Sonntag, 20. November 2005

EINE PHILIPPIKA GEGEN DEN NIEDERGANG DER DEUTSCHEN PHILOSOPHIE ALS DOKUMENT DES NIEDERGANGS DER DEUTSCHEN PHILOSOPHIE


Auf der Suche nach Jared Diamond fand ich Dr. Joachim Jung. Ton, Tusch, Titel: "Die Korruption der Vernunft". Donnerwetter! dachte ich, da stehe ich ja vor einem intellektuellen Geschütz vom Dicke-Berta-Kaliber. So ähnlich wie bei Robert Kurz, der sich kurz mal so Gedanken über "Der ontologische Bruch" macht. Aber immer schön der alphabetischen Reihenfolge nach, oder: "Warte, Robert, noch ein Weilchen, dann kommt Burkhardt auch zu dir!"


Nun ist jedenfalls erst mal Joachim Jung an der Reihe. Der sagt harte (und zweifellos richtige) Worte über die deutsche Universitätsphilosophie. Freilich, wenn man die Geschichte des Denkens betrachtet: der Großen Zahl war immer sehr begrenzt. Man könnte sogar sagen, dass sie per definitionem begrenzt bleiben muss, denn nur wo viel Kleinzeug wimmelt, kann ein Großer groß rauskommen.

Und überhaupt sagte ja schon JWG: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, käu's wieder, um es zu besitzen!" Se non è vero, dann hat er es halt etwas anders formuliert. Indes glaube ich durchaus, dass auch die akademische Philosophen als Umwälzpumpen des Denkens eine Funktion und Existenzberechtigung haben – wenn's denn nicht zu viele werden. Und nicht zu teuer für uns als Zahler von Steuer.

Wünschen würde ich mir freilich mit Dr. Jung, dass sich in dem vielfältig durchgekneteten Gedankenteig doch ab und an ein Hefepilz erheben möge. Recht gebe ich ihm, bzw. hätte ich ihm 1998, als er seinen Aufsatz publizierte, auch darin geben müssen, dass die Hefe nur noch im Westen, gelegentlich transrhenanisch (meist links, logisch, da Trans-Rhenanien links-rheinisch liegt), in der Hauptsache aber transatlantisch aufgeht.

Seit freilich Peter Sloterdijk im Hotel Schloss Elmau (das übrigens ist neulich in Brand aufgegangen: zu viel Schwefel dort gelassen, der Sloterdijk?) den Humanismus transzendierte und die Menschen im Park parkte, müssen wir differenzieren: "Deutsche Philosophie ohne Weltrang - bis auf Sloterdijk!" Mittlerweile freilich flüchtet sich Sloterdijk vor der Verfolgung durch die Tierfreunde (ich weiß nicht, ob der von Joachim Jung hochgelobte Richard David Precht auch dabei war, oder ob er gerade in "Noahs Erbe" "Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen" was niederschrieb – nee, das kann nicht sein, das Buch ist ja schon 1999 erschienen). Und versucht seine "Regeln für den Menschenpark" (hier eine tief schürfende Interpretation - die sogar in der Wikipedia!) hinweg zu scherzen. So ist das halt, wenn man (nicht nur:) die Schöpfungskronen auf den Lehrstuhlthronen provoziert, sie sollen die Löffel spitzen (nein, nicht: abgeben), dann werden die fuchsteufelswild, und der Philosoph muss aus seinem Versuchsballon mit politischen Manövern die Luft rauslassen. Philosophie in Deutschland? Unser Schlottderdeich jedenfalls schluckt keinen Schierlingsbecher, will nicht einmal den Kelch der Exklusion aus dem Mainstream-Moraldiskurs leeren.

Dabei wollte doch Peter Sloterdijk nur dem Transhumanismus ein Türchen öffnen. Denke ich jedenfalls. Das aber kann man in D.land nicht bringen. Das dorten indigene Forschervolk gibt lieber vor, dass es die selbst gezogenen Grenzen erforschen wolle, als dass es in der Natur was forscht. Geistiges Aschevolk, schlotternd vor Angst, man könnnte in die "technological singularity" (http://en.wikipedia.org/wiki/Technological_singularity) akzelerieren. Was wäre denn so schlimm daran (vorausgesetzt natürlich, unsere beseelten Golems oder irgendein "grey goo" (http://en.wikipedia.org/wiki/Grey_goo) machen uns nicht alle. Aber selbst das müssten wir, wollten wir wirklich philosophisch denken, akzeptieren. Jedenfalls dann, wenn man Philosophie als abstrakte Liebe zur Erkenntnis, und nicht als ein codiertes Spiel menschlicher Interessen verstehen und betreiben will.


Einschub:
Doch, auch vor Sloterdijks Menschenpark gab es Philosophie und Philosophen in Deutschland, einen zumindest, er einen gewissen internationalen Rang beanspruchen durfte: Niklas Luhmann. Was immer man von seinen Thesen halten mag (vorausgesetzt, man versteht sie überhaupt, was ich für mich keineswegs beanspruchen will; habe bislang allerdings auch erst zwei Aufsätze von ihm gelesen): "Nur" Soziologie sind sie gewiss nicht.
Ein Absatz wie dieser (aus seinem Vortrag "Entscheidungen in der Informationsgesellschaft"):
"Um diesen Fragen Rechnung zu tragen, könnte man Entscheidungen definieren als Einführung von Zeit in die Zeit. Zeit ist ja zunächst als eine Art Hintergrundrauschen des ständigen Kommens und Vergehens gegeben. In diese ursprüngliche Zeit kann ein Beobachter die Unterscheidung von Vorher und Nachher einführen, wenn er Zeitpunkte oder Ereignisse identifiziert, die diesen Unterschied machen (das heißt: ohne die er entfallen würde). Da es endlos viele Möglichkeiten für solche Zäsuren gibt, bleibt Zeit im Sinne einer Vorher/Nachher-Differenz beobachterrelativ. Handlungen sind nur möglich, wenn man sie bestimmt als ein Ereignis, das im Hinblick auf Vorher und Hinterher einen Unterschied macht. Das bereitet noch keine besonderen Schwierigkeiten und führt auch nicht zu einer Rückprojektion dieses Unterschieds in die allgemeine Zeit des Kommens und Vergehens. Diese Einführung von Zeit in die Zeit geschieht erst dadurch, dass man das Vorher als Vergangenheit und das Nachher als Zukunft interpretiert. Genau damit wird, so unsere These, aus der Handlung eine Entscheidung. Wie ist das möglich? Und was sind die Konsequenzen?" [Hervorhebung von mir]
entzieht sich zwar zugegebenermaßen meinem Eindringverständnis. Doch habe ich hinreichendes Vertrauen in mein Abtastverständnis um das Urteil zu fällen, dass die Konzeption einer " Einführung von Zeit in die Zeit" eher der Kategorie Philosophie, und weniger der Soziologie, zuzuordnen ist.

Einschub Ende .....

..... und zurück zum "Aschevolk":
Diese Diagnose trifft leider auch Joachim Jung, wenn er uns vorführt, was er für Philosophie bzw. wen er für einen kreativen Philosophen hält. Nach der Einleitung "Ich möchte daher drei neue philosophische Modelle vorstellen, die zeigen, dass man Philosophie auch anders betreiben kann, als ständig nur die Autoritäten der Vergangenheit nachzuerzählen" präsentiert er uns:


1) Jared Diamond, über den ich bereits früher berichtet habe ("Der größte Fehler in der Menschheitsgeschichte?" und "KEINE JUNGFRAU ZÄHMT DIESES ZWEIHORN"). Der ist wahrhaftig ein origineller, vielleicht sogar ein genialer, Kopf. Das freilich war Albert Einstein auch: aber ein Philosoph? Wenn Diamond in seinem Buch "Guns, Germs and Steel. The Fates of Human Societies" (Deutsch: "Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften") der Frage nachgeht, warum die Welt der Moderne in Europa entwickelt wurde (oder vielleicht sogar nur hier überhaupt entwickelt werden konnte), dann gleicht, wie es ein gewisser Karsten Pöhl in einer Rezension formuliert, "sein Buch ... einem Flug in großer Höhe, wo die Vogelperspektive alle Details unsichtbar, die großen Konturen aber sichtbar macht." Diese Tatsache rechtfertigt es indes ebenso wenig wie die Originalität von Diamonds Forschungsansatz und Forschungsthesen, den Geographen, oder Anthropologen, oder Zivilisations- oder Umwelthistoriker Jared Diamond in die Rubrik "Philosophen" einzuordnen.
In einer (sehr klugen, distanziert-positiven) Kritik u. d. T. "The World According to Jared Diamond" schreibt der Historiker J.R. McNeill sicherlich zutreffend über das Selbstverständnis von Diamond als Wissenschaftler:
"Another distinction is that Diamond's book argues for the possibility of a genuinely scientific history. Historians are divided as to whether their craft ought to be classified as an art or a social science. Diamond thinks history can be a science in roughly the same way that evolutionary biology or astronomy are sciences. Experiments are impossible in all these fields (as opposed to physics or chemistry), but so-called natural experiments are possible. In these one can compare developments in similar historical cases that are made different by the presence or absence of a potentially key variable. Methodologies developed in paleontology, ecology, and epidemiology, he says, can help historians make their inquiries more scientific. Diamond believes he has done this by comparing the long-term destinies of the continents." [Hervorhebung von mir]

Diamond hat also nichts weniger im Sinn als philosophische Spekulation. Jede Geschichtsschreibung, sofern sie sich nicht auf eine simple Sachverhaltsdarstellung im Stil von "Drei Drei Drei, bei Issos Keilerei" beschränkt, arbeitet mehr oder weniger stark mit mehr oder weniger fundierten Kombinationen und Mutmaßungen. War Edward Gibbon ein Philosoph, weil er versucht hat, die Gründe für den Untergang des Römischen Reiches zu finden? Waren (auf ihren Gebieten) Darwin oder Adam Smith Philosophen? Zwar: wir (und vielleicht noch mehr die Zeitgenossen) sehen bei allen diesen Denkern – beim einen mehr, beim anderen weniger – spekulative Elemente, die man durchaus als "philosophisch" bezeichnen kann. Doch war es allen dreien um wissenschaftliche Erkenntnis zu tun, und der Umstand, dass sie selbst erst Vorarbeiten leisten mussten, auf denen wir heute fachlichere (sicherlich nicht immer: exakte!) Wissenschaften aufbauen konnten, bedeutet nicht, dass sie sich nicht selbst (im Gegensatz z. B. zu Oswald Spengler, den Jung zutreffend als Philosoph einordnet) als Suchende nach wissenschaftlicher Erkenntnis verstanden hätten.

Philosophie fängt überhaupt erst dort an, wo Diamond aufhört. Sicherlich sind in der Vergangenheit manche Völker durch Ressourcenknappheit und manche Städte durch Umweltveränderungen nieder- oder sogar untergegangen. Der entscheidende Unterschied zwischen den historischen Beispielen und unserer Situation, den Jared Diamond anscheinend nicht wahrnimmt oder (vielleicht unterbewusst) ausblendet, ist die Tatsache, dass es bei früheren kleineren und größeren zivilisatorischen Katastrophen in der Regel um erneuerbare Ressourcen ging, bei denen, zumindest theoretisch, eine nachhaltige Nutzung anstelle von Raubbau möglich gewesen wäre. Heute fressen wir die Erde von nicht-erneuerbaren Ressourcen kahl, wie die Rentiere die Insel des Heiligen Matthäus vom (eigentlich nachwachsenden) Gras befreit haben (cf. David R. Klein, "THE INTRODUCTION, INCREASE,AND CRASH OF REINDEER ON ST. MATTHEW ISLAND"). Und wir haben (insoweit durchaus den Rentiere auf der Insel des Heiligen Matthäus vergleichbar) keine andere Wahl.
"Nachhaltigkeit" und "nachhaltiges Wirtschaften" ist mit nicht-erneuerbaren Rohstoffen letztlich nicht möglich. Natürlich könnten wir die Vorräte strecken, indem wir den Verbrauch verringern. Selbst das aber dürfte nur dann möglich sein, wenn die Weltbevölkerung sich drastisch reduziert oder drastisch reduziert wird. Dass ein globaler Populationsrückgang, oder gar Populationskollaps (auf einem der beiden Wege) eintritt (bevor die Ressourcenverknappung ihn ggf. direkt herbeiführt), erscheint derzeit unwahrscheinlich; es kommt kein Komet (und wenn, rafft er uns möglicher Weise alle miteinander hin: Kometen sind so unsensibel …). Nach derzeitigem Stand müssen wir also damit rechnen, dass der Verbrauch von Bodenschätzen weiter steigt; und Erdöl wird nicht die einzige Ressource bleiben, die schon recht bald plötzlich (aber nicht unerwartet) knapp werden wird.
Im übrigen, und von der Demographie gänzlich abgesehen: "Strecken" ist keine "Nachhaltigkeit", auch wenn zahlreiche (fast alle? alle?) Ressourcenstreckungsstrategen den unaufhebbaren Unterschied wohlmeinend verwischen.

Die nichterneuerbaren Ressourcen werden auch nicht dadurch mehr, dass die Wohlhabenden aus ihren "gated communities" ausziehen und unter uns wandeln wie des Menschen Sohn. Gewiss: jetzt wie zu Zeiten der Mayas werden die Oberen Zehntausend die letzten sein, welche die volle Härte der Umweltkrise treffen wird. Aber aufgrund ihres besseren Bildungs- und Informationsstandes werden sie heutzutage zumindest intellektuell sogar früher mit dem Problem konfrontiert sein als der "Mann auf der Straße" (oder, um politisch korrekt auch das weibliche Geschlecht zu berücksichtigen: als "Lieschen Müller"). Und auch real wird die Rohstoffverknappung sie in kurzer Zeit erreichen und sie zu (zunächst zumindest subjektiv, aber sehr bald sicherlich auch objektiv) schmerzhaften Einschränkungen ihres Lebensstil zwingen. Es wird ihnen auch dann immer noch besser gehen als unsereinem, aber im Vergleich zu heute wird das Leben nach "Peak Oil" auch für die Crème de la Crème kein Zuckerschlecken mehr sein.

Möglich bleibt natürlich, dass die negativen Folgen der Umweltverschmutzung (insbesondere die Klimaänderung) uns eher treffen als die Ressourcenverknappung.
Wenn man die Umweltverschmutzung als prinzipiell lösbares Problem betrachtet, könnte man insoweit vielleicht auf der Basis von Diamonds Analogien unsere Welt "retten". Aber das wäre allenfalls eine Aufschub"rettung", dem hinter dem hoffentlich un-umgekippten Golfstrom erhebt gleichwohl die Ressourcenhydra ihr unkaputtbares Haupt.


Einschub:
"Krise" ist in der Zusammensetzung mit "Umwelt" übrigens ein irreführender Begriff, weil er von seinen medizinischen Ursprüngen und seiner üblichen Verwendung her ein lediglich temporäres Problem suggeriert. Wenn wir die Ressourcenwelt aber erst einmal kahl gefressen haben, hat die Menschheit kein temporäres Problem. Allerdings auch kein "Dauerproblem": sie fällt ganz einfach auf eine frühere Stufe zurück. Und dann hängt wieder alles davon ab, wie sie mit den erneuerbaren Rohstoffen umgeht: Holzscheite, Holzschüsseln. Und wenn die Diskussion über die Ressourcenverteilung längst zu Ende ist, können wir die Verteilung als solche immer noch mit Holzkeulen regulieren.
Einschub Ende .....

..... und zurück zu Diamond und der Frage, wo die (hier: Geschichts-)
Wissenschaft endet und das Reich der Philosophie beginnt, d. h. wo man in unserer Zeit in sinnvoller Weise eine Grenze ziehen kann oder muss.
Soziologische oder wirtschaftliche Lösungsvorschläge, egal, ob sie auf eine Art "Empathie der Kapitalisten" [hahaha, oder englisch: hehehe] setzen (wie anscheinend Diamond), oder auf "Tiefenökologie", oder auf die Kräfte des Marktes, wie die "Resourcists" = "Cornucopians", sind keine Philosophie. Diese fängt dort an, wo das Wissen über und der Glaube an die gewöhnlichen 'Push-Pull-Kausalitäten' enden.

Exemplarisch greife ich hier auf Diamonds Aufsatz "The Worst Mistake in the History of the Human Race" zurück (der übrigens von mehreren Personen und Organisationen ins Netz gestellt wurde, und mit dem ich mich früher schon einmal auseinander gesetzt hatte – s. o.).
Diamond hält es für einen Fehler, dass die Menschen das Stadium der Jäger und Sammler verlassen haben und sesshaft geworden sind, indem sie die Landwirtschaft eingeführt haben. Vorher hätten sie eine durchschnittliche längere Lebensdauer gehabt und länger schlafen können (mehr Freizeit). Insbesondere seien auch die Seuchen erst im Gefolge der Populationsverdichtung und der Tierhaltung zur Geisel der Menschheit geworden, meint Professor Diamond.
Kritik an Diamonds Ansicht, dass es den Menschen nach dem Übergang von der Jäger-und-Sammler-Wirtschaft zur Agrargesellschaft schlechter ging als vorher, habe ich kaum gefunden (eine luzide Ausnahme bildet hier ein Blog-Kommentar-Kommentar von einer gewissen Susanna Viljanen vom 09.09.2005).

Unterstellen wir hier, dass es den Jägern und Sammlern tatsächlich besser ging als den Klein-Agrariern, dann wäre genau dass der Punkt, an welchem Wissenschaft (in diesem Falle: Archäologie bzw., soweit es um den Vergleich mit gegenwärtig noch (halbwegs) intakten Jäger und Sammler Gesellschaften geht, auch Ethnologie oder Anthropologie) endet und Philosophie beginnt. Welche Kraft (Kräfte) haben die Menschen bewogen (gezwungen?), diesen "unheilvollen" Weg zu beschreiten? Offenbar "geht es hier" (um das mal "ins Unreine" zu sagen) doch um etwas anderes als Wohl oder Wehe der Menschen. Es geht um Evolution. Diesen Trend mag man religiös (im Extremfall mit einer kreationistischen Antwort) begründen, oder einfach (als eine Art Natur- oder Meta-Naturgesetz) konstatieren. Jedenfalls hört hier die Wissenschaft auf, und könnte Spekulation – also Philosophie – anfangen. Möglicherweise knüpft der Transhumanismus, oder einige Richtungen davon, hier an. Doch weiß ich über diese Philosophie (manche sprechen dieser Denkrichtung allerdings den Charakter eine Philosophie ab) zu wenig, um darüber Näheres sagen zu können.

Jared Diamond ist meinetwegen ein Genie; ein Philosoph aber ist er nicht. Und wer ihn für einen Philosophen hält, wird kaum der philosophischen Spekulation in Deutschland neues Leben einhauchen können.


2) Als nächsten philosophischen Wurf bietet uns Dr. Jung den Tierfreund Richard David Precht an. Precht hat, zeitgeistkorrekt, ein Buch über das schreckliche Schicksal der Tiere geschrieben. "Noahs Erbe" heißt es und wird (in der Rowohlt Taschenbuchausgabe) derzeit bei Jokers Restseller für 2,95 € verramscht (hier der Link; wird wohl nicht lange Gültigkeit behalten). Immerhin ist es ja schon etwas, dass es das Buch bis zur Ehre der Taschenbücher gebracht hat. Doch konnte ich weitere Informationen im Netz nicht finden, außer, dass der Autor sich mittlerweile mit Themen wie "Lenin in Lüdenscheid" und "Kosmonauten" beschäftigt. Ihm schon wegen derartiger Titel (besonders dem mit der Alliteration) madig zu machen wäre meinerseits nicht nur unfair, sondern auch unklug. Denn auch meine Blogtitel mögen dem Leser gelegentlich etwas kauzig erscheinen.
Wesentlich ist eher, dass es sich bei letzteren Büchern um Romane handelt. Woraus man denn wohl folgern darf, dass, was immer Precht in "Noahs Erbe" über das Leiden von Putern und Pelztieren geschrieben haben mag, sich damit denn auch erschöpft hat und weiterer philosophischer Entwicklung nicht mehr bedürftig oder gar nicht mehr zugänglich ist. So hätte sich denn Precht (falls er sich selbst überhaupt je für einen Philosophen gehalten hat) mit der Nicht-Fortsetzung seiner Tier-Thematik (auf philosophischer Ebene; sein Roman "Kosmonauten" soll eine Szene mit der Befreiung von entrechteten und geknechteten Tieren aus dem Berliner Zoo enthalten) als Philosoph selbst gerichtet.

Bleibt mir lediglich noch zur Kennzeichnung meines persönlichen Standpunktes anzumerken, dass ich die Tierfreundelei als ein kulturelles Verfallssymptom (dies im Sinne Oswald Spenglers gedacht) halte. Tiere in der Verfassung? Pervers!
Was aber nicht heißt, dass ich gegen Erhaltung von "Natur" (als außer-menschlicher Natur verstanden) wäre, und dass ich nicht dezidiert für die Erhaltung von Artenvielfalt eintreten würde. Dies aber gewiss nicht, weil ich Tieren den Status selbständiger Rechtssubjekte zugestehen würde: das haben wir (als Straf-Objekte) im Mittelalter schon gehabt. Und so eine Position wird auch dadurch (auf der abstrakten Ebene) nicht besser, dass man die Tiere nunmehr als Schutz-Subjekte verstehen will. Tiere als "Schutzjuden" der Zivilisation? Nee: lieber (z. B.) das Baurecht und das Nachbarschaftsrecht ändern. "Gib dem Unkraut eine Chance" (und den Schmetterlingsraupen). Humanpopulation verdichten: Mehr Platz für "die Natur". Ginge alles. Will aber keiner. Auch nicht die Bodenversiegelung - mit Asphalt oder Rasen - stoppen (vgl. mein Blog-Eintrag http://beltwild.blogspot.com/2005/05/definitionen-definitions.html). Solche Konkreta gefallen selbst den edlen Tier-Verfassungs-Schutz-Freunde weniger. Für Sonntags-Paragraphen sind auch die deutlich leichter zu begeistern als für alltäglich wirksame Menschheitsausdehnungsbegrenzungsverordnungen. Helft der Natur mit einem "population rollback", nicht mit Tempeln für Heilige Kühe (welch letzteres leider derjenige Weg zu sein scheint, den unsere Zivilisation einzuschlagen droht). But however: ein Streit wie zum Beispiel um die Erlaubnis für Erdölförderung im Naturschutzgebiet von Alaska amüsiert mich lediglich. So etwas ist, wenn die Ölknappheit erst einmal richtig weh tut, keine Frage des "ob", sondern nur noch des "wann"; Parktiere hin oder her.

Aber lassen wir das; hier ging es ja nur um die Frage, ob David Richard Precht ein potentieller germanischer Philosophie-Phönix ist. Das aber scheint weniger der Fall zu sein; zumindest hätte es dann außer Dr. Joachim Jung niemand sonst in der Welt gemerkt.


3) Andrei Linde wird von Joachim Jung schließlich noch als viel versprechender Philosoph eingeführt. Über den wusste ich bislang gar nichts, nicht einmal, dass er existiert (was nicht gegen ihn sprechen muss, sondern durchaus auch gegen mich sprechen könnte).
Mit ein paar Mäuseklicks konnte ich indes ein Zipfelchen von Erkenntnis erbeuten:
"His theory of a chaotic self-reproducing inflationary universe suggests that our universe is one of many inflationary universes that sprout from an eternal cosmic tree" heißt es unter der Überschrift "Universe or Multiverse". Und weiter: "In three papers published last year with his wife, Renata Kallosh, Dr. Linde proposed that the dark energy, the haunting theoretical phenomenon reminiscent of Einstein's "cosmological constant," which is presently stretching spacetime at an ever increasing rate, may eventually become negative. As a result, the universe may begin collapsing in 10 to 100 billion years and end in a "big crunch". Our universe, in their model, is middle-aged, not, as once thought, at the beginning of its life cycle. But according to Dr. Linde's inflationary theory, while our "bubble" may die, the multiverse of bubbles will go on forever. "

Ist alles ganz interessant, aber ob wir in ein Paralleluniversum abdriften können, wenn "Peak Oil" uns pickt, oder die anthropogene Klimaänderung zwickt? Glaube ich eher weniger. Und dass unser Universum in frühestens 10 Billionen Jahren kollabiert, ist gleichfalls relativ uninteressant, weil unsere liebe Sonne schon deutlich eher explodieren wird.

Es wäre arrogant, und vor allem dumm, wollte ich lächerlich machen, was ich, von der mathematischen und physikalischen Begründung her, gar nicht verstehe. Tatsächlich scheint es Leute zu geben, welche aus dem "Multiverse" eine Philosophie machen. Aber seit ich die "Zeitwende" des theoretischen Physikers Fritjof Capra (bisher nur: halb) gelesen habe, stehe ich Physiker-Philosophien doch ein wenig zurückhaltend gegenüber. Mit Obskurantismus kann ich mich auch anderswo versorgen.
Man könnte natürlich Kant als Gegenbeispiel anführen, aber zum einen ist das ist schon lange her, zum anderen hat dieser auch nicht geglaubt, dass man physikalische Gesetze und Erkenntnisse in naiver Parallelisierung in die Dimension der Philosophie transponieren kann.
Was sich außerdem beim derzeitigen Stand der physikalischen Wissenschaft dadurch komplizieren würde, dass man sich zunächst entscheiden müsste, welche Physik man überhaupt analogisieren will: die schlichte Alltagsphysik oder die Quantenphysik? Und wie die unumgängliche Auswahl begründen?


Summa summarum: Null Treffer, was philosophische Perspektive angeht. Weder der amerikanische Gesellschafts- oder der (ehemals russische) Naturwissenschaftler noch der deutsche Tierfreund holen Deutschlands Weisheitsliebe aus dem intellektuellen Keller. Che peccato.

Die große Frage der Philosophie kann, denke ich, nur sein, wohin wir gehen. Wie ich am Schluss meiner Webseite "Rentenreich" (http://www.beltwild.de/rentenreich.htm) schrieb: "Noi - dove andiamo?"

Auf diese Frage hat aber vielleicht ein gewisser (im Blogosphärenreich offenbar sehr bekannter) Dave Pollard eine Antwort gegeben (http://blogs.salon.com/0002007/2005/05/16.html):

"We are wrong in the uniquely human conceit that we are in charge of our own destiny and that there is some kind of collective politic and collective intelligence and 'free will' that can be harnessed to move us all in a chosen direction. We are nothing more or less than six billion creatures individually doing what we are driven to do moment by moment. We have been driven to overpopulate and despoil the planet and exhaust its resources by our DNA, and in so doing we are merely following Darwin's law."
und
"Just like the other six billion on the planet and the fifty billion who preceded them, I'm just playing out the role that was written for me in my DNA. I only wish I hadn't been distracted for so many years from realizing what my role is. We don't really do what we can. We do what we must."
(Ich empfehle, sich nicht mit meinem Auszug zu begnügen, sondern seinen ganzen dialogischen Monolog mit dem hübschen Titel "Making Peace with the End of Civilization" zu lesen. Und auch sonst scheint sein Blog höchst lesenswert zu sein.)

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzu zu fügen, außer dem Hinweis, dass Erkenntnis eben nichts Gemütliches ist, und auch nicht dazu gedacht, unser Gemüt zu trösten. Für Trostsucher gibt es andere Spezialisten.

(Hier noch, scheinbar etwas zusammenhanglos, ein anderer Blog, der, zumindest von der Thematik, interessant sein könnte: http://anthropik.com/)


Textstand: 29.07.2019

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