Mittwoch, 28. Juni 2006

"Back to the World" ....


..... sagen die US-Soldaten, wenn sie nach längerer Zeit im Ausland wieder dorthin zurück kehren, wo zwar auch nicht Milch und Honig gratis fließen, aber doch wenigstens unbegrenzte Kaffeemengen aus der "bottomless cup" (vgl. Eintrag "Amerika, du hattest es besser!" vom 10.07.20005).

Wir nun sind gleichfalls heimgekehrt: von einem Urlaub tief in Bayern 'back to the Bildschirm', welcher die Welt zwar nicht bedeutet, aber doch bedeutend näher bringt (oder nur zu bringen scheint?).
Zurück gewissermaßen aus "Grüssgottanien" nach "Gutentagien".
Mir als agnostizistischem Preußen kommt das "Grüß Gott" zwar deutlich schwerer über die Lippen als meiner multikulturellen Gattin, aber, wie das Sprichwort sagt: "When in Rome, do as the Romans do". Oder: "Paese che vai, usanze che trovi". Auf Deutsch: "Andere Länder, andere Begrüßungsformeln".
Also: man will nicht auffallen (und außerdem kann ich mir als reservatio mentalis ja immer noch ein "wenn du ihn siehst" hinzudenken). So stimmte auch ich mit meinem unbayerischen Akzent ein in jenes fröhliche "Grüß Gott", mit welchem sich z. B. auch die Wandersleute unterwegs begrüßen.

Nicht gesehen haben wir Bruno, alias JJ1, den Braunbären, der u. a. auch die Gegend um Garmisch-Partenkirchen unsicher gemacht hatte. Ehrlich gesagt, waren wir auch nicht sonderlich scharf auf eine Begegnung.
Trotzdem: In der Nacht vom Sonntag, 25.06.06 auf Montag, 26.06.06 habe ich fast gar nicht geschlafen. Wegen der bevorstehenden Abreise? Oder wegen telepathischer Einfühlung in Bruno den Bären, der im Morgengrauen starb? "Eine Kugel zerfetzte seine Lunge" unter-titelt die Bild-Zeitung ihren Aufmacher ("Der tote Bär") vom Dienstag, 27.06.06. Eine Zeichnung mit flammendem Mündungsfeuer erweckt den Eindruck eines Computerspiels.

Ja, auch mir tut Meister Petz leid, besonders wenn ich das herzige Foto auf S. 10 der Ausgabe sehe. Alles zum Ableben des Bären kann man im Münchner Merkur nachlesen (http://www.merkur-online.de/regionen/bayern/baer/index.html) – jedenfalls dann, wenn man sich (kostenlos) registrieren lässt. "Bild"-reif ist die Überschrift "Die Rotwand war sein Schicksal".

Billig ist die Kritik an den "Bürokraten"; erschreckend, dass "Tierfreunde" nunmehr Morddrohungen gegen die Jäger ausstoßen. Erschreckend, aber eigentlich nicht verwunderlich. Einige üble Nazi-Menschenquäler hätten einem Tier nie etwas zu Leide tun können – Juden aber haben sie auf grausamste Arten zu Tode gequält. Ist also gar kein Wunder, dass manche dieser lieben Menschen auch heute wieder Mordlust verspüren. Was aber nicht zu dem logisch unzulässigen Umkehrschluss verführen soll, dass Tierfreunde etwa mehrheitlich solche Typen wären. [Übrigens war auch Richard Wagner, als Mensch nicht unbedingt ein Muster an Redlichkeit und Rücksichtnahme - sowie ein übler Antisemit – ein großer Tierfreund: vgl. z. B. die Biographie von Robert Gutman "Richard Wagner. Der Mensch, sein Werk, seine Zeit."]

Wie auch immer: durch einen Braunbärenverseuchten Wald – egal, ob Problembären oder nicht – möchte ich nicht wandern.
Der Staat ist nicht nur ganz allgemein wegen der "Gefahrenabwehr" in der Pflicht, mich zu schützen, sondern nicht zuletzt auch deswegen, weil er das Gewaltmonopol beansprucht. Ich hätte ja nichts dagegen, in bärenverseuchten Gegenden herum zu laufen, wenn der Staat seinerseits nichts dagegen hätte, dass ich dann 'ne Knarre dabei habe.
Wer aber die Bürger entwaffnet, muss sie entsprechend schützen: nicht nur vor anderen Menschen, sondern ebenso vor potentiell gefährlichen wilden Tieren.
Nicht gänzlich unwichtig ist übrigens auch der finanzielle Aspekt. Die Fressgewohnheiten des kleinen Bärleins lasten teuer auf meiner Steuer, wenn der Staat Entschädigungen zahlen muss. Und das muss (und hat der auch) wohl tun, wenn er den Bürgern verbietet, 'die Sache selbst in die Hand zu nehmen'.

In ihren ganzseitigen Berichten zum Bärentod auf S. 10 der Ausgabe vom 27.06.06 zeigt die Bild-Zeitung oben ein großes "süßes" Foto vom Braunbär – und unten ein ganz kleines von einem der vielen Schafe, die dieses schnuckelige Kuschelbärchen "gerissen" hat, wie der Fachausdruck lautet, oder, wie man anschaulicher sagen müsste, denen der Bär den Körper blutig aufgerissen und die er regelrecht ausgeweidet hat.
Wie würden wohl die Leser reagieren, wenn beide Bilder nach Position und Größe vertauscht wären? Wäre ein echt interessantes mediensoziologisches Experiment: Wenn z. B. -2- Zeitungen oder Fernsehsender über ein emotional besetztes Ereignis "gegenläufige" Bilder dieser Art zeigen und anschließend eine Forumsdiskussion eröffnen würden: wie viel Prozent Ablehnung bzw. Zustimmung ergäben sich dann beim Vorherrschen von (z. B.) "bärenfreundlichen" bzw. "bärenfeindlichen" Illustrationen?

Die Lektüre zahlreicher Leserbriefe und Kommentare stellt einige Passagen aus einer Rede des US-amerikanischen Schriftstellers Michael Crichton (Autor von "Jurassic Park", "Welt in Angst" und zahlreichen weiteren Bestsellern) wieder vor mein geistiges Auge. Zwar habe ich die Argumentation seines Vortrages "Environmentalism as Religion", bekannter als "Remarks to the Commonwealth Club" vom 15.09.2003 in meinem Eintrag vom 26.04.05 (The (b)rat in the box at the ultimate lever?) mit aller mir verfügbaren Schärfe angegriffen. Auch seine Bemerkungen über die sentimentale Naturferne der verstädterten Menschen habe ich kritisiert, allerdings nur insofern, als sie in seiner (rein rhetorisch übrigens brillanten) Rede für eine logisch fehlerhafte Beweisführung herhalten müssen.
Inhaltlich hat er aber völlig Recht mit Sätzen wie:
"... the romantic view of the natural world as a blissful Eden is only held by people who have no actual experience of nature. People who live in nature are not romantic about it at all." Den Satz "And if you, even now, put yourself in nature even for a matter of days, you will quickly be disabused of all your romantic fantasies" möchte man allen jenen zurufen, die gemütlich am heimischen Herd darüber phantasieren, wie ungefährlich das liebe Brunolein doch war.
"The truth is, almost nobody wants to experience real nature. What people want is to spend a week or two in a cabin in the woods, with screens on the windows." In der Tat glaube ich nicht, dass allzu viele der sentimentalen Bärenfreunde allein oder gar mit ihren Kindern einem Bären in freier Wildbahn begegnen möchten!


Indes: es gibt noch andere wichtige Ereignisse auf der Welt außer dem Geschehen um den Braunbär Bruno.
Was, außer der lokalen Tageszeitung, liest man sonst also noch, wenn man im Urlaub endlich mal wieder Zeit hat, ganze Bücher zu lesen?


In Bayern natürlich "Tief in Bayern", eine stammeskundliche Studie eines (angeblich) texanischen Ethnologen R.W.B. McCormack. In der Amazon-Kundenrezension sagt eine Leserin treffend: "Allerdings setzt es doch gewisse Grundkenntnisse des bayerischen Lebens und der (jüngeren) bayerischen Geschichte voraus, weil man ohne sie einige der Spitzen und Anspielungen überhaupt nicht versteht- so konnte ein Bekannter, dem ich das Buch ausgeliehen hatte, als absoluter Nichtbayernkenner damit nicht sooo viel anfangen."
Die außerordentlich intimen Landes-Kenntnisse sind freilich nicht mehr ganz so verwunderlich, wenn man weiß, dass das Buch von dem Münchener ehemaligen Amerikanistik-Professor Gert Raeithel geschrieben wurde (hier die Amazon-Gesamtliste seiner Werke). Auch ich habe nicht alle Anspielungen verstanden, aber lustig war's doch.
Nur dass auch hier (zum "auch" vgl. mein Eintrag " PISTOLE ODER DEGEN? ICH FORDERE SATISFAKTION" vom 13.11.05) ein Münchner sich wieder erdreistet, meine Heimatstadt Bielefeld zu schmähen, das ist stark! Auf S. 193 (der Goldmann-Taschenbuchausgabe vom Juli 1993) heißt es nämlich: "Eine Frittenbude in Bielefeld mag ihr Ambiente haben, aber der Bayer hält seine eigene Gastronomie für überlegen." (Hervorhebung von mir) Dieses Scheinlob kann doch nur als hinterhältige Kritik an den Bielefelder Frittenbuden gemeint gewesen sein? Ist ja auch selbst Schuld, der Mann, wenn er in Bielefeld Fritten frisst – statt der guten westfälischen Bratwurst, nach welcher es mich im hessischen Exil so sehr verlangt! (Nach den sonstigen Bielefelder Gastronomiekünsten sehne ich mich freilich eher weniger – Grünkohl mit Schweinebauch bei Karstadt einmal ausgenommen.)

Nevertheless: wo er recht hat, hat er recht, der ehemalige Amerikanistik-Professor Gerd Raeithel. So z. B. auf S. 161, wo er über die Sportarten der Bayern (in diesem Falle allerdings – leider – mit Gültigkeit für ganz Deutschland) schreibt:
"Einige ziehen das passive Sonnenbaden vor und lassen sich an den Stränden ... braun rösten, wobei bei Frauen über 50 nach Badeschluss oft nur eine pergamentene Hülle auf dem Bootssteg liegen bleibt." (S. 161; Hervorhebung von mir)
Cangrande wäre natürlich nicht der große Hund, der er nun einmal ist, hätte er nicht auch an dieser Stelle etwas an dem texanischen Anthropologen R.W.B. McCormack zu kritteln.
In Wirklichkeit handelt es sich bei dieser Strahlenexposition nämlich gar nicht um Sport, sondern vielmehr um eine umweltfreundliche Form der Ledergerbung!


Kehren wir jedoch zurück zu den kulinarischen Erfreulichkeiten in Bayern, einem guten Schweinebraten mit Knödeln z. B., so passt als kontrapunktische Lektüre dazu besonders ein agrar- und sozialgeschichtliches kleines Büchlein von Wilhelm Abel: "Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland" (2. Aufl. Göttingen 1977).
Was ich darin allerdings (um jetzt mal wieder ernsthaft zu werden) vermisse, ist ein Hinweis auf die "Industrialisierung" und die Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft. Denn ohne diese hätte sich auch die gestiegene Produktivität der Industriearbeit nicht in erhöhter Kaufkraft niederschlagen können. Bei gleich bleibender bzw. wachsender Bevölkerungszahl hätten (wenn man von Importmöglichkeiten einmal absieht) wären die Nahrungsmittel zunehmend knapper geworden und hätten deshalb (in einem mehr oder weniger freien Markt) ständig teurer werden müssen, wäre es nicht gelungen, auch in diesem Wirtschaftssektor die Produktivität gewaltig zu steigern.


Abschließend noch einmal zurück zum Bruno Bär.
"Schnappauf" (Werner) heißt der zuständige bayerische Umweltminister.
Wo hatte ich diesen immerhin recht auffallenden Namen gerade gelesen? Richtig, in der o. a. Wagner-Biographie des Amerikaners [dieser hier ist tatsächlich ein Amerikaner!] Robert Gutman, S. 375 der 5. Auflage der Heyne-Taschenbuchausgabe ist von "Cosimas Faktotum, ein Friseur" die Rede. Und dessen Spuren lassen sich sogar noch heute im Internet verfolgen.


Nachtrag 01.08.2007
Irgendwo muss ich ihn doch unterbringen, meinen heutigen Linkfund zu GAP:
Kurzgeschichten u. d. T. "Abenteuer eines Amtsarztes. Unglaublich wahre Kurzgeschichten" hat Dr. med. Volker Juds vom Gesundheitsamt Garmisch-Partenkirchen online gestellt.


Textstand vom 10.06.2023

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen