Ob der Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) verfassungswidrig ist oder nicht, ergibt sich nicht direkt aus dem Grundgesetz selber. Natürlich ist es jedem freigestellt, ins Grundgesetz zu schauen und insoweit seine Meinung zu äußern.
Wenn man jedoch konkret die Erfolgschancen der gegenwärtig beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen den ESM usw. beurteilen will (wichtig: es geht nicht nur um den ESM - s. u.!), muss man sich die einschlägige Rechtsprechung des Gerichts anschauen. Wie hat es sich früher zu Fällen geäußert, die in Bezug zu den aktuellen Verfahren stehen?
Maßgeblich ist insoweit insbesondere
das Urteil vom 07.09.2011, Az. 2 BvR 987/10. Damals ging es (u. a.) um die Europäische
Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), also den (im Gegensatz zum ESM zeitlich
befristeten) Vorgängerfonds des ESM.
Das Gericht hat damals die
Einführung der EFSF (sowie die Griechenlandhilfe und den Europäischen
Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) gebilligt.
Mit den verwirrenden
Einzelheiten der verschiedenen Rettungspakete müssen wir uns nicht
herumschlagen; wesentlich ist hier nur:
Das Gericht hat es damals
gebilligt, dass die Europäische Union und die Länder der Eurozone trotz des Bailoutverbots nach Artikel
125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) anderen
Ländern der Eurozone Finanzhilfen leisten. Kürzer gesagt:
Das Gericht hat seinerzeit eine Durchbrechung des
Bailoutverbots akzeptiert.
Von daher wird man sich
zunächst über meine Überschrift wundern, denn auf den ersten Blick könnte man
vor diesen Hintergrund vermuten, dass das Bundesverfassungsgericht auch den
ESM-Vertrag (evtl. mit einigen Auflagen) passieren lassen wird. Tatsächlich
wird das ja auch fast allgemein in der deutschen Öffentlichkeit erwartet, und selbst
von den ESM-Gegnern befürchtet.
In einer langen und
außerordentlich detaillierten Analyse habe ich in meinem letzten Blog-Eintrag
jedoch nachgewiesen, dass
das Bundesverfassungsgericht, wenn es die von ihm selbst in seinem Urteil vom
07.09.2011 (u. a.) zum EFSF geäußerte Rechtsmeinung aufrecht erhält, den
ESM-Vertrag logisch zwingend für verfassungswidrig erklären muss.
Mein Facebook-Freund Bertram
Oertel (und ebenso ein weiterer) hat meinen vorangegangenen Blott als zu lang
und zu kompliziert kritisiert.
Nun: Wenn man in einer
solchen, auch unter Juristen umstrittenen, Angelegenheit zu einem überzeugenden
Urteil kommen will, muss man schon „ans Eingemachte“ gehen. Ich habe das Urteil
auch nicht mit Scheuklappen angeschaut, sondern den Gehalt der Rechtsauslegung
durchaus ergebnisoffen untersucht. Da
kommt man nicht mit „drei Sätzen“ und ein paar flotten Sprüchen durch.
Ich gebe meinen Kritikern
aber insoweit Recht, als ich das Ganze noch einmal kompakter und einfacher
darstellen sollte, und das tue ich mit diesem Blott. Wer tiefer einsteigen möchte
(was ich allen, die das können, herzlich ans Herz lege), möge meinen o. a. „Amicus Curiae Brief“ * lesen.
*[Als „Amicus
Curiae“ = Freund des Gerichts darf in der amerikanischen Rechtstradition
auch ein Unbeteiligter zu laufenden Verfahren in Schreiben an das Gericht
Stellung nehmen; diese Schreiben werden dann offiziell in den Prozess
eingeführt.]
- Der EFSF war zeitlich befristet; der ESM ist unbefristet.
- Der EFSF war betragsmäßig begrenzt; der ESM ist zwar in der aktuellen Version ebenfalls begrenzt; die politische Debatte zeigt jedoch, dass diese Grenzen sehr bald dramatisch erhöht werden.
- Der EFSF und die Griechenlandhilfe waren Kredite, von denen man theoretisch behaupten konnte, dass sie von den Empfängerländern zurückgezahlt werden würden. Der ESM ist - zwar noch nicht in seiner gegenwärtigen Form, aber von Angela Merkel auf dem Brüsseler Gipfel bereits zugesagt - jedenfalls teilweise von vornherein als Einstieg in eine Transferunion angelegt (Vergemeinschaftung der Bankenhaftung).
- Das Bailoutverbot des Art. 125 AEUV soll abgeschafft werden.
Die Art und Weise, wie die
Politik dieses Ding gedreht hat, ist geradezu ein intellektueller Faustschlag ins Gesicht des
Verfassungsgerichts. Denn die rechtliche Konstruktion entspricht dem Verhalten
eines Kleinkindes, das sich die Hände vor die Augen hält und sagt: „Jetzt kann mich niemand mehr sehen“. Und so etwas soll jetzt das BVerfG glauben!
Das Bailoutverbot bleibt
nämlich einerseits bestehen, andererseits wird es abgeschafft. Wenn das irre
klingt, dann machen Sie bitte nicht mich dafür verantwortlich, sondern jene
Rechtsverdreher, welche auf diese Tour reisen wollen. Das sind gewiss keine
Irren; aus meiner Sicht ist das vielmehr eine Form von politischer Kriminalität.
Hier zeigt sich exemplarisch die substantielle Berechtigung von Peter Boehringers ständiger Redeweise (in seinem "Goldseitenblog") von einem "Putsch" (beispielsweise: "Der Putsch der ESM-Eliten soll durch eine Pseudo-Beteiligung des Parlaments kaschiert werden" - Posting vom 07.05.12).
Aber zurück 'zur Sache, Mätzchen':
Der allgemein als
„Bail-out-Verbot“ bezeichnete Artikel 125 AEUV lautet (auf die wesentlichen
Passagen verkürzt):
„Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen
..… . Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der
Zentralregierungen ….. und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“
Eigentlich eine klare
Regelung, nicht wahr? So gesehen sollte man denken: „Dann hätte doch das Bundesverfassungsgericht
den EFSF verbieten müssen?“
Nun, das Gericht hat sich
überhaupt nicht zu diesem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht geäußert. Und
zwar aus formalen Gründen: es hält sich dafür für unzuständig.
Das bedeutet natürlich
umgekehrt, dass jetzt niemand dem BVerfG sagen kann: „Damals habt ihr das nicht beanstandet, also müsst ihr jetzt auch den
ESM passieren lassen.“
Denn die juristisch
entscheidende Dimension ist eben nicht die Vereinbarkeit des ESM (bzw. seinerzeit
des EFSF) mit dem Gemeinschaftsrecht, sondern mit dem Grundgesetz - in der Form, wie das
Gericht das GG auslegt.
Insoweit hat das Gericht in
der EFSF-Entscheidung unmissverständlich klargestellt (unter der RdNr. bzw. dem
Abs. 129), dass
a) Art. 125
AEUV als Bail-out-VERBOT zu
verstehen ist. Das war insofern wichtig, als es Schlaumeier gab, die die
Vorschrift anders auslegen wollten. Angeblich enthalte sie lediglich ein „Verbot einer Verpflichtung zur Finanzhilfe“, eine freiwillige Finanzhilfe sei damit gar nicht verboten.
Indem das
Gericht schreibt (129):
„Auch
weitere … Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern ….. verfassungsrechtliche
Anforderungen des Demokratiegebots. Zu nennen sind ….. insbesondere …..
das Verbot der Haftungsübernahme
(Bail-out-Klausel)“
hat es ein für alle mal klargestellt, dass diese Deutung falsch ist: Art. 125 AEUV
enthält ein Verbot, für andere
Länder einzutreten.
Daran kommt niemand mehr vorbei; vor allem und zum Glück kommt auch das Gericht selbst nicht so einfach aus dieser Nummer wieder raus!
Aus Sicht der
Politik noch schlimmer jedoch:
b) Dieses Bailout-Verbot
ist lt. Verfassungsgericht unabdingbar, damit die Währungsunion für Deutschland überhaupt verfassungsgemäß
ist.
Anders gesagt: Ohne Bailoutverbot
würde die Währungsunion gegen das Demokratiegebot verstoßen und wäre daher
grundgesetzwidrig.
Was haben also
die Politganoven gemacht? Sie haben die Verbots-Klausel auf dem Papier stehen gelassen,
aber kurzerhand eine andere Vorschrift eingefügt, welche im Ergebnis das Bailoutverbot
nicht nur aufhebt, sondern de facto sogar eine Bailout-Pflicht begründet, also Deutschland faktisch dazu verpflichtet, anderen Ländern bei
Finanzproblemen zu helfen. Die Euhaftungsmafia hat mithin das Bailout-Verbot in das genaue Gegenteil verkehrt!
Bei dem
Bail-out-Gebot, das jetzt eingeführt werden soll, handelt sich um den Artikel 136 Abs. 3 AEUV. Der lautet wie
folgt:
„Die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus
einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität
des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen
Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
Das „Können“
ist natürlich in der politischen Wirklichkeit ein „Müssen“, das nur zur
Täuschung des Verfassungsgerichts mit dem Wort „können“ verbrämt wurde.
Und die
angeblich „strengen“ Auflagen sind schon in der jetzigen Fassung des
ESM-Vertrages gar nicht mehr so streng, und sollen nach den Brüsseler
Gipfelzusagen von Angela Merkel noch weiter aufgelockert werden. Das wird
natürlich auch zu einer verstärkten Inanspruchnahme führen, und Deutschland
immer tiefer im Haftungssumpf versinken lassen.
Aber: Nach
seinem eigenen Verständnis muss es das Gemeinschaftsrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz prüfen.
Und wenn es
früher gesagt hat: „Ohne Bailout-Verbot wäre das Gemeinschaftsrecht verfassungswidrig“,
dann kann es jetzt nicht einfach das Gegenteil behaupten, wenn das politisch besser
in die Landschaft passt.
Natürlich
könnte es rein formal argumentieren, dass der Art. 125 ja nicht abgeschafft
wurde. Aber mit einer solchen Argumentation, die nach Art der drei Affen die
Augen und die Ohren vor einer Tatsache verschließt, die jeder Depp sieht,
würde sich das Gericht zum Gespött Deutschlands und der ganzen Welt machen. Das BVerfG weiß sicherlich, dass die Politganoven versuchen, es regelrecht „vorzuführen“. Und es weiß ebenfalls, dass es jegliche Autorität verlieren würde, wenn
es sich, um den Vertrag mit einer Scheinargumentation durchwinken zu können, derart
dumm stellen würde.
Formalrechtlich
sieht es so aus, dass die Kläger nicht nur die deutsche Zustimmung zum
ESM-Vertrag angegriffen haben (wie man glauben könnte, wenn man die
Berichterstattung liest). Sondern eben auch die Zustimmung zu der o. a.
Vertragsänderung des AEUV, also zur Einführung des (faktischen) Bailoutgebotes.
Wenn das
Gericht früher das Grundgesetz so ausgelegt hat, dass das Bailout-Verbot unerlässlich ist, damit die
Währungsunion mit dem GG vereinbar ist: Wie will es jetzt plötzlich das
Gegenteil sagen? Es steht ja unter der Beobachtung nicht nur von Laien wie mir,
sondern besonders auch von der Fachwelt. Die würde das genau so gut wie ich
(oder noch besser) merken, wenn das Gericht auf den Gedanken käme, in seiner
Argumentation sozusagen „krumme Touren“ zu fahren, um die deutsche Zustimmung
zum Bailout-Gebot passieren zu lassen.
Ich weiß beim
besten Willen nicht, wie das Gericht das mit Anstand anstellen könnte.
Wenn es
sich jedoch aufgrund seiner früheren Rechtsprechung (richtiger Weise) gezwungen sieht, die deutsche
Ratifikation des „Bailoutgebots“ im neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV zu untersagen,
dann kann es auch den ESM-Vertrag nicht passieren lassen.
Denn der steht
ja völlig eindeutig im Widerspruch zum Bailout-Verbot, und dieses Verbot ist ja lt. eigenem Urteil des BVerfG vom 07.09.2011 unverzichtbar.
Natürlich stand
schon der EFSF im Widerspruch zum Bail-out-Verbot; aber damals konnte man wegen der Finanzkrise noch
einen sozusagen übergesetzlichen Notstand behaupten, eine
„Not-kennt-kein-Gebot“-Situation, in der die Politik handeln musste, um den
Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems zu verhindern. (Nicht, dass ich persönlich
das glaube. Auch das Gericht hat sich dazu nicht geäußert, aber ich bin
überzeugt, dass es im Hinterkopf derartige Überlegungen angestellt hat, bzw.
zumindest der Politik nicht einen dahingehenden Einschätzungsspielraum einengen wollte.)
Aber das war
eben eine vorübergehende Lösung; mit dem ESM wird ein dauerhafter Bailout-Mechanismus errichtet, und das ist eine völlig
andere Situation.
Ich verzichte
darauf, an dieser Stelle auf weitere Einzelheiten einzugehen. Meine vorliegende
Sachverhaltsdarstellung ist natürlich sehr vereinfacht. Aber zumindest bietet
sie für diejenigen Leser, die wenig Zeit haben, oder denen die Lektüre von
relativ „fachlichen“ Rechtstexten Schwierigkeiten bereitet, einen Einstieg um
zu verstehen, warum nach meiner festen Überzeugung Karlsruhe gar nicht anders
kann, als den deutschen Beitritt zum ESM-Vertrag (und natürlich erst recht die
deutsche Zustimmung zum Bailoutgebot) zu verbieten.
Jede andere
Entscheidung würde für alle Deutschen - und für die ganze Welt - offenkundig machen,
dass das Gericht in diesem Falle nicht Recht gesprochen, sondern aus politischem
Opportunismus heraus Rechtsbeugung begangen hat. In Zukunft würde dann die
Politik mit dem Bundesverfassungsgericht nach Herzenslust „Schlitten fahren“.
Oder, wie ich
es im Vor-Blott zum Abschluss ausgedrückt hatte:
„Wenn das Bundesverfassungsgericht die hehren
Grundsätze seiner eigenen EFSF-Entscheidung vom 07.09.2011 ernst nimmt, kann es
nicht anders als am 12.09.2012 die Einführung der Bailout-Vorschrift in Art.
136,3 AEUV und Deutschlands Beitritt zum ESM zu stoppen. Tut es das nicht, oder
stimmt es unter irgendwelchen kosmetischen Auflagen zu, kann das BVerfG sein „Demokratieprinzip“
einbalsamieren.
Mit einer Feststellung der
Grundgesetzwidrigkeit dieser Normen wird sich das Gericht freilich den Hass
beinahe der gesamten politischen Klasse in Deutschland zuziehen. Die Problemländer
der Eurozone und die geballte Macht der Finanzmärkte werden das Gericht und
unser Land mit Drohungen, Schmähungen und Verwünschungen überhäufen.
Und doch führt nur dieser enge und steile
Pfad der Mühsal zur Erhaltung der Demokratie.
Der breite bequeme Weg einer Zustimmung geht
geradewegs in die rechtlose Hölle der Demokratur.
Für das Bundesverfassungsgericht wäre die via
lata [der breite Weg] einer Zustimmung freilich die Autobahn zu
einem Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde:
Als größte Heißluftfabrik der gesamten Welt.“
Nachtrag 03.09.2012:
Dieser Text kann von jedermann übernommen werden (z.B. für den eigenen Blog). Für einen Link oder Hinweis auf den Ursprung wäre ich dankbar.
Nachtrag 10.09.2012
Zum Thema vgl. auch den FAZ-Gastbeitrag "Nicht ohne uns" von Professor Dr. Wolfgang Kahl, Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht und Dr. Andreas Glaser, Akademischer Rat an diesem Institut (vom 08.03.12, also schon älter, aber vorzüglich).
ceterum censeo
Wer die Währungsunion nicht
scheitern lässt, wird Europa scheitern lassen!
Textstand
vom 10.09.2012.
Gesamtübersicht der Blog-Einträge (Blotts)
auf meiner Webseite http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm.
Eine
vorzügliche, laufend aktualisierte Übersicht über die Internet-Debatte zur
Eurozonenkrise bietet der
Blog von Robert M. Wuner. Für diesen „Service“ ihm herzlichen Dank!
Für
Paperblog-Leser: Die Original-Artikel in meinem Blog werden später z. T. aktualisiert
bzw. geändert.
Die von der "Goldman Sachs Group" unterwandere "politische Elite" wird dann recht sauer aufstoßen ...........
AntwortenLöschenSicher. Aber wenn das Verfassungsgericht hier foult, dann sollte das uns allen sauer aufstoßen. Ich fürchte nur, die wenigsten werden dann begreifen, was da passiert ist.
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