbeschwerde
einlegen.“
Damit begäbe sich das
Gericht selber in einen Entscheidungsautomatismus. Kein Mensch würde später
Verständnis dafür aufbringen, wollte es dann irgendwelche (relativen)
Detailentscheidungen als „verfassungswidrig“
ausbremsen, wenn es jetzt den Euhaftungsmechanismus als solchen zulassen würde.
Entscheidend ist die
pränatale Diagnosestellung: Wenn es sich um eine Missgeburt handelt, darf und
muss man sie jetzt abtreiben. Ist das Monster erst einmal ausgetragen,
würde die Öffentlichkeit - jedenfalls der anderen Eurozonenländer und der
interessierten (Finanz-)Welt - dessen Strangulierung als Mord qualifizieren.
Das gilt nicht nur im
Zusammenhang mit der Rutschbahn in die europäische Transfergemeinschaft,
sondern ebenso mit dem Erreichen jener Grenze, wo die Höhe der Garantiesummen
in eine eindeutige Bedrohung der Haushaltssouveränität des Deutschen
Bundestages umschlagen würde.
Wo will Gericht dann später überhaupt
noch eine Grenze ziehen? Die Politik wird die Haushaltsautonomie des Parlaments
weiterhin in relativ kleinen Schritten aushöhlen: 250 Mrd. €, 300 Mrd. € …... .
Wann will das Gericht in einem solchen Szenario „Halt“ sagen? Es würde sich als
Hoher Rat der Erbsenzähler lächerlich machen, wenn es z. B. 495 Milliarden €
Haftungssumme (für Deutschland) noch akzeptieren wollten, 505 Mrd. dagegen
nicht mehr.
Schon jetzt gibt es
bekanntlich eine Debatte darüber, ob der Artikel 8 Abs. 5 ESM die
(gegenwärtige) deutsche Gesellschafterhaftung auf unseren Anteil von ca. 27% am
Stammkapital = ca. 190 Mrd. € zuverlässig beschränkt, oder ob Artikel 25 Abs. 2
diese Beschränkung aushebelt. Ich persönlich gehe zwar aufgrund der
systematischen Stellung der Vorschriften im Vertrag (Art. 8 im Kapitel „Kapital“;
Art. 25 im Kap. „Finanzmanagement“)
von einer rechtlichen Haftungsbeschränkung auf die Stammeinlagen aus. Aber selbst
dann bleibt die Frage, ob diese Beschränkung sich gegenüber den Partnerländern
und den Finanzmärkten auch faktisch durchsetzen lässt. Wenn sogar das
Bailout-Verbot locker missachtet wurde, um diese beiden Akteure
zufriedenzustellen, dann ist auch an jeder anderen Hürde ein solcher für (Aus
Sicht der deutschen Bürger:) Absturz zu erwarten.
Zukünftig wird es schon sehr
bald zum Überschreiten der aktuellen 500-Mrd.-Kreditvergabegrenze kommen, wenn
der ESM erst einmal eine „Banklizenz“ (die er bekanntlich gar nicht benötigt;
ich verwende den Begriff hier nur aus Bequemlichkeit) und damit direkten
Zugriff zu EZB-Mitteln hat.
Deutschlands Haftung wird
dann, ungeachtet eventueller rechtlicher Beschränkungen, faktisch ins
„Unendliche“ steigen: sei es direkt über den ESM, sei es indirekt über die
Ausfallrisiken der Europäischen Zentralbank (EZB).
Das fundamentale
Demokratiedefizit des ESM-Vertrages ist nicht mittels irgendwelcher Auflagen zu
beheben. Selbst wenn sich Deutschland einen Ausstieg aus diesem unbefristeten
Vertrag vorbehalten würde, wäre das lediglich eine pro-forma-Position, die
faktisch niemals durchsetzbar wäre.
Und eine Beschränkung der
Ausleihekapazität des Fonds insgewamt kann das Gericht ohnehin nicht wirksam
zur Auflage machen.
In der Gesamtschau stellt
sich nach Ihrer Entscheidung vom 07.11.2011 für jeden ESM-Gegner die Frage,
welche Unterschiede in der Konstruktion des ESM gegenüber dem EFSF zu der
Einschätzung führen können oder müssen, dass der ESM im Gegensatz zum EFSF das
Demokratiegebot substanziell beschädigen würde.
An erster Stelle ist hier
natürlich noch einmal darauf zu verweisen, dass die Einrichtung des ESM
rechtlich überhaupt nur dadurch (scheinbar) möglich wird, dass die Politik das
Bailout-Verbot des Art. 125 AEUV durch das Bailout-GEBOT
des ebenfalls in den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Art. 136,3 AEUV im
Ergebnis schlicht und einfach ausradiert hat.
Wenn man das für unzulässig
hält, fehlt dem ESM schon formalrechtlich jegliche Grundlage.
Das Gericht hat sich in
seiner EFSF-Entscheidung vom 07.11.2011 insoweit eindeutig festgelegt (RdNr.
129). Ich sehe nicht, mit welcher Begründung es nach diesen Ausführungen eine
deutsche Zustimmung zur Einführung des Art. 136,3 AEUV noch rechtfertigen
könnte: Die Norm führt ein Bailoutgebot ein, und hebt damit das nach dem
Demokratieprinzip unverzichtbare Bailoutverbot auf.
Und da ja offensichtlich auch
die Länder der Eurozone selber davon ausgehen, dass der ESM ohne die Fundierung
in Art. 136,3 AEUV unzulässig wäre, bedarf es für mich keiner weiteren
Erörterung, dass mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer deutschen
Zustimmung zum neuen Art. 136,3 AEUV gleichzeitig auch einer deutschen
Ratifikation des ESM-Vertrages der rechtliche Boden entzogen wäre.
Unabhängig davon ist der ESM
keine ad-hoc-Maßnahme zur Behebung quasi übergesetzlicher Notstände, wie man es
(mit viel Wohlwollen) dem EFSF allenfalls noch hätte zubilligen können.
Es geht nunmehr um ein
dauerhaftes Einstehen der Eurozonen-Länder füreinander, als um eine zeitlich
unbegrenzte Haftungsunion. Und selbst wenn man sich in der Erwartung wiegt,
dass die Problemländer ihre Kredite an den ESM zurückzahlen, ist der
ESM-Mechanismus absehbar auf eine Transferunion angelegt. Diese Transfers
betreffen zunächst (demnächst) die Rekapitalisierung von Banken; aber dabei
wird es nicht bleiben. Mit welcher Begründung will man denn Italien mit einem
Schuldenstand von über 120% vom Bruttoinlandsprodukt eine „Gleichbehandlung“
verweigern, wenn man bei Spanien eine Steigerung der Verschuldungsquote von
derzeit nur 80% vom BIP für untragbar hält? Die Narrative vom „Teufelskreis“
zwischen der Überschuldung von Banken und Staaten ist, wie ich oben dargelegt
habe, ohnehin eine Fabel. Letztlich läuft es (auf jeden Fall aus italienischer
Sicht!) darauf hinaus:
„Spanien hat 80% Verschuldungsquote und bekommt Direkthilfen des ESM für
seine Banken, ohne dass der Staat dafür haften müsste. Wir haben über 120%: das
ist doch sehr viel dramatischer? Warum bekommen nicht auch wir Zuschüsse statt
nur zinsverbilligte Kredite?“
Dem Erfindungsreichtum
werden insoweit keine Schranken mehr gesetzt sein; der politischen Erpressung, wie
wir sie auf dem Brüsseler Gipfel kennengelernt haben, auch nicht.
Ganz besonders wird aber das
„Präzedenzrecht“ jegliche
Haushaltshoheit des Bundestages untergraben.
„Spanien kriegt eine Direktfinanzierung für seine Banken? Wollen wir
auch haben; wieso verweigert ihr uns das?“ würden Zypern, Slowenien, Irland
usw. argumentieren. Und das ist ja auch nachvollziehbar, denn bekanntlich sagen
ja schon die kleinen Kinder „auch haben“.
Jegliche Hilfeleistung,
jegliche Konditionenerleichterung, würde gleiche Forderungen nach sich ziehen.
Und das sogar für bereits (mehr oder weniger) erledigte Fälle.
Irland wurde eine
rückwirkende Gleichbehandlung (mit Spanien) für seine Bankenrekapitalisierung
ja bereits zugesagt. Und so geht es denn munter weiter mit Hauen und Stechen:
Des Elends wird kein Ende sein,
wenn Sie den ESM nicht jetzt insgesamt stoppen! Insbesondere auch nicht des
deutschen Haushaltselends, und aller Wahrscheinlichkeit nach sogar einer Verelendung
der deutschen Bürger. Die haben ja, wie aktuell eine Studie (ich glaube, der
USB) aufgezeigt hat, ohnehin am allerwenigsten von der Eurozone profitiert.
Welche Alternativen hat das
Gericht bei seiner ESM-Entscheidung?
1) Es kann - ggf. mit
einigen Auflagen - Deutschlands Zustimmung zur Bailout-Vorschrift in Art. 136,3
AEUV und den Beitritt zum ESM billigen mit der Behauptung, dass beides mit der
Entscheidung vom 07.09.2011 vereinbar sei. Die dafür vorhersehbar notwendigen
argumentativen Verrenkungen würden allerdings jedem Winkeladvokaten zur Ehre
gereichen. Das Gericht müsste nämlich auf die rein formal weiterbestehende
Zustimmungspflicht des Bundestages zu wesentlichen Beschlüssen des ESM
abstellen und mit diesem Hinweis einen Fortbestand der Haushaltshoheit im Sinne
politischer Gestaltungsfreiheit postulieren.
Man muss kein Jurist sein um
zu erkennen, dass das eine reine Fiktion wäre, und dass eine solche
Konstruktion keine Rechtsauslegung mehr wäre, sondern das Resultat eines
grenzenlosen politischen Opportunismus.
Oder, juristisch gesprochen:
Eine Rechtsbeugung.
2) Der Senat könnte - mit oder
ohne Auflagen - Deutschlands Zustimmung zur Bailout-Vorschrift in Art. 136,3
AEUV und den Beitritt zum ESM billigen, jedoch zur Rechtfertigung die
Grundsätze seiner bisherigen Rechtsprechung explizit aufgeben. Dann wäre die
Entscheidung objektiv nicht mehr als Rechtsbeugung zu qualifizieren. Aber der
politische Opportunismus wäre für jeden noch offensichtlicher.
3) Wenn das
Bundesverfassungsgericht die hehren Grundsätze seiner eigenen EFSF-Entscheidung
vom 07.09.2011 ernst nimmt, kann es nicht anders als am 12.09.2012 die
Einführung der Bailout-Vorschrift in Art. 136,3 AEUV und Deutschlands Beitritt
zum ESM zu stoppen. Tut es das nicht, oder stimmt es unter irgendwelchen kosmetischen
Auflagen zu, kann das BVerfG sein „Demokratieprinzip“
einbalsamieren.
Mit einer Feststellung der
Grundgesetzwidrigkeit dieser Normen wird sich das Gericht freilich den Hass
beinahe der gesamten politischen Klasse in Deutschland zuziehen. Die
Problemländer der Eurozone und die geballte Macht der Finanzmärkte werden das
Gericht und unser Land mit Drohungen, Schmähungen und Verwünschungen
überhäufen.
Und doch führt nur dieser
enge und steile Pfad der Mühsal zur Erhaltung der Demokratie.
Der breite bequeme Weg einer
Zustimmung geht geradewegs in die rechtlose Hölle der Demokratur.
Für das
Bundesverfassungsgericht wäre die via lata nach Alternative 1) oder 2) freilich
die Autobahn zu einem Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde:
Als größte Heißluftfabrik der
gesamten Welt.
Mit freundlichen Grüßen
Burkhardt Brinkmann
----------------------------------
Nachträge 03.09.2012
Dieser Text kann von jedermann übernommen werden (z.B. für den eigenen Blog). Für einen Link oder Hinweis auf den Ursprung wäre ich dankbar.
Ergänzend verweise ich auch auf meine neue "Kurzfassung" u. d. T. "Die Verfassungswidrigkeit des ESM folgt zwingend aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts". Die ist sozusagen "sprachlich abgerüstet" und wird für viele leichter verständlich sein. Außerdem ist sie nur etwa 1/5 so lang wie der vorliegende Text. Trotzdem empfehle ich sie auch denjenigen, die den vorliegenden Blott gelesen haben, zur Lektüre, denn sie arbeitet in gewisser Hinsicht den "Knackpunkt" noch schärfer heraus.
Heute habe ich meinen "Amicus Curiae Brief" in Papierform an das Bundesverfassungsgericht abgeschickt.
In genügender Anzahl, damit die Putzfrauen in Karlsruhe auch wissen, wofür sie bezahlt werden, wenn sie die Papierkörbe entsorgen.
Da Mario Draghis EZB bislang den Inflationsdrachen zwar schon Leine gegeben, sie aber noch nicht gänzlich von der Leine gelassen hat, sind Tinte, Papier und Porto für mich momentan noch hinreichend erschwinglich, um eine Papierkorb-Bestattung meiner Schriftsätze zu verkraften. ;-)
Dieser Text kann von jedermann übernommen werden (z.B. für den eigenen Blog). Für einen Link oder Hinweis auf den Ursprung wäre ich dankbar.
Ergänzend verweise ich auch auf meine neue "Kurzfassung" u. d. T. "Die Verfassungswidrigkeit des ESM folgt zwingend aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts". Die ist sozusagen "sprachlich abgerüstet" und wird für viele leichter verständlich sein. Außerdem ist sie nur etwa 1/5 so lang wie der vorliegende Text. Trotzdem empfehle ich sie auch denjenigen, die den vorliegenden Blott gelesen haben, zur Lektüre, denn sie arbeitet in gewisser Hinsicht den "Knackpunkt" noch schärfer heraus.
Heute habe ich meinen "Amicus Curiae Brief" in Papierform an das Bundesverfassungsgericht abgeschickt.
In genügender Anzahl, damit die Putzfrauen in Karlsruhe auch wissen, wofür sie bezahlt werden, wenn sie die Papierkörbe entsorgen.
Da Mario Draghis EZB bislang den Inflationsdrachen zwar schon Leine gegeben, sie aber noch nicht gänzlich von der Leine gelassen hat, sind Tinte, Papier und Porto für mich momentan noch hinreichend erschwinglich, um eine Papierkorb-Bestattung meiner Schriftsätze zu verkraften. ;-)
ceterum censeo
Wer die Währungsunion nicht
scheitern lässt, wird Europa scheitern lassen!
Textstand
vom 12.08.2019
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen