Sonntag, 23. Dezember 2007

Über Kettenreaktionen in die Kindheit

Nicht nur meine: beim derzeitigen Katalogisieren meiner Buchbestände fiel mir wieder Fabrizia Ramondinos autobiographischer (s. dazu den Rezensionstitel: "Tra romanzo e autobiografia") Roman "Althénopis. Kosmos einer Kindheit" in die Hände. Althénopis steht für Neapel ; der größte Teil des Romans spielt allerdings außerhalb (mehr als die 1. Hälfte in Santa Maria del Mare bei Massa Lubrense (Sorrento). Jedenfalls hatte ich mir notiert: "Ein schönes, entspannendes Werk, obwohl die Lektüre durch die langen (aber beruhigenden) Sätze eine gewisse Konzentration erfordert." [Zur Autorin (sowie kurz auch zu diesem Buch) vgl. den schönen Artikel "Ein neapolitanisches Familienlexikon. Zu Besuch bei Fabrizia Ramondino" in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 15.08.2005.] Der erste Absatz ist indes eine Digression, denn eigentlich wollte ich über den Bielefelder Jahnplatztunnel berichten. Ein alter Jugendfreund hatte mir berichtet, dass der Jahnplatztunnel (der es auch schon zur Ehre eines Wikipedia-Eintrags -mit einem mehrfach vergrößerbaren Foto- gebracht hat) seit nunmehr 50 Jahren besteht. Nicht mehr sehr deutlich, aber immerhin noch, erinnert mich das an meine Initiation im Tunnel. Keine Initiation in Sachen Sex, nicht einmal in Drogen. Sondern meine erste Fahrt auf einer Rolltreppe. Vielleicht war es genau diejenige, welche in dem Aufsatz "19. Juli 1957: Der Jahnplatztunnel wird der Öffentlichkeit übergeben" von von Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, (klein) abgebildet ist? Da hatte ich doch etwas Angst, meinen wertvollen Körper auf dieses wackelige Ding zu bewegen. Und hangele mich nun am dornigen Rosenkranz meiner Assoziationsketten weiter: über Jahnplatz / Turnvater Jahn zum Geräteturnen, wo ich an Reck und Barren auch immer ziemliche Angst hatte. Vielleicht hätte ich sie überwunden, aber außer meiner Furcht gab es noch einen ganz banalen Grund, der mich an energischeren Reckschwüngen und Barrensprüngen hinderte. Und nun wird meine Story doch noch ein wenig sexy. Es geht nämlich um meine Unterhosen, welche sämtlich so geschnitten waren, dass da jederzeit was rauskommen konnte, was Mann, jedenfalls in der Öffentlichkeit, besser in der Hose drin behält. Und davor hatte ich eben auch Angst. So hat also der Schnitt meiner Unterhosen mein Leben in mancher Hinsicht vielleicht wesentlich beschnitten. Und die Moral von der Geschicht? Mütter, kauft euren Kindern anständige Unterhosen! (Freilich würden heutzutage die Kids sicher den Mund aufmachen.) Der zweite Absatz war indes eine Abschweifung, die meine Leser, ebenso wie der erste, wenig interessieren wird. Denn wenn ich Sie richtig einschätze, sind Sie auf der Suche nach ernsthaften Informationen, z. B. über große Politik und so. Und genau das war es ja auch, worüber ich eigentlich hatte berichten wollen und worüber ich Ihnen nun endlich im fünften Absatz passim doch noch brandheiße Informationen (wiederum aufgrund von Hinweisen eines örtlichen Gewährsmannes, in diesem Falle eines alten Klassenkameraden und Freundes vom Ratsgymnasium) liefern kann. Googeln Sie mal nach ""jürgen heinrich" freistaat ostwestfalen-lippe". Was bekommen Sie? Fünf Treffer, aber davon sagt Ihnen nur einer die sensationelle Wahrheit - und die ist auch noch passwortgeschützt! (Oder doch nicht? Scheint so, dass man über meinen Direktlink durchkommt; dafür musste ich mich aber anmelden, um zum Artikel vorzudringen.) Jedenfalls: In Ostwestfalen-Lippe sind Separatisten am Werk! Kein Witz: Jürgen Heinrich, Koordinator in der OWL-Marketing GmbH, will die ganze Gegend von Nordrhein-Westfalen abspalten und ein eigenes Bundesland draus machen! Also: abspalten wäre ja okay, aber Bundesland ist mir einfach zu wenig. Schließlich möchte ich ja Wächtersbacher Honorarkonsul werden, und das geht nur, wenn OWL sich gänzlich von Restdeutschland separiert. (Sie kennen Wächtersbach nicht? Dabei habe ich schon wiederholt darauf hingewiesen, dass der Ort an der Bahnstrecke Moskau - Warschau - Berlin - Paris - Madrid liegt, etwa in der Mitte zwischen Berlin und Paris! Ganz Südhessen und Nordbayern könnte man von hier aus konsularisch optimal betreuen; nebenbei würde ich natürlich auch die Touristenwerbung übernehmen, für die ich mich ja schon früher bewaffnet hatte hatte.) Aber ach: die Separatistenbewegung, gerade erst entstanden, ist schon gespalten. Literaten sind natürlich immer die Ersten, wenn es ums Spalten geht: da hat man so schön was zum Schreiben drüber. Mischael-Sarim Verollet, Slam-Poet [häh? Was'n das? Also jedenfalls Poet! Demnach wäre der Grand-Slam-Boris in Wirklichkeit ein Dichter? (Das ist ein Substantiv; darüber ob das Adjektiv zum Komparativ "dichter" auf den Becker überhaupt anwendbar ist, kann man wahrscheinlich unterschiedlicher Meinung sein.] aus Bielefeld, hatte bereits (bereits -kurz- vor Heinrich) den "Freistaat Ostwestfalen" ausgerufen (am 06.12.2007 war das übrigens: Das Datum sollten Sie sich vielleicht mal notieren, falls Sie große geschichtliche Daten sammeln!). Aber ach, der Verollet will doch tatsächlich die Gegend balkanisieren: die Lipper will er draußen lassen! Die Politik, vor allem die Lipper, sollte(n) diese Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen, auch wenn den namengebenden Symbolen des Sparrenblog per Definitionem eine gewisse Schrägheit inhärent ist. "Hauptstadt wäre – natürlich – Bielefeld, die Spaltung von Lippe Ehrensache und die Wiedereinführung des Schlagbaums am Ende der Kafkastraße in Altenhagen die erste Amtshandlung des neuen Maximo Liders, Pit Clausen I. Lippe würde grundsätzlich verboten und der Velmerstot eingeebnet werden, frei nach dem 1. Gebot: „Du sollst keinen Berg haben neben dem Sparrenberg!“ Am Nationalfeiertag müsste jeder Ostwestfale bei Norbert in der Zwiebel mit Bielefelder Luft anstoßen – wer nicht mehr reinkäme müsse den Feierlichkeiten via Großbildleinwand auf dem Jahnplatz beiwohnen und dazu die beste Currywurst an der B66 verzehren. Minden würde unser wichtigster Handelshafen im Norden, Paderborn endlich säkularisiert und der große Weserbogen zum offiziellen Bielefelder Naherholungsgebiet gekürt werden; die Linie 2 Richtung Milse führe bis dahin durch und hielte natürlich nicht in Brake. Es gäbe Vollbeschäftigung – schließlich sollte die Mauer an der Grenze zu Lippe im Gegensatz zur chinesischen tatsächlich aus dem All zu sehen sein, das erforderte mannigfache Hilfe" schreibt Verollet. Nein, da muss ich protestieren! Bei aller Liebe zu meiner Heimatstadt Bielefeld: Lippe liebe ich auch. Und Hauptstadt muss Detmold werden. Schließlich habe ich dort (im heutigen Ortsteil Berlebeck) nicht nur erlebnisreiche Urlaube verbracht, nein: Detmold hat sogar ein Landesmuseum. Das weiß ich ganz genau; da bin ich nämlich schon mal drin gewesen. Mumien hat es da, so eingewickelte Skelette aus dem alten Ägypten. Und dann gab es da ein junges Pärchen, die haben gar nicht hingeguckt: geknutscht hamse, mittenmang zwischen dene Mumien! Ähem ... lassen wir das. Und mit dem Mauerbau wäre ich schon deshalb vorsichtig, weil dann den Ostwestfalen (die ohnehin ihren letzten großen Helden schon vor vielen Jahren in Enger begraben mussten) im Jahre 2010 der Zutritt zur "Kulturhauptstadt Lippe" verwehrt wäre. Außerdem war Willy Linnemann, als Mann von Tante Klara (die mit den Margarinefigürchen) mein "Onkel Willy", ein Lipper. Das jedenfalls haben die Verwandten immer gesagt, wenn sie sich über ihn unterhalten haben: "Ein richtiger Lipper ist das", haben die gesagt. Gemeint haben sie allerdings, dass er ein Schotte wäre. War ja auch nicht leicht, das Leben für einen Schneidermeister in der Zeit der sich immer weiter verbreitenden Konfektionskleidung. Ich kann mich noch dunkel an eine Debatte daheim darüber erinnern, ob mein Vater seinen neuen Anzug nun "von der Stange" kaufen, oder den Schwestermann unterstützen müsste. (Ich glaube, er hat seinen Anzug - das mag in den 50er Jahren gewesen sein, dann doch bei Onkel Willy fertigen lassen. Ein Proletarier im Maßanzug: damals gab es sowas noch. Könnte ich mir heute gar nicht leisten.) Onkel Willy war aber wohl nicht immer ein lippischer Schotte gewesen, denn er hütete von Reisen, die er in der Vorkriegszeit gemacht hatte, einen großen Schatz an Landkarten und Reisebroschüren. Den hat er mir einmal gezeigt, und ob mich dadurch das Fernweh gepackt hat, oder ob das nur ein phylogenetisch perpetuiertes Syndrom aus der Völkerwanderungszeit ist, das später bei mir (genau wie bei zahllosen anderen reiselustigen Germanen) ontogenetisch durchschlug, das weiß ich so genau nicht mehr. Nach reiflicherer Überlegung: Vielleicht sollte es doch nicht Detmold sein, das mit der Hauptstadt des neuen Staates Ostwestfalen-Lippe bedacht wird, zumal zumindest die Bielefelder bei den Detmoldern ein defizitäres Politikverständnis festgestellt haben. Exemplifiziert wurde das in meiner Jugend immer an folgender Geschichte: 1848 rotteten sich die Bewohner der Hauptstadt von Lippe-Detmold zusammen und zogen vor das dortige Schloss. "Fürst, wir wollen Revolution!" verlangte der intransigente Pöbel. Der furchtlose Fürst kam raus aus seinem Bau. Mit mephistophelischem Grinsen sprach er: "So, so, liebe Landeskinder, Revolution wollt Ihr? Ja, also, Revolution - was ist denn das?". Darauf antwortete der Chor (Goethe hätte wahrscheinlich, wie einst in Malcesine, geglaubt, "das Chor der Vögel vor mir zu sehen, das ich als Treufreund auf dem Ettersburger Theater oft zum besten gehabt") der Landstadtbewohner: "Fürst, was Revolution ist, das wissen wir nicht. Aber die Bielefelder haben auch eine!". Lemgo wäre eine wirklich würdige Hauptstadt eines freien Staates Ostwestfalen-Lippe. Früher, so ungefähr zu jener Zeit, als die Bielefelder noch zitternd auf ihren oder um ihre Bleichen bibberten, haben die Lemgoer schon tapfer die feindliche Hexerei bekämpft. Und Engelbert Kämpfer durchforschte als frühneuzeitlicher Ethnologe Japan (hier mehr, da auch etwas), als die Bielefelder Leinenhöker noch mit 'ner Kiepe [das Bild ist durch Anklicken vergrößerbar] per pedes durch den glühendheißen Sennesand stapften. Weil der Kaempfer damals nach Japan gekommen ist, kommen die Japaner heute nach Lemgo - um sich das Junkerhaus anzuschauen. Irgendwie logisch, gelle, aber ob diese Schriftzeichen hier japanisch sind, dafür würde ich vorsichtshalber die Hand aus dem Feuer raushalten. (Wem die Bilder auf der "wolfrosch"-Seite nicht ausreichen, findet z. B. hier bei der "fotocommunity", da bei "flickr" und dort bei "Picasa" weitere.) Bereits im 18. Jahrhundert sind in Lemgo sogar "Lippische Intelligenzblätter" erschienen (in Detmold natürlich nicht). Und dort, Dichter spitzt die Ohren, erschien auch ein 47bändiges Lexikon "Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller": wer da in einer Neuauflage drin stehen will, lasse Lippe lieber bei uns (Ostwestfalen)! Und heute kommt noch oder wieder Intelligenz nach und aus Lemgo. Um aber auf die Hexenverfolgung zurück zu kommen: also die Karin B. aus Bösingfeld hatte das Glück, dass sie nicht zu Zeiten des Hexenbürgermeisters gelebt hat und somit nicht an diesen, sondern an mich geraten ist. Wenn ich so an jene alten Zeiten zurück denke würde ich sagen, dass Johann Jakob Wilhelm Heinse seinen Roman "Ardinghello und die glückseligen Inseln" (1787) nicht zufällig in Lemgo publiziert hat. Der Zusammenhang erschließt sich Ihnen nicht und auch nicht, was meine Kapitalen-Präferenz mit Karin zu tun haben könnte? Ähem ... lassen wir das; Karin entschwebte mir irgendwann in Wuppertal und ich habe mich, not to my regret, letztendlich transatlantisch orientiert. So, Junge: der Sauerstoff deines Gehirntanks ist nun leer; besser, du tauchst jetzt wieder auf aus der Vergangenheit! Il lavoro è finito, für heute ist die Erinnerungsarbeit abgeschlossen. Textstand vom 09.08.2021.

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