Sonntag, 2. September 2012

Die Verfassungswidrigkeit des ESM folgt zwingend aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts


Ob der Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) verfassungswidrig ist oder nicht, ergibt sich nicht direkt aus dem Grundgesetz selber. Natürlich ist es jedem freigestellt, ins Grundgesetz zu schauen und insoweit seine Meinung zu äußern.
Wenn man jedoch konkret die Erfolgschancen der gegenwärtig beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen den ESM usw. beurteilen will (wichtig: es geht nicht nur um den ESM - s. u.!), muss man sich die einschlägige Rechtsprechung des Gerichts anschauen. Wie hat es sich früher zu Fällen geäußert, die in Bezug zu den aktuellen Verfahren stehen?
Maßgeblich ist insoweit insbesondere das Urteil vom 07.09.2011, Az. 2 BvR 987/10. Damals ging es (u. a.) um die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), also den (im Gegensatz zum ESM zeitlich befristeten) Vorgängerfonds des ESM.
Das Gericht hat damals die Einführung der EFSF (sowie die Griechenlandhilfe und den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) gebilligt.
Mit den verwirrenden Einzelheiten der verschiedenen Rettungspakete müssen wir uns nicht herumschlagen; wesentlich ist hier nur:
Das Gericht hat es damals gebilligt, dass die Europäische Union und die Länder der Eurozone trotz des Bailoutverbots nach Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) anderen Ländern der Eurozone Finanzhilfen leisten. Kürzer gesagt:
Das Gericht hat seinerzeit eine Durchbrechung des Bailoutverbots akzeptiert.

Von daher wird man sich zunächst über meine Überschrift wundern, denn auf den ersten Blick könnte man vor diesen Hintergrund vermuten, dass das Bundesverfassungsgericht auch den ESM-Vertrag (evtl. mit einigen Auflagen) passieren lassen wird. Tatsächlich wird das ja auch fast allgemein in der deutschen Öffentlichkeit erwartet, und selbst von den ESM-Gegnern befürchtet.

In einer langen und außerordentlich detaillierten Analyse habe ich in meinem letzten Blog-Eintrag
jedoch nachgewiesen, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn es die von ihm selbst in seinem Urteil vom 07.09.2011 (u. a.) zum EFSF geäußerte Rechtsmeinung aufrecht erhält, den ESM-Vertrag logisch zwingend für verfassungswidrig erklären muss.

Mein Facebook-Freund Bertram Oertel (und ebenso ein weiterer) hat meinen vorangegangenen Blott als zu lang und zu kompliziert kritisiert.
Nun: Wenn man in einer solchen, auch unter Juristen umstrittenen, Angelegenheit zu einem überzeugenden Urteil kommen will, muss man schon „ans Eingemachte“ gehen. Ich habe das Urteil auch nicht mit Scheuklappen angeschaut, sondern den Gehalt der Rechtsauslegung durchaus ergebnisoffen untersucht. Da kommt man nicht mit „drei Sätzen“ und ein paar flotten Sprüchen durch.
Ich gebe meinen Kritikern aber insoweit Recht, als ich das Ganze noch einmal kompakter und einfacher darstellen sollte, und das tue ich mit diesem Blott. Wer tiefer einsteigen möchte (was ich allen, die das können, herzlich ans Herz lege), möge meinen o. a.Amicus Curiae Brief“ * lesen. 
*[Als „Amicus Curiae“ = Freund des Gerichts darf in der amerikanischen Rechtstradition auch ein Unbeteiligter zu laufenden Verfahren in Schreiben an das Gericht Stellung nehmen; diese Schreiben werden dann offiziell in den Prozess eingeführt.]

Wesentlich für meine o. a. Beurteilung, dass der ESM anders als der EFSF nach der Grundgesetz-Auslegung des Verfassungsgerichts rechtswidrig ist, sind folgende Unterschiede:
  • Der EFSF war zeitlich befristet; der ESM ist unbefristet.
  • Der EFSF war betragsmäßig begrenzt; der ESM ist zwar in der aktuellen Version ebenfalls begrenzt; die politische Debatte zeigt jedoch, dass diese Grenzen sehr bald dramatisch erhöht werden.
  • Der EFSF und die Griechenlandhilfe waren Kredite, von denen man theoretisch behaupten konnte, dass sie von den Empfängerländern zurückgezahlt werden würden. Der ESM ist - zwar noch nicht in seiner gegenwärtigen Form, aber von Angela Merkel auf dem Brüsseler Gipfel bereits zugesagt - jedenfalls teilweise von vornherein als Einstieg in eine Transferunion angelegt (Vergemeinschaftung der Bankenhaftung).
Noch stärker als alle diese Unterschiede spricht aber ein ganz anderes Argument dafür, dass das BVerfG in der Konsequenz seiner eigenen damaligen Äußerungen jetzt den ESM ablehnen muss:
  • Das Bailoutverbot des Art. 125 AEUV soll abgeschafft werden.
Die Art und Weise, wie die Politik dieses Ding gedreht hat, ist geradezu ein intellektueller Faustschlag ins Gesicht des Verfassungsgerichts. Denn die rechtliche Konstruktion entspricht dem Verhalten eines Kleinkindes, das sich die Hände vor die Augen hält und sagt: „Jetzt kann mich niemand mehr sehen“. Und so etwas soll jetzt das BVerfG glauben!
 
Das Bailoutverbot bleibt nämlich einerseits bestehen, andererseits wird es abgeschafft. Wenn das irre klingt, dann machen Sie bitte nicht mich dafür verantwortlich, sondern jene Rechtsverdreher, welche auf diese Tour reisen wollen. Das sind gewiss keine Irren; aus meiner Sicht ist das vielmehr eine Form von politischer Kriminalität.
Hier zeigt sich exemplarisch die substantielle Berechtigung von Peter Boehringers ständiger Redeweise (in seinem "Goldseitenblog") von einem "Putsch" (beispielsweise: "Der Putsch der ESM-Eliten soll durch eine Pseudo-Beteiligung des Parlaments kaschiert werden" - Posting vom 07.05.12).

Aber zurück 'zur Sache, Mätzchen':
Der allgemein als „Bail-out-Verbot“ bezeichnete Artikel 125 AEUV lautet (auf die wesentlichen Passagen verkürzt):
Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen ..… . Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen ….. und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“

Eigentlich eine klare Regelung, nicht wahr? So gesehen sollte man denken: „Dann hätte doch das Bundesverfassungsgericht den EFSF verbieten müssen?
Nun, das Gericht hat sich überhaupt nicht zu diesem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht geäußert. Und zwar aus formalen Gründen: es hält sich dafür für unzuständig.
Das bedeutet natürlich umgekehrt, dass jetzt niemand dem BVerfG sagen kann: „Damals habt ihr das nicht beanstandet, also müsst ihr jetzt auch den ESM passieren lassen.
Denn die juristisch entscheidende Dimension ist eben nicht die Vereinbarkeit des ESM (bzw. seinerzeit des EFSF) mit dem Gemeinschaftsrecht, sondern mit dem Grundgesetz - in der Form, wie das Gericht das GG auslegt.

Insoweit hat das Gericht in der EFSF-Entscheidung unmissverständlich klargestellt (unter der RdNr. bzw. dem Abs. 129), dass
a) Art. 125 AEUV als Bail-out-VERBOT zu verstehen ist. Das war insofern wichtig, als es Schlaumeier gab, die die Vorschrift anders auslegen wollten. Angeblich enthalte sie lediglich ein „Verbot einer Verpflichtung zur Finanzhilfe“, eine freiwillige Finanzhilfe sei damit gar nicht verboten.
Indem das Gericht schreibt (129):
„Auch weitere … Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern ….. verfassungsrechtliche Anforderungen des Demokratiegebots. Zu nennen sind ….. insbesondere ….. das Verbot der Haftungsübernahme (Bail-out-Klausel)“
hat es ein für alle mal klargestellt, dass diese Deutung falsch ist: Art. 125 AEUV enthält ein Verbot, für andere Länder einzutreten. 
Daran kommt niemand mehr vorbei; vor allem und zum Glück kommt auch das Gericht selbst nicht so einfach aus dieser Nummer wieder raus!

Aus Sicht der Politik noch schlimmer jedoch: 

b) Dieses Bailout-Verbot ist lt. Verfassungsgericht unabdingbar, damit die Währungsunion für Deutschland überhaupt verfassungsgemäß ist. 
Anders gesagt: Ohne Bailoutverbot würde die Währungsunion gegen das Demokratiegebot verstoßen und wäre daher grundgesetzwidrig.

Was haben also die Politganoven gemacht? Sie haben die Verbots-Klausel auf dem Papier stehen gelassen, aber kurzerhand eine andere Vorschrift eingefügt, welche im Ergebnis das Bailoutverbot nicht nur aufhebt, sondern de facto sogar eine Bailout-Pflicht begründet, also Deutschland faktisch dazu verpflichtet, anderen Ländern bei Finanzproblemen zu helfen. Die Euhaftungsmafia hat mithin das Bailout-Verbot in das genaue Gegenteil verkehrt!

Bei dem Bail-out-Gebot, das jetzt eingeführt werden soll, handelt sich um den Artikel 136 Abs. 3 AEUV. Der lautet wie folgt:
Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
Das „Können“ ist natürlich in der politischen Wirklichkeit ein „Müssen“, das nur zur Täuschung des Verfassungsgerichts mit dem Wort „können“ verbrämt wurde.
Und die angeblich „strengen“ Auflagen sind schon in der jetzigen Fassung des ESM-Vertrages gar nicht mehr so streng, und sollen nach den Brüsseler Gipfelzusagen von Angela Merkel noch weiter aufgelockert werden. Das wird natürlich auch zu einer verstärkten Inanspruchnahme führen, und Deutschland immer tiefer im Haftungssumpf versinken lassen.


Das Bundesverfassungsgericht überprüft jedoch das Gemeinschaftsrecht wohl nicht darauf, ob es in sich widersprüchlich ist.
Aber: Nach seinem eigenen Verständnis muss es das Gemeinschaftsrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz prüfen.
Und wenn es früher gesagt hat: „Ohne Bailout-Verbot wäre das Gemeinschaftsrecht verfassungswidrig“, dann kann es jetzt nicht einfach das Gegenteil behaupten, wenn das politisch besser in die Landschaft passt.
Natürlich könnte es rein formal argumentieren, dass der Art. 125 ja nicht abgeschafft wurde. Aber mit einer solchen Argumentation, die nach Art der drei Affen die Augen und die Ohren vor einer Tatsache verschließt, die jeder Depp sieht, würde sich das Gericht zum Gespött Deutschlands und der ganzen Welt machen. Das BVerfG weiß sicherlich, dass die Politganoven versuchen, es regelrecht „vorzuführen“. Und es weiß ebenfalls, dass es jegliche Autorität verlieren würde, wenn es sich, um den Vertrag mit einer Scheinargumentation durchwinken zu können, derart dumm stellen würde.

Formalrechtlich sieht es so aus, dass die Kläger nicht nur die deutsche Zustimmung zum ESM-Vertrag angegriffen haben (wie man glauben könnte, wenn man die Berichterstattung liest). Sondern eben auch die Zustimmung zu der o. a. Vertragsänderung des AEUV, also zur Einführung des (faktischen) Bailoutgebotes.

Wenn das Gericht früher das Grundgesetz so ausgelegt hat, dass das Bailout-Verbot unerlässlich ist, damit die Währungsunion mit dem GG vereinbar ist: Wie will es jetzt plötzlich das Gegenteil sagen? Es steht ja unter der Beobachtung nicht nur von Laien wie mir, sondern besonders auch von der Fachwelt. Die würde das genau so gut wie ich (oder noch besser) merken, wenn das Gericht auf den Gedanken käme, in seiner Argumentation sozusagen „krumme Touren“ zu fahren, um die deutsche Zustimmung zum Bailout-Gebot passieren zu lassen.
Ich weiß beim besten Willen nicht, wie das Gericht das mit Anstand anstellen könnte.

Wenn es sich jedoch aufgrund seiner früheren Rechtsprechung (richtiger Weise) gezwungen sieht, die deutsche Ratifikation des „Bailoutgebots“ im neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV zu untersagen, dann kann es auch den ESM-Vertrag nicht passieren lassen.
Denn der steht ja völlig eindeutig im Widerspruch zum Bailout-Verbot, und dieses Verbot ist ja lt. eigenem Urteil des BVerfG vom 07.09.2011 unverzichtbar.

Natürlich stand schon der EFSF im Widerspruch zum Bail-out-Verbot; aber damals konnte man wegen der Finanzkrise noch einen sozusagen übergesetzlichen Notstand behaupten, eine „Not-kennt-kein-Gebot“-Situation, in der die Politik handeln musste, um den Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems zu verhindern. (Nicht, dass ich persönlich das glaube. Auch das Gericht hat sich dazu nicht geäußert, aber ich bin überzeugt, dass es im Hinterkopf derartige Überlegungen angestellt hat, bzw. zumindest der Politik nicht einen dahingehenden Einschätzungsspielraum einengen wollte.)

Aber das war eben eine vorübergehende Lösung; mit dem ESM wird ein dauerhafter Bailout-Mechanismus errichtet, und das ist eine völlig andere Situation.


Ich verzichte darauf, an dieser Stelle auf weitere Einzelheiten einzugehen. Meine vorliegende Sachverhaltsdarstellung ist natürlich sehr vereinfacht. Aber zumindest bietet sie für diejenigen Leser, die wenig Zeit haben, oder denen die Lektüre von relativ „fachlichen“ Rechtstexten Schwierigkeiten bereitet, einen Einstieg um zu verstehen, warum nach meiner festen Überzeugung Karlsruhe gar nicht anders kann, als den deutschen Beitritt zum ESM-Vertrag (und natürlich erst recht die deutsche Zustimmung zum Bailoutgebot) zu verbieten.

Jede andere Entscheidung würde für alle Deutschen - und für die ganze Welt - offenkundig machen, dass das Gericht in diesem Falle nicht Recht gesprochen, sondern aus politischem Opportunismus heraus Rechtsbeugung begangen hat. In Zukunft würde dann die Politik mit dem Bundesverfassungsgericht nach Herzenslust „Schlitten fahren“.

Oder, wie ich es im Vor-Blott zum Abschluss ausgedrückt hatte:

Wenn das Bundesverfassungsgericht die hehren Grundsätze seiner eigenen EFSF-Entscheidung vom 07.09.2011 ernst nimmt, kann es nicht anders als am 12.09.2012 die Einführung der Bailout-Vorschrift in Art. 136,3 AEUV und Deutschlands Beitritt zum ESM zu stoppen. Tut es das nicht, oder stimmt es unter irgendwelchen kosmetischen Auflagen zu, kann das BVerfG sein „Demokratieprinzip“ einbalsamieren.
Mit einer Feststellung der Grundgesetzwidrigkeit dieser Normen wird sich das Gericht freilich den Hass beinahe der gesamten politischen Klasse in Deutschland zuziehen. Die Problemländer der Eurozone und die geballte Macht der Finanzmärkte werden das Gericht und unser Land mit Drohungen, Schmähungen und Verwünschungen überhäufen.
Und doch führt nur dieser enge und steile Pfad der Mühsal zur Erhaltung der Demokratie.
Der breite bequeme Weg einer Zustimmung geht geradewegs in die rechtlose Hölle der Demokratur.
Für das Bundesverfassungsgericht wäre die via lata [der breite Weg] einer Zustimmung freilich die Autobahn zu einem Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde:
Als größte Heißluftfabrik der gesamten Welt.


Nachtrag 03.09.2012:
Dieser Text kann von jedermann übernommen werden (z.B. für den eigenen Blog). Für einen Link oder Hinweis auf den Ursprung wäre ich dankbar.


Nachtrag 10.09.2012
Zum Thema vgl. auch den FAZ-Gastbeitrag "Nicht ohne uns" von Professor Dr. Wolfgang Kahl, Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht und Dr. Andreas Glaser, Akademischer Rat an diesem Institut (vom 08.03.12, also schon älter, aber vorzüglich).



ceterum censeo
Wer die Währungsunion nicht scheitern lässt, wird Europa scheitern lassen!

Textstand vom 10.09.2012. Gesamtübersicht der Blog-Einträge (Blotts) auf meiner Webseite http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm.
Eine vorzügliche, laufend aktualisierte Übersicht über die Internet-Debatte zur Eurozonenkrise bietet der Blog von Robert M. Wuner. Für diesen „Service“ ihm herzlichen Dank!
Für Paperblog-Leser: Die Original-Artikel in meinem Blog werden später z. T. aktualisiert bzw. geändert.

2 Kommentare:

  1. Die von der "Goldman Sachs Group" unterwandere "politische Elite" wird dann recht sauer aufstoßen ...........

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  2. Sicher. Aber wenn das Verfassungsgericht hier foult, dann sollte das uns allen sauer aufstoßen. Ich fürchte nur, die wenigsten werden dann begreifen, was da passiert ist.

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