Donnerstag, 29. Juni 2006

Marktwirtschaft, Milchwirtschaft, Fremdenverkehr


Ob mein anthropologischer Crash-Course bei dem Texaner R.W.B. McCormack (vgl. dazu den Eintrag "Back to the World" vom 28.06.06) mich nunmehr zu eigener ethnographischer Analyse befähigt hat, werden die nachfolgenden Zeilen erweisen müssen.


Jedermann (und natürlich auch jede Frau) kennt die Feststellung
"Auf der Alm da, auf der Alm da, auf der Alm da gibt's kei' Sünd" (auch: "koa Sünd" oder "ka Sünd" geschrieben).
Dieser Satz ist aber keineswegs deskriptiv gemeint, in dem Sinne, dass es dort droben kein Verhaltensweisen gäbe, welche von der Gesellschaft als sündhaft geächtet werden.
Ganz im Gegenteil setzt diese Redensart das Wissen um eine almentypische Promiskuität bereits voraus, die lediglich normativ vom Sündenurteil freigestellt wird, weil sie räumlich in einem Bereich stattfindet, wo die gesellschaftlichen Sittenurteile suspendiert sind.

Freilich setzt die Gültigkeit der hier zu analysierenden Proposition das Vorhandensein von Rindviechern auf den Almen voraus. Insoweit gilt der Satz: "Ohne Rindvieh keine Sünde auf der Alm".
Dabei ist freilich das Vieh weder Sündensubjekt noch (zumindest hoffe ich das) Sündenobjekt. Rindviecher sind lediglich insoweit eine conditio sine qua non für sündenfreies Almentreiben, als das Vorhandensein der Sennerin (und ggf. des Senners, der freilich - wie in dem oben verlinkten Volkslied - auch durch andere Besucher substituiert werden kann) notwendig mit dem Almauftrieb von Rindvieh gekuppelt ist.

Und da liegt der Hase im Pfeffer oder vielmehr liegen die Rindviecher heutzutage auf Gummibetten faul im Stall herum und "lohnen" dem Menschen einen Almauftrieb mit einer Milchminderleistung.

"Sag mir, wo die Kühe sind" titelte der Münchner Merkur in der Ausgabe vom 12.06.2006 auf der Seite MM3 und erläutert im Untertitel: "Immer seltener auf der Weide - Bayerische Tourismusämter bangen." "In Oberbayern und im Allgäu werden heute maximal noch 20% der Tiere auf die Weide geführt" erfahren wir aus einem separaten Interview ("Man wird viel weniger Tiere auf der Weide sehen") mit Norbert Bleisteiner, Dozent für Agrarökonomie an der FH Weihenstephan. Und weiter: "... in Nordbayern sind es vielleicht noch 5%".
Denn: "Wer die Tiere grasen lässt riskiert, dass sie Verdauungsprobleme bekommen" berichtet der Reporter Martin Zöller im Hauptartikel. [In der Tat waren mir schon immer zahlreiche Verdauungsprodukte von Rindviechern wie Produkte von Verdauungsproblemen vorgekommen.]
Den optimalen Ertrag liefert nur eine mit TMR - Total Mixed Ration - gefütterte Milchspenderin: Gras zusammengemischt mit Klee, Mais, Heu, Getreide und Sojaschrot, dazu Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine [aha: deswegen also haben - u. a. - Betriebe aus der Viehwirtschaft (vergeblich) versucht, ein Kartell der Vitaminwirtschaft in den USA in einem class-action Rechtsstreit an die Hammelbeine zu kriegen: hier das nach Rückverweisung vom US Supreme Court ergangene Schlussurteil des Berufungsgerichts. (Ich wollte eigentlich aus dem recht umfangreichen Material, das im Internet zu diesem Prozess verfügbar ist, einen Blogeintrag zum Thema "Legal Imperialism" machen, doch hätte eine sachadäquate Darstellung und Analyse mehr Zeit erfordert, als ich dafür aufbringen kann.)]

Back to the cows, though:
Bei denen hilft auch jenes Glücksgefühl der Milchlieferleistung auf, das ein moderner Laufstall den Tieren vermittelt: Regen, Sonne und Luft spüren sie dort, haben Auslauf und können ihren Herdentrieb ausleben.
Geräte zur Massage und Selbstreinigung können sie mit einem Kopfstoß selbst einschalten (ausgeschaltet wird es von einer Zeitschaltuhr): diese Reibemaschinen ersetzen die Bäume. Besser als alles, was die Natur bieten kann (und was die Zenzi und ihr Toni je in ihrer Almhütte hatten) sind Gummibetten im Liegebereich. Welches Rind mag da noch den Stall verlassen?

Die Fremdenverkehrswirtschaft macht indes so viel Stallkomfort nervös. Denn die Touristen fragen bereits in den Fremdenverkehrsämtern: "Hier waren doch mal Kühe! Wo kann ich Kühe fotografieren?" [Kein Wunder also, wenn Kinder Kühe lila malen - kriegen ja nicht mal mehr auf dem Land welche zu sehen!]
Deshalb fordern die Verkehrsbüros: "Wir brauchen Kühe auf den Wiesen. Sie bringen uns Alm-Flair."
Und außerdem bringen die Kühe die Zenzi und den Toni hoch zum sorgenfreien Almensündigen. Ohne Kühe keine Sennerin auf der Alm, ohne Sennerin gibt es dort kein sündenfreies Sündenleben mehr.

Mit anderen Worten: durch die marktinduzierten Veränderungen in der Milchwirtschaft verändert sich der Bedeutungsgehalt des Satzes "Auf der Alm da gibt's koa Sünd" vom normativen zum deskriptiven Inhalt. Die Marktwirtschaft hat jegliches Nicht-Sündenpotential auf den grünen Bergmatten zunichte gemacht!

Recht hat somit auch der eingangs erwähnte texanische Anthropologe und Professor für Ethnolinguistic R.W.B. McCormack, wenn er in seiner Ethnographie "Tief in Bayern" feststellt, dass "ein [Peter] Rosegger ... in diesem Milieu nicht mehr gedeihen wird" (S. 102 der Goldmann-Taschenbuchausgabe von 1993).
Vergeblich werden wir nun darauf warten, dass uns ein genialer Heimatdichter die Geschichte seiner Jugendjahre erzählt unter einem Titel wie "Als ich noch der Sündalmenbankert war" . Aus und vorbei, die Almensünderei.

Und alle Fremden, die früher zum Kühe-Fotografieren nach Bayern gereist sind, jetten zukünftig in den Serengeti-Park zum Elefantenknipsen.

Da schaut's her, welch weit reichende Schäden an Tieren und Menschen die Agro-Technologie nach sich zieht: die Tiere bleiben im Stall, und die Menschen müssen deshalb weit in die Ferne ziehen!

Textstand vom 10,06.2023

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