Sonntag, 30. Juni 2019

Vita Burkhardti Brinkmanni, Teil 1: Der Mutterseite Abstieg aus dem Kleinbürgertum

„Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben“

Wenn man denn je seine Lebenserinnerungen schreiben und online stellen möchte, dann sollte man das im Alter von 73 Jahren so langsam in die Tat umsetzen. Eigentlich bin ich zwar Optimist; aber letztlich weiß man ja nicht, wie viel Zeit einem noch bleibt.

In diesem Teil der Serie (bei der die Zahl der Folgen noch offen ist) werden Sie mir jedoch gar nicht begegnen: Hier stelle ich Fotos meiner Großeltern mütterlicherseits aus der Zeit bis zum 2. Weltkrieg ein.
Die Personen als solche werden meine Leserinnen und Leser eher gleichgültig lassen.
Indes denke ich, dass die ausgewählten Aufnahmen zugleich auch Dokumente einer "Sozialgeschichte von unten" sind. Wenn man, wie ich das getan habe, einen ganzen Karton mit alten Bildern einscannt, dann taucht man quasi in eine untergegangene Welt ein. Mich hat das fasziniert, und vielleicht hat ja auch der/die eine oder andere Leser(in) Freude daran.

Von den Vorfahren meines Vaters habe ich fast keine Bilder. Der kam aus der Arbeiterklasse, und die Familiengröße hat mein Vater in seinem "Schilsker Lied" beschrieben (in Schildescher Mundart): „Weei säiden met sierben Kinner beei Disk“, seine Eltern hatten also sieben Kinder. Da blieb kein Geld für den Gang zum Fotoatelier. (Einige der ganz wenigen Aufnahmen werde ich in einem späteren Teil präsentieren.)

Meine Mutter wuchs in einem bürgerlichen Haushalt auf; bis gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatten ihre Eltern hatten offenbar genügend Geld, um ab und an professionelle Fotoaufnahmen der Familie machen zu lassen. Das kann nicht billig gewesen sein, zumal die Bilder damals auf Karton aufgezogen wurden.


Heutzutage heißt es trocken "Wir haben uns verlobt".
Als meine Großmutter sich 1898 verlobte, "beehrte" sich noch die Brautmutter, die Verlobung ihrer Tochter "ergebenst anzuzeigen":

Die Kleidung ist natürlich von "anno dunnemals", aber .....

..... wenn man das Gesicht isoliert betrachtet, dann könnte meine Großmutter ein junges Mädchen von heute sein: Selbstbewusst und zuversichtlich schaut sie in die Zukunft, keine Spur von "unterdrücktem Weibchen". Geboren wurde sie 1872; auf dem Foto mag sie etwa Mitte 20 sein.

Verlobungs- oder Hochzeitsbild meiner Großeltern mütterlicherseits? Keine Ahnung. Jedenfalls ist es ein Bilddokument aus der Zeit um 1900, also aus "Kaisers Zeiten":

Bei diesem Herrenquartett (rechts unten mein Großvater), sieht man schon am "Kaiser-Wilhelm-.Bart", welchem Zeitalter sie zuzuordnen sind:

Das Bild hat Postkartengröße; außergewöhnlich hübsch (unter jenen "Pappfotos", die ich besitze) ist hier die Rückseite .....
 ..... und zugleich ein Beweis dafür, dass es Bielefeld eben DOCH gibt! :-)

Das isser, mein Großvater mütterlicherseits, um 1900:

Faszinierend modern finde ich die Personen in diesem Gruppenbild (links außen meine Großeltern): Ungezwungen-natürlich stehen sie da, schauen heiter, kokett oder schelmisch drein. Kein bisschen steif, wie wir uns diese Epoche vielleicht vorstellen. Die weißen Kleider erinnern mich an zeitgenössische impressionistische Gemälde aus dieser "belle époque", dem "fin de sciècle" des "langen 19. Jahrhunderts".

Um einiges zeremonieller blicken uns die Menschen auf diesem Foto an. Keine Ahnung, wer das ist; auf jeden Fall offenbar Sippschaft von meiner (Groß-)Mutterseite. Sieht nach feierlichem Anlass aus: Goldene Hochzeit oder runder Geburtstag? 

Relativ spät bekam meine Großmutter ihr einziges Kind (Tochter): mit ca. 32 Jahren. (Meine Mutter mich allerdings noch später: erst mit 41.)

Schleifchen im Haar, jetzt geht's ins Seminar? Nun, ganz so weit war meine Mutter im Alter von 2 Jahren denn doch nicht. Aber allemal ein hübsches Kind:

Auf diesem Bild einer glücklichen Familie ist sie vielleicht schon ein oder zwei Jahre älter:

Wie alt mag meine Mutter gewesen sein, als sie Schulkostüm und Schulranzen trug? Neun Jahre? Dann müsste ich, wenn das Ganze eine Diaschau mit Musikuntermalung wäre, jetzt drohende Trommelwirbel einblenden, denn bald ist Schluss mit "belle époque" - und ebenfalls mit glücklicher Familie:

Dieses Bild entstand bereits im Weltkrieg (dem ersten natürlich). Mein Großvater war Unteroffizier und hatte wohl Heimaturlaub.

Gegen Ende des Krieges (1917 oder 1918) erwischte es ihn: Vergiftung durch Kampfgas. Nicht des Feindes, sondern der eigenen Truppen (der Wind hatte sich unerwartet gedreht .....). Und eine Gasmaske trug er offenbar nicht. Arbeitsunfähig, jahrelanges Leiden, Kriegsversehrtenrente gab es damals wohl auch noch keine.
Die Familie musste ihr Haus verkaufen und lebte dann - nicht mehr besonders gut - wohl von der Arbeit meiner Mutter als Büroangestellte. "Archäologisch" spiegelt sich dieser wirtschaftliche Absturz im fast gänzlichen Fehlen von Fotos aus der Zeit vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wieder.

Es gibt (leider auch in "meiner" AfD*) unter den kleinen libertär-marktradikalen Kriegsknechten des großen Kapitalbesitzes einige, welche die Familie als angeblich bewährten historischen Ort der sozialen Versorgung in Krisenfällen preisen - um die staatlichen Sozialleistungen wieder abschaffen zu können.
Wenn ich derartige Dummschwätzerei höre (bzw. i. d. R. eher: lese), dann packt mich ein wahrer furor teutonicus. Nicht nur, aber durchaus auch wegen meines Wissens um diese "Mikrogeschichte".
(Wie sich Kriegskrüppel damals durchschlagen mussten, zeigt z. B. das Gemälde "Der Streichholzhändler" von Otto Dix. Aber natürlich lebten nicht alle schlecht in der "Verwüsteten Welt". Heutzutage leben manche anscheinend schon wieder zu gut .....)
Nachtrag 02.07.2019
Die Marktfanatiker ("Neoliberalen") hatten schon im Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland (AfD) versucht, ihre Kahlschlag-Phantasien im Sozialbereich durchzudrücken. Damals (Anfang 2016) kursierte ein erster Programmentwurf, den ich seinerzeit in meinem Blott "AfD-Programmentwurf: Libby Langfingers Dschihad gegen den Sozialstaat" analysiert und (heftigst) kritisiert hatte. Es war wohl Alexander Gauland, der alte Leitfuchs der AfD, welcher dafür sorgte, dass diese Fassung ganz schnell in der Versenkung verschwand. In der Vorlage für den Programmparteitag, die weitestgehend dem endgültigen Programm entsprach, waren die neoliberalen Giftzähne fast vollständig gezogen (ein Rest hat sich z. B. im Programmpunkt 5.2 erhalten, wo die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit und eine Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung gefordert wird - was in historischer Sicht eine Rückkehr zu den Anfängen in kaiserlicher Steinzeit wäre.) Zur Rolle der Familie in den sozialen Sicherungssystemen schwadronierten die Kapitalschwärmer im Kap. VI. "Soziale Sicherheit in Not und Alter" des ersten Programmkonzepts: 
"Die AfD tritt dafür ein, dass Deutschland auch bei den sozialen Sicherungssystemen eine Rückbesinnung auf bewährte Tugenden braucht. Die staatliche Sicherung ist für Notlagen gedacht, darf nicht überfordert werden und soll und kann die Familie als Keimzelle gesellschaftlicher Solidarität nicht ersetzen. Wir erkennen dabei, dass das Umlagesystem Halt in schwierigen Zeiten geben kann, gleichzeitig aber auch die Selbständigkeit des Bürgers untergräbt und bewährte familiäre Strukturen unterlaufen kann. Wir wollen daher eine Reform der sozialen Sicherungssysteme." 
(Text entnommen aus meinen o. a. "Langfinger"-Blott.)


Fortsetzung meiner Autobiographie:



ceterum censeo
Wer alle Immiggressoren der Welt in sein Land lässt, der ist nicht "weltoffen":
Der hat den A.... offen!
Textstand vom 19.07.2019

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