- "Ungleiche Vermögensverteilung. Bitte erhöht meine Steuern!" (MAX OTTE, JF 05.08.2019)
- und
- "Debatte über Abgabenlast. Bitte senkt meine Steuern!" (BEATRIX VON STORCH, JF 07.09.19)
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass die Partikularinteressen der Reichen einen breiten propagandistischen Cordon sanitaire unter den weniger Reichen besitzen. Wenn man freilich genauer hinschaut, ist das gar nicht so unverständlich: Die Möchtegern-Reichen verteidigen die Verteilungsinteressen der Reichen (gegenüber dem Staat einerseits und den Armen andererseits), weil sie für sich selber Reichtum erhoffen. Deshalb buckeln sie (diskursiv) nach oben und treten nach unten.
Wohingegen es unter den wirklich Reichen durchaus Menschen gibt, die über den engen Tellerrand ihrer kurzfristigen Partikularinteressen hinausblicken können. Und das nicht, weil sie verträumte Menschenfreunde wären. Sondern weil sie vorausdenken können und klar sehen, dass gewisse wirtschaftlich-gesellschaftliche Entwicklungstendenzen auf längere Sicht gesehen ihre eigenen Interessen ebenso gefährden, wie sie eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Leistungsbereitschaft der breiten Masse darstellen.
Zu dieser Sorte Reicher gehören z. B. die Investorlegende Warren Buffet in den USA - oder in Deutschland Prof. Max Otte.
Prof. Otte beschreibt in seinem o. a. Aufsatz in der Zeitung "Junge Freiheit" seine Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Entwicklung, die er für gefährlich hält (meine Hervorhebungen):
"Es ist meine feste Überzeugung, daß die Politik seit den achtziger Jahren systematisch die Reichen und Superreichen begünstigt, die Mittelschicht benachteiligt und die Basis unseres gesellschaftlichen Friedens erodiert."
"Im Zuge der hemmungslosen Expansion des Finanzkapitalismus ist eine Klasse von Superreichen entstanden. Sie zahlen keine oder kaum Steuern und bilden eine eigene Gesellschaft, einen neuen transnationalen Adel. Viele Wirtschaftsstraftatbestände treffen sie nicht, da sie alles über Family Offices, Kapitalgesellschaften und angestellte Manager erledigen lassen. Zudem zeigt der neue Adel Elemente einer Kastenbildung. Wettbewerb und Mobilität gehen zurück. Große Kapitaleinkommen sind weitgehend leistungsfrei durch das Rechtssystem abgefedert."
"Seit ungefähr 30 Jahren erodiert dieses Mittelklasseidyll. Der Berliner Finanzwissenschaftler Timm Bönke kommt zu dem Schluß, daß die Mittelschicht seit 1990 um mehr als drei Millionen Menschen geschrumpft ist. Mittlerweile befindet sich fast jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland in einem prekären Arbeitsverhältnis, das sind fast acht Millionen Menschen. Zwischen den Jahren 2000 und 2010 stiegen die Reallöhne nur um 1,4 Prozent. Für die unteren 80 Prozent sanken sie sogar."
"Zu dieser Situation tragen unter anderem eine unfaire Steuerpolitik, die Explosion der Vermögenspreise und die Erosion der öffentlichen Güter bei. Der amerikanische Unternehmer, Milliardär und Philanthrop Eli Broad schrieb hierzu, daß er sein Vermögen exponentiell habe wachsen sehen, weil die Regierungseine Steuern immer weiter gesen2kt habe, während die Löhne für normal arbeitende Menschen stagnierten und die Armut anstieg."
"Die Motivation, etwas zu leisten, nimmt ab, wenn die Ungleichheit zu groß wird und sich zu sehr verfestigt. Kriminalität, Drogenkonsum und Krankheiten nehmen zu. Die öffentliche Ordnung erodiert."
"Ansatzpunkte für Reformen gibt es viele. Fangen wir beim Steuersystem an. Wer Vermögenseinkommen bezieht, zahlt effektiv zwischen 26,4 und 28 Prozent Steuern. Arbeitnehmer mit einem Bruttoeinkommen bis 40.000 Euro pro Jahr tragen inklusive Sozialabgaben eine Belastung von 43 Prozent, bis 50.000 Euro bereits fast die Spitzenbelastung von 45 Prozent. Sehr unfair. Stellt Kapitaleinkünfte den Arbeitseinkommen gleich! Denkt über eine Vermögensteuer und ordentliche Erbschaftsteuern nach! Senkt dafür die Steuern für die Leistungsträger der Gesellschaft in der Mittelschicht und senkt die stark regressiv wirkende Mehrwertsteuer."
Beatrix von Storch (BvS), stellvertretende Bundessprecherin und Bundestagsabgeordnete der AfD, hat sich nach meiner Einschätzung große und bleibende Verdienste um die Erhaltung der Demokratie wie um den Aufbau der Partei erworben.
Vor der Gründung der AfD war ihr Portal "Freie Welt" einer der, wenn nicht gar der, führende(n) Kristallisationspunkte(n) für die Bürgeropposition gegen das Blockparteienregime. Dieser Vorarbeit (und ihrer anschließenden Unterstützung der AfD) ist m. E. ein Gutteil des raschen Aufstiegs der Partei zuzuschreiben. Dafür können die Partei(mitglieder) wie die deutschen Bürger ihr nur dauerhaft dankbar sein.
Weniger verdienstvoll ist ihr Wirken im programmatischen Bereich der AfD, und zwar speziell auf dem Felde der Wirtschafts- bzw. Sozialpolitik. Anfang 2016 erschien eine erste Version des Entwurfs für ein AfD-Parteiprogramm. Diese war ausgesprochen marktradikal und arbeitnehmerfeindlich, indem sie eine Abschaffung der gesetzlichen Unfall- und Arbeitslosenversicherung vorsah (vgl. meine damalige Kritik "AfD-Programmentwurf: Libby Langfingers Dschihad gegen den Sozialstaat"). Und diese Fassung soll auf BvS zurückgehen. Offenbar ist sie eine Marktradikale, die dem möglichst ungezügelten Markt ein quasi religiöses Vertrauen entgegenbringt.
So kann es auch nicht verwundern, dass BvS Otte entgegentritt. Dabei kämpft sie allerdings mehr gegen einen selbst aufgebauten Strohmann als gegen das, was Otte wirklich geschrieben hat.
Ihr einleitendes Lob
"Max Otte hat mit seiner Kritik an der Belastung des Mittelstandes und dem Verfall der öffentlichen Güter ein wichtiges Thema angesprochen"
ist bloßes Lippenbekenntnis. Denn insoweit, als sie in der Folge überhaupt auf jene Probleme zurückkommt, die Otte beredt beschrieben hat, redet sie gezielt an Ottes Argumenten und Anliegen vorbei.
Wenn Prof. Otte eingangs auf Kevin Kühnert Bezug nimmt, den Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten, dann tut er das zweifellos, um seine Leser sozusagen per Schockmethode zum Nachdenken zu bringen und ihre volle Aufmerksamkeit zu gewinnen - und nicht etwa, um sie für die Sozis zu begeistern. Schließlich steht Otte als Vorsitzender des Kuratoriums der Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD nahe, und die ist alles andere als sozialistisch.
Doch BvS gelingt es, den zweiten der beiden Otte-Sätze
"Kevin Kühnert und seine Mitstreiter haben recht. Vielleicht nicht bei allen ihren Forderungen, aber mit ihrer grundsätzlichen Analyse"
souverän zu überlesen. Und kann sich dadurch an Otte abarbeiten, als ob dieser ein Fan des Sozialismus wäre:
"Allerdings glaube ich nicht, daß sich diese Probleme durch eine linke Wirtschafts- und Finanzpolitik lösen lassen. Die Politik, die Kevin Kühnert vorgeschlagen hat, ist schon zigmal katastrophal gescheitert .... ."
Das ist zwar richtig - aber es ist nicht das, was Otte fordert. Bei einem derart überzeugten Marktwirtschaftler darf man schon davon ausgehen, dass dieser den Kapitalismus nicht abwürgen will, und z. B. die Gefahr eines Überdrehens der Steuerschraube durchaus kennt. Nur findet er sich eben nicht fatalistisch mit jenem Sachverhalt ab, den BvS so beschreibt:
"Das oberste eine Prozent der Einkommen, das angeblich durch höhere Spitzensteuersätze getroffen werden soll, ist global aufgestellt und flexibel genug, der Besteuerung zu entgehen. Am Ende treffen höhere Spitzensteuersätze und Vermögenssteuern nicht diejenigen, die ihr Kapital international nach Belieben umschichten und ihren Wohnsitz nach Österreich, in die Schweiz, Monaco, Rußland, Hongkong, Singapur oder auf eine private Südseeinsel verlegen können, sondern die Mittelschicht."
Es ist kein Naturgesetz, dass sich die Superreichen der Besteuerung entziehen können. Gerade in den letzten Jahren wurden international massive Anstrengungen unternommen, den Steueroasen auf die Pelle zu rücken. Die USA jedenfalls haben mit zahlreichen Ländern Abkommen geschlossen, die ihnen den Zugriff auf die Vermögensdaten ihrer Bürger in diesen Ländern sichern. In Deutschland sind die Banken insoweit bereits zu Handlangern des US-Fiskus geworden (und führen aufgrund der damit verbundenen Bürokratiekosten gar keine kleinen Aktiendepots für US-Bürger mehr).
Ich denke, dass dieses Abkommen reziprok ist, dass also auch deutsche Bürger in den USA "gläserne Taschen" für den deutschen Fiskus haben. Und international laufen weitere Bemühungen, die Steuerhinterziehung einzudämmen.
Wenn also BvS ihre Ablehnung einer höheren Besteuerung der Superreichen resignativ mit der Behauptung begründet, diese könnten sich dem Zugriff des Fiskus ohnehin entziehen, dann erklärt sie damit zugleich, dass sie als Politikerin gar nicht gewillt ist, diese Kreise fiskalisch an die Hammelbeine zu kriegen: Sie will sie achselzuckend davon kommen lassen!
Die von Otte identifizierten Fehlentwicklungen schiebt sie kurzerhand nach Afrika ab:
"Otte benennt die Probleme richtig beim Namen, aber seine Analyse greift zu kurz, weil er die wichtigsten Ursachen in seinem Beitrag ausspart: Demographie und Migration. Armut und Ungleichheit haben in der Welt vor allem deshalb zugenommen, weil die Bevölkerung in den ärmsten Ländern massiv gewachsen ist. In Afrika etwa hat sich seit dem Jahr 1950 die Bevölkerung verfünffacht. Wenn das Bevölkerungswachstum stärker ist als das Wirtschaftswachstum, dann sinkt das Pro-Kopf-Einkommen, dann wächst die Armut."
Diese Feststellungen sind zwar IN SICH richtig. Aber
a) hat sinkendes Pro-Kopf-Einkommen nicht zwangsläufig steigende Ungleichheit zur Folge und
b) spricht Otte (und sprechen die von ihm erwähnten Stimmen aus den USA) nicht über die Lage in Afrika, sondern über die Situation IM WESTEN (bzw. in den entwickelten Industrieländern).
Die Geburtenquote in Afrika hat REIN GAR NICHTS damit zu tun, dass "zwischen den Jahren 2000 und 2010 ..... die Reallöhne nur um 1,4 Prozent [stiegen]" und "für die unteren 80 Prozent ..... sogar [sanken]". (Otte)
BvS' Afrika-Abstecher entpuppt sich damit als pure Ablenkungs- und Desinformationsstrategie.
Recht hat sie zwar, wenn sie der Bundesregierung vorwirft
"Ohne Sinn und Verstand hat die Bundesregierung das zusätzliche Steuergeld für ihre ideologischen Großprojekte wie die Energiewende, Eurorettung und Flüchtlingspolitik verwendet. Die verfehlte Asylpolitik der Bundesregierung kostet allein den Bund jährlich über 20 Milliarden Euro."
Aber Otte will ja gar nicht "die Bundesregierung mit ZUSÄTZLICHEN Steuermitteln ausstatten". Vielmehr fordert er eine UMSCHICHTUNG der Steuerbelastung:
"Stellt Kapitaleinkünfte den Arbeitseinkommen gleich! Denkt über eine Vermögensteuer und ordentliche Erbschaftsteuern nach! Senkt dafür die Steuern für die Leistungsträger der Gesellschaft in der Mittelschicht und senkt die stark regressiv wirkende Mehrwertsteuer."
Dafür sitzt sie im Bundestag, dafür kann und muss sie selber als Politikerin eintreten, dass eben NICHT
"jeder Euro seines ehrlich verdienten Geldes in zusätzliche Asylbewerberheime, Gender-Professuren, Netzüberwachung und den Kampf gegen „Rechts“ fließen [wird]" - sondern in eine Steuersenkung für die anderen. Aber eine Gleichbelastung von Kapital- und Arbeitseinkommen ist für sie offenbar Teufelszeug.
Für die Energiewende hat die Regierung zwar einige Milliarden ausgegeben (Entschädigungen für die vorzeitige Abschaltung der Kernkraftwerke). Die große Masse der Kosten jedoch hat sie (via Stromrechnung) den Stromverbrauchern aufgebürdet (und dabei noch zusätzlich höhere Steuern eingenommen). Auch für die Eurorettung sind (ganz im Gegensatz zur Bankenrettung!) noch keine Kosten angefallen: Die kommen erst noch auf uns Steuersklaven zu - irgendwann.
Indem er nicht zu den einschlägigen Texten der von ihm erwähnten amerikanischen "Kapitalismuskritiker" (sage ich mal pauschal) verlinkt, macht Otte es Kritikern wie BvS leicht, seine Ausführungen auf die leichte Schulter zu nehmen.
Ich selber habe zunächst einmal lediglich einen einschlägigen Text herausgesucht, und zwar von Ray Dalio: "Why and How Capitalism Needs to Be Reformed (Parts 1 & 2)" vom April 2019. (Video-Affine werden seine Thesenpräsentation - zusammen mit einem Interview - vermutlich auch hier finden.) Dalio (wie zweifellos auch Otte) geht es nicht um eine allgemeine "Menschheitsbeglückung". Vielmehr sehen die (wie übrigens, weit früher und auf andere Weise, bereits George Soros in seinem legendären Essay "The Capitalist Threat") diese Fehlentwicklungen nicht zuletzt unter dem Aspekt einer SELBSTGEFÄHRDUNG des (sage ich mal plakativ: ) 'kapitalistischen Systems'. Dies wird bereits aus der einleitenden Zusammenfassung bei Dalio deutlich (meine Hervorhebungen):
"At age 12 one might say that I became a capitalist because that’s when I took the money I earned doing various jobs ..... and put it in the stock market when the stock market was hot. That got me hooked on the economic investing game which I’ve played for most of the last 50 years. To succeed at this game I needed to gain a practical understanding of how economies and markets work. My exposure to most economic systems in most countries over many years taught me that the ability to make money, save it, and put it into capital (i.e., capitalism) is the most effective motivator of people and allocator of resources to raise people’s living standards. [D. ist also alles andere als ein Anti-Kapitalist!] Over these many years I have also seen capitalism evolve in a way that it is not working well for the majority of Americans because it’s producing self-reinforcing spirals up for the haves and down for the have-nots. This is creating widening income/wealth/opportunity gaps that pose existential threats to the United States because these gaps are bringing about damaging domestic and international conflicts and weakening America’s condition.
I think that most capitalists don’t know how to divide the economic pie well and most socialists don’t know how to grow it well, yet we are now at a juncture in which either a) people of different ideological inclinations will work together to skillfully re-engineer the system so that the pie is both divided and grown well or b) we will have great conflict and some form of revolution that will hurt most everyone and will shrink the pie.
I believe that all good things taken to an extreme can be self-destructive [DAS blenden die radikalen Marktvergötzer souverän aus] and that everything must evolve or die. This is now true for capitalism. In this report I show why I believe that capitalism is now not working for the majority of Americans, I diagnose why it is producing these inadequate results, and I offer some suggestions for what can be done to reform it. Because this report is rather long, I will present it in two parts: part one outlining the problem and part two offering my diagnosis of it and some suggestions for reform.
Nachtrag 05.01.2020
Vergleich zum vorliegenden Zusammenhang auch den FAZ-Bericht "Debatte über Ungleichheit : Bill Gates: Die Reichen sollten mehr Steuern zahlen" vom 04.01.2020.(Dort auch ein Link zu dem besprochenen Original-Beitrag von Gates.)
ceterum censeo
Wer alle Immiggressoren der Welt in sein Land lässt, der
ist nicht "weltoffen":
Der hat den A.... offen!
Textstand vom 05.01.2020
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