Das moderne Kempten profitiert jedoch von der Hinterlassenschaft der Fürstäbte. Eine große und vor allem innen eindrucksvolle Kirche (St. Lorenz, heute Pfarrkirche) sowie die renovierten Prunkräume in dem anschließenden riesigen Gebäudekomplex, der das Kloster sowie die Residenz Kemptener Fürstäbte beherbergte, sind heute Touristenattraktionen. Ein Hofgarten gehörte natürlich ebenfalls dazu. Im Norden wird er abgeschlossen durch das langgezogene zweistöckige Gebäude der ehemaligen Orangerie. Hier ist die Stadtbibliothek untergebracht, mit einem schönen stuckierten Lesesaal.
Von unserem Urlaubsort Oberstdorf waren wir zweimal nach Kempten gefahren und hatten dabei auch die Stadtbibliothek besucht. Außer den jeweiligen Bücherflohmärkten und meinem ganz allgemeinen Interesse an der Ausstattung der Stadtbüchereien lockt mich immer auch die Abteilung mit lokalgeschichtlicher Literatur.
Für längere Lektüre bleibt selten Zeit; ich blättere den einen oder anderen Band durch, und manchmal bleibt die eine oder andere Information hängen.
Von einem Aufenthalt des John Maynard Keynes steht zweifellos nichts in jenem Buch über die Geschichte der Stadt Kempten, in dem ich bei meinem Besuch geblättert habe. Indes berichtet es über einen Sachverhalt, den man als (nicht intendierten) Keynesianismus avant la lettre deuten könnte*. Insoweit ging es (bzw. geht es mir bei der Deutung der wirtschaftlichen Funktion) um die Höhe der Schulden des Fürststiftes. Die beliefen sich auf über 2 Millionen. (Die Einwohnerzahl des „Staates“ betrug ca. 40.000. Schulden in Höhe von 50 WE pro Kopf sind für heutige Verhältnisse kein hoher Betrag, waren es damals aber wohl schon). In welcher Währungseinheit die 2 Mio. angegeben waren, weiß ich nicht mehr; das ist aber auch gleichgültig.
Entscheidend ist das Verhältnis der Schulden zum jährlichen ‚Steueraufkommen’. Die Einnahmen lagen nämlich nur irgendwo über 200.000,- Einheiten in derselben Währung. Und diese Einnahmen wurden bereits durch die Kosten für Verwaltung, Repräsentation und gehobene adelige Lebenshaltung absorbiert, so dass für die Schuldentilgung eigentlich gar kein Geld mehr blieb - außer durch die Neuaufnahme von Krediten.
Das kommt einem bekannt und höchst aktuell vor, und was die rein historische Dimension angeht, haben wir auch schon anderweitig Berichte über die Misswirtschaft der Aristokratie gehört. (Allerdings hatten auch die freien Städte teilweise erhebliche Finanzschwierigkeiten.)
Üblicher Weise wird das Thema in den Kategorien Verschwendung, Protz und Prunk usw. abgehandelt; auf anderer Ebene (und mit ganz anderer Bewertung) als „höfische Kultur“.
Ich frage mich indes, ob man die Überschuldung des Staates im Lichte unserer heutigen Erkenntnisse über Wirtschaft nicht auch unter dem Aspekt der ökonomischen Funktion von Staatsverschuldung als Stabilisator der Konsumnachfrage betrachten sollte (wenngleich die bewussten Motive der Akteure natürlich ganz andere waren).
Wenn das Fürststift Schulden hatte, muss es sich das Geld von Gläubigern geliehen haben. Die Gläubiger müssen also entsprechende Ersparnisse gebildet haben.
Was wäre mit diesem Kapital geschehen, wenn das Stift (und andere Territorialherrschaften) schuldenfrei gewirtschaftet hätten? Investitionsmöglichkeiten in Unternehmen gab es damals natürlich auch schon, aber vor 1800 war die Industrialisierung (überhaupt, und im nachhinkenden Deutschland erst Recht) noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie nennenswertes Kapital hätte absorbieren können.
Hätten die (bürgerlichen?) „Sparer“ ihre Gelder in der Schatztruhe aufbewahrt, wäre das Geld dem Kapitalkreislauf entzogen worden; das hätte zu einer Wirtschaftskrise geführt.
Es könnte also sein, dass Kempten die Konjunktur gerettet hat bzw., allgemeiner gesagt, dass die Schuldenwirtschaft der Höfe damals die Wirtschaft angekurbelt bzw. in Gang gehalten hat.
Irgendwie klingt es pervers, dass unter den Bedingungen der Geldwirtschaft eine kleine Schicht ein kreditfinanziertes Luxusleben führen muss, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Aber ist es denn heute so viel anders?
Heute müssen sich Millionen von Menschen Häuser kaufen, die sie sich nicht leisten können. Oder (bzw., nachdem die Häuserkäufer keine Kredite mehr bekommen, weil sie sie nicht zurück zahlen können: Und anschließend) muss der Staat, der sich eigentlich auch keine weitere Verschuldung leisten kann, Milliardenzuschüsse für den Kauf von überteuerten Immobilien bieten (USA), oder für die Vernichtung volkswirtschaftlicher Werte (Abwrackprämie für funktionierende Altautos in Deutschland).
Keynes wusste, dass der Geldwirtschaft eine Tendenz zur Hortung innewohnt. Jedenfalls zu seiner Zeit sah er die Great Depression (die in den USA genau wie heute durch die Überschuldung der Verbraucher -mit- entstanden war) als Ergebnis eines Nachfragemangels an der dadurch bedingt war, dass das Geld teilweise gespart wurde, ohne in ausreichendem Maße (über Kredite) in den Wirtschaftskreislauf zurück zu fließen. Deshalb sollte sich seiner Meinung nach der Staat verschulden, um die fehlende private Nachfrage nach Konsumgütern und Investitionsgütern auszugleichen.
Und eben das haben die Schuldenmajore der alten Adelsherrschaften ganz instinktiv (und sicherlich auch mit viel Spaß an der Sache) gemacht - ganz ohne Keynes’ Lehren zu kennen.
* Ich habe keinen der Texte von Keynes gelesen. Mit „Keynesianismus“ beziehe ich mich auf die überzeugende Darstellung der Position von J. M. Keynes, die Norbert Reuter im Jahre 2004 in der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“ (S. 325 - 345) u. d. T. " „Antizyklische Fiskalpolitik“ und „deficit spending“ als Kern des Keynesianismus? Eine „schier unausrottbare Fehlinterpretation“ " gegeben hat und die hier online nachzulesen ist. Im vorliegenden Zusammenhang geht es speziell darum, dass eine Unterauslastung der ökonomischen Ressourcen eintreten kann (bzw. eintreten muss), wenn gespartes Kapital nicht (als Konsumnachfrage oder Investitionsgüternachfrage) wieder in den Wirtschaftskreislauf eingespeist wird.
Für Keynes war das ein Problem des Kapitalismus im Reifezustand (Reuter spricht, im Anschluss an Zinn, insoweit von einer „Stagnationstheorie der langen Frist“ - vgl. Anm. 13 a. a. O.): „Je größer (...) unser Einkommen, desto größer ist unglücklicherweise auch die Spanne zwischen unserm Einkommen und unserem Verbrauch.“ Und natürlich werden die Ersparnisse bei stagnierender oder gar sinkender Konsumnachfrage auch nicht als in Investitionen in die Realwirtschaft fließen, die damit an Geldmangel krankt (bildlich gesprochen kann man sagen, dass der Wirtschaftskreislauf an Blutarmut leidet, wobei allerdings das Blut keineswegs knapp ist, sondern lediglich in bestimmten Organen gehortet wird): „Nur wenn die Erträge, die aus einer Investition erwartet werden, mindestens gleich den Erträgen aus einer alternativen Finanzanlage sind, kommt es ..... zur Investition.“ Das Szenario, von dem Keynes den Kapitalismus (beginnend wohl schon zu seiner Zeit, hauptsächlich aber in der Zukunft) bedroht sah, war also dasjenige „einer notwendigerweise abnehmenden privatwirtschaftlichen Konsum- und einer daraus resultierenden zurückgehenden Investitionsdynamik“.
Genau so erleben wir es aktuell (wobei es in der Zwischenzeit nicht zu der von Keynes erwarteten „Euthanasie des Rentiers“ („euthanasia of the rentier“) gekommen ist. [Was hat eigentlich den Eintritt dieser von Keynes prognostizierten und an sich logischen Entwicklung -zumindest bisher - verhindert??]
[Reuter spricht vom „sanften Tod des Rentners“ und folgt damit der deutschen Erstübersetzung von Fritz Waeger aus dem Jahre 1936. Im 19. Jahrhundert hätte der Begriff „Rentner“ durchaus den von Keynes gemeinten Sachverhalt getroffen; für uns Heutige ist er allerdings eher missverständlich. In einer Neuübersetzung von Jürgen Kromphardt wird „rentier“ denn auch zeitgemäß mit „Rentier“ wiedergegeben (also jemand, der aus seinem Kapital im großen Stil eine Rendite zieht): vgl. dazu den Handelsblatt-Artikel „Der Keynes-Versteher“ von Olaf Storbeck vom 11.05.2009.]
Das Kernproblem stellt sich in einer Geldwirtschaft aber ganz einfach als ein unzureichender Rückfluss von Geld in den Wirtschaftskreislauf dar, und ein solcher ist durchaus auch bei einer statischen Wirtschaft vorstellbar.
Entscheidend für die Auswirkungen ist nämlich nicht, dass in einer bestimmten Gesellschaft ein Konsumbedarf vorhanden ist (d. h. dass es genügend Menschen gibt, die gerne mehr konsumieren möchten), sondern dass Nachfrage (nach Konsumgütern oder Investitionsgütern) vorhanden ist, die, oft im Kreditwege, aus den ersparten Mitteln finanziert wird.
Geht man für die heutige Zeit für die Wirtschaft von einem „Eine-Welt-Modell“ aus, kann man durchaus eine gewisse Parallele bilden: In der alten Zeit wollte vermutlich kaum ein Privatmann Geld an Arme verleihen, weil die Rückzahlung unsicher war. Heute besteht das gleiche Problem auf internationaler Ebene: privates Geld geht (aus verständlichen Gründen) nur ungern in die armen Entwicklungsländer.
[Diesen Sachverhalt streift - von manchem Kommentator unverstanden – z. B. auch Christoph Deutschmann, wenn er in seinem FAZ-Essay „Ohne Aufstiegswille kein Kapitalismus“ (aus der anregenden FAZ-Serie „Zukunft des Kapitalismus“) die Alternativen zu viel / zu wenig Kapital erörtert: Bezogen auf einen rein rechnerisch ermittelten Kapitalbedarf der ganzen Welt gibt es zu wenig Kapital; bezogen allein auf die Anlagemöglichkeiten in den reifen kapitalistischen Wirtschaften zu viel. In meiner Studie „Sinn substituiert die Konjunktion: rettet er die Renten durch ökonomische Akzeleration“ zum Thema Rentenfinanzierung habe ich schon früher auf die - bei Deutschmann offenbar implizierte - Notwendigkeit hingewiesen, einen Kapitalbedarf nicht bloß abstrakt zu ermitteln, sondern die Kapitalabsorptionsfähigkeit zu berücksichtigen: der Kapitalbedarf des Kongo ist zweifellos immens; ebenso sicher ist aber die Fähigkeit, Kapitalzuflüsse sinnvoll zu investieren, also die Kapitalabsorptionsfähigkeit, in dieser Gegend noch sehr unzureichend entwickelt.]
Eine bloße Gegenüberstellung - hie Geld, da Mangel - reicht also nicht aus, um das (Nicht-)Fließen von erspartem Kapital zu begreifen; entscheidend ist, ob den Geldbesitzern geeignete (d. h. geeignet erscheinende bzw. akzeptierte) Kanäle zur Verfügung stehen, über die ihr Geld in die Realwirtschaft zurückfließen kann. Soweit Menschen ihre Ersparnisse nicht selbst verkonsumieren oder investieren, kann der Rückfluss nur über den Kreditweg erfolgten. (Vom Verschenken sehe ich dabei ab. Diese Form der Mittelverwendung kann zwar - z. B. in den USA in Form von Stiftungen für Wohltätigkeit, Wissenschaft, Kunst usw. - durchaus beachtliche Ausmaße annehmen; insgesamt wird sie aber doch nur einen kleinen Teil des gesparten Kapitals ausmachen).
Den armen Stiftsbauern im alten Staate Kempten hätten die Kaufleute (und/oder wer sonst Kapital akkumuliert hatte) sicherlich nicht im gleichen Maße Geld geliehen wie der Regierung. (Ob das Geld später tatsächlich zurück gezahlt wurde, oder ob die Stiftsregierung - bzw. ihr bayerischer Nachfolgestaat - damit ‚stiften gegangen sind’: das weiß ich leider nicht.)
Nachtrag 04.12.09
Keynesianer ist wohl der Regensburger Wirtschaftswissenschaftler Prof. (em.) Dr. Winfried Vogt. Ich habe von ihm den Text "3.3 Makroökonomische Risiken und Krisen
1. Der Kapitalmarkt: Investition und Ersparnis" gelesen, der vielleicht eine Vorarbeit zu dem in seinem Online-"Buch" unter Ziff. 3.4 veröffentlichten Kapitel ist. Das Buch würde ich gern lesen, doch fehlt mir die Zeit. Wenn Sie welche übrig haben, lesen Sie es vertretungsweise an meiner Stelle ;-). Ich denke, dass es auch und gerade Laien einen vorzüglichen Einblick in die Nationalökonomie vermitteln kann. In dem von mir gelesenen 'Auszug' gab es zwar auch einige mathematische Passagen, doch die konnte man überspringen, ohne das es das Verständnis der Zusammenhänge beeinträchtigt hätte, da Prof. Vogt immer die realen Sachverhalte hinter den Formeln und Berechnungen benennt.
Auszug aus seiner Beschreibung des Buches:
"Soziale Marktwirtschaft. Effizienz und Verteilung aus der Perspektive einfacher ökonomischer Modelle":
"Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme ist die Marktwirtschaft praktisch konkurrenzlos auf dem besten Weg, sich weltweit durchzusetzen ... . Jedoch beruht diese Effizienz auf Grundlagen, die von den Märkten selbst nicht geschaffen werden. Effiziente Märkte setzen gesellschaftliche Institutionen voraus, insbesondere klare Eigentums- und Vertragsrechte, sowie ein öffentlich garantiertes und kontrolliertes Geld- und Kreditwesen. Sie benötigen soziale Sicherungssysteme, um einzel- und gesamtwirtschaftliche Risiken der Märkte abzufangen, und um die Ungleichheit zu verringern, die durch Märkte erzeugt wird und auch Armut und Ausgrenzung nicht ausschließt. Schließlich müssen öffentliche Güter bereitgestellt werden, z.B. zum Schutz der natürlichen und sozialen Umwelt, die auf Märkten nicht rentabel wären. ... sind Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Rückwirkungen zwischen öffentlichem und privatem Bereich zu berücksichtigen, bei denen immer wieder ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Verteilung besteht, das nicht leicht zu durchschauen ist. So wird bei Forderungen nach mehr Gleichheit oder weniger Risiko oft übersehen, dass damit Effizienzverluste verbunden sein können, durch die vielleicht sogar diejenigen verlieren, die man begünstigen möchte.
Das folgende Manuskript, das ursprünglich aus langjährigen Vorlesungen zum Verhältnis von freier und sozialer Marktwirtschaft entstanden ist, bietet einen Überblick über diese Thematik, der sich vor allem an den Problemen von Effizienz und Verteilung, Wohlstand und Ungleichheit, Einzel- und Allgemeininteresse orientiert. ... Der Text ist bewusst nicht populärwissenschaftlich, weil dabei - wie so oft in Debatten über Wirtschaft und Politik - eben jene tieferen ökonomischen Zusammenhänge und Probleme auf der Strecke bleiben würden, auf die es ankommt. Die verwendeten Modelle sind jedoch so einfach wie möglich gehalten, auf dem Niveau elementarer Mikroökonomie. Abgesehen von Ergänzungen und Abweichungen in Präsentation und Fragestellung besteht der wesentliche Unterschied zur traditionellen Mikroökonomie darin, dass nicht die Methode, sondern die Thematik im Vordergrund steht, die Ökonomie der Marktwirtschaft mit den Schwerpunkten Effizienz und Verteilung.
Auf dieser Grundlage sollte es möglich sein, Stärken und Schwächen von Marktwirtschaften besser zu verstehen und zu beurteilen und sich auch zu aktuellen Problemen eine sachverständige Meinung zu bilden, wie z.B. zu Fragen von Sozialversicherungen, Mindestlöhnen, Kündigungsschutz, Arbeitslosigkeit, ökonomischen Risiken und Krisen, Staatsverschuldung und anderen Themen, die in dem Manuskript behandelt werden. Auch wenn man bei einer ausführlichen Analyse solcher Probleme auf komplexere Modelle und vor allem auch auf empirische Untersuchungen zurückgreifen muss, erleichtern doch gerade die verwendeten einfachen Modelle den erwünschten Überblick über und Einblick in die Thematik. Sie zeigen die Denkstruktur, mit der sich Argumente in politischen Auseinandersetzungen und Diskussionen über die Marktwirtschaft, insbesondere auch in den Medien, begründen, bezweifeln oder auch widerlegen lassen. Sie erleichtern damit einen rationalen Diskurs über die Vorzüge und Grenzen der Marktwirtschaft in einer Zeit, in der diese - positiv und negativ - die ganze Welt bestimmt.
Bei dem Manuskript handelt es sich um eine vorläufige Fassung (Stand Dezember 2009). ... "
Inhalt
1. Grundlagen der Marktwirtschaft (Stand Oktober 2009)
2. Markt und Effizienz (Stand Dezember 2009)
3. Markt und Risiko (Stand Juli 2009)
4. Markt und Verteilung (Stand Februar 2009)
5. Umverteilung (Stand November 2009)
6. Markt und Muße (Stand Oktober 2009)
Ich denke, dass dieses Buch eine sehr lohnende Lektüre sein dürfte.
Nachtrag 20.12.2009
Dass die Mechanismen der Geldwirtschaft nicht erst seit Beginn der kapitalistischen Ära wirken, sondern schon früher Krisen (und Hochkonjunkturen) bewirkt haben, dürfte einer Reihe von Texten betr. historische Vergleiche unserer aktuellen Krise mit geschichtlichen Finanzkrisen bzw. Wirtschaftskrisen zu entnehmen sein. Ich kann diese (z. T. umfangreichen) Arbeiten aus Zeitgründen nicht lesen, möchte aber hier für evtl. interessierte Leser sowie - pro memoriam - für mich selbst einige einschlägige Links aufbewahren:
Der amerikanische Wirtschaftsprofessor Michael Bordo hat einige vergleichende Analysen historischer Art verfasst und dankenswerter Weise auch auf seiner Homepage eingestellt. Vgl. auch seinen Aufsatz "The crisis of 2007: some lessons from history" auf der Debattenseite Voxeu.
Eine Kavalkade durch die Geschichte machen (vermutlich) Carmen M. Reinhart von der University of Maryland und dem NBER [das amerikanische "National Bureau of Economic Research"] und Kenneth S. Rogoff, Harvard University and NBER in ihrer online lesbaren Arbeit (124 S.) "This Time is Different: A Panoramic View of Eight Centuries of Financial Crises."
Hier die Zusammenfassung (Abstract):
"This paper offers a “panoramic” analysis of the history of financial crises dating from England’s fourteenth-century default to the current United States sub-prime financial crisis. Our study is based on a new dataset that spans all regions. It incorporates a number of important credit episodes seldom covered in the literature, including for example, defaults and restructurings in India and China. As the first paper employing this data, our aim is to illustrate some of the broad insights that can be gleaned from such a sweeping historical database. We find that serial default is a nearly universal phenomenon as countries struggle to transform themselves from emerging markets to advanced economies. Major default episodes are typically spaced some years (or decades) apart, creating an illusion that “this time is different” among policymakers and investors. A recent example of the “this time is different” syndrome is the false belief that domestic debt is a novel feature of the modern financial landscape. We also confirm that crises frequently emanate from the financial centers with transmission through interest rate shocks and commodity price collapses. Thus, the recent US sub-prime financial crisis is hardly unique. Our data also documents other crises that often accompany default: including inflation, exchange rate crashes, banking crises, and currency debasements."
Eine Erweiterung (vielleicht auch Popularisierung) der in diesem Arbeitspapier gewonnenen Einsichten dürfte das kürzlich erschienene Buch des Autorengespanns sein:
"This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly", auf Deutsch erschienen als "Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen".
Nachtrag 16.01.2010
Da schau her: Die Lektüre des Stichwortes "Underconsumption" in der englischsprachigen Wikipedia belehrt mich, dass man sich tatsächlich schon in der frühen Neuzeit der volkswirtschaftlich schädlichen Wirkung von Geldhortung bewusst war (meine Hervorhebung):
"In underconsumption theory, recessions and stagnation arise due to inadequate consumer demand relative to the amount produced. It is an old concept in economics, going back to the 1598 French mercantilist text Les Trésors et richesses pour mettre l'Estat en Splendeur (The Treasures and riches to put the State in Splendor) by Barthélemy de Laffemas, if not earlier."
(Auch die deutschsprachige Wikipedia enthält das entsprechende Stichwort "Unterkonsumtionstheorie". Der Artikel ist auch recht ausführlich und wägt Pro und Kontra ab, doch interessiert er sich nicht für den Stammbaum dieser Idee und erweckt die irrige Vorstellung, dass sie erstmalig von John Atkinson Hobson [kurz vor dem 1. Weltkrieg] vertreten worden sei:
"Die Unterkonsumtionstheorie ist eine volkswirtschaftliche These von John Atkinson Hobson, nach der das Entstehen von Wirtschaftskrisen (Unterkonsumtionskrise) aus einer unzureichenden Nachfrage nach Konsumgütern zu erklären ist und durch Stärkung der Massenkaufkraft durch Lohnerhöhungen bekämpft werden kann. Insbesondere ist es also gemäß dieser Theorie die zurückbleibende zahlungsfähige Nachfrage der Arbeiterklasse, die zu einer Krise führt."
Nachtrag 21.01.2010
Bei der fortschreitenden Beschäftigung mit meinem Artosphagen-Ökonomiemodell bzw. der Verfeinerung und Untermauerung meiner Theorie des monetären Vampirismus bin ich auf einen faszinierenden wirtschaftswissenschaftlichen Text aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts gestoßen.
Das Ludwig-von-Mises-Institute hat von James Mill, dem Vater von John Stuart Mill, eine Kritik der Unterkonsumtionstheorie online gestellt. Sie ist schon etwas älter, nämlich vom Jahr 1808 datierend: schon damals war sie also im Schwange.
Der (vom Herausgeber gegebene) Titel lautet: "On the Overproduction and Underconsumption Fallacies" und es handelt sich um "an excerpt from the author's pamphlet Commerce Defended, edited by George Reisman, Ph.D., Pepperdine University Professor Emeritus of Economics" (meine Hervorhebung).
Über den Hintergrund des Buches erfahren wir:
"Commerce Defended was published in 1808, in reply to various articles by William Cobbett which had appeared in a publication of the day called the Political Register, and to a pamphlet by William Spence, entitled Britain Independent of Commerce."
Der Herausgeber beurteilt die Arbeit außerordentlich positiv (meine Hervorhebungen):
"Whether or not Mill arrived at his version of "Say's" Law independently of Say is unimportant. What is important is that his is by far the more consistent, the more forceful, and the clearer version. Moreover, the excerpt now presented, which consists of Chapters VI and VII of Commerce Defended,entitled respectively, "Consumption" and "Of the National Debt," is not confined exclusively to the overproduction fallacy, but is also and even more concerned with the companion fallacy of underconsumption. In the opinion of the Editor, it represents one of the most important contributions of the Classical School , and to this day, remains among the most advanced expositions of the theory of saving and capital formation to be found anywhere."
Reisman stilisiert Mill sogar zu einem "revolutionary critic of contemporary economics".
Dass mich die damalige volkswirtschaftliche Theoriedebatte fasziniert bedeutet nicht, dass Mills Logik sowie seine Interpretation von Spences Vorstellungen mich durchgängig überzeugen würden. In vielen Belangen hat auch Spence (eine Art Frühkeynesianer) vorzügliche Argumente. Passend zum vorliegenden Blott hier ein von Mill (zwar in kritischer Absicht) wiedergegebenes Zitat aus dem Werk von Spence, welches mir die Relevanz des Unterkonsumtionsproblems schon für die damalige Zeit (also potentiell auch für das Stift Kempten!) zu belegen scheint (meine Hervorhebungen):
"For my own part," says Mr. Spence, "I am inclined to believe that the national debt, instead of being injurious, has been of the greatest service to our wealth and prosperity. It appears that man is in fact much more inclined to save than to spend. The land-proprietors accordingly have never fully performed their duty [nämlich ihre ökonomische Pflicht zur vollständigen Ausgabe ihrer Einkommen]; they have never expended the whole of their revenue. What the land-proprietors have neglected to do, has been accomplished by the national debt. It has every now and then converted twenty or thirty millions of what was destined for capital into consumable revenue, and it has thus given a most beneficial stimulus to agriculture."
Mill bestreitet die Richtigkeit von Spences Argument mit folgender Begründung:
"According to Mr. Spence the national debt has been advantageous because the government has thus spent what the land-proprietors would otherwise have saved. When his language is put into accurate terms it means this; the land-proprietors have every year endeavoured to increase to a certain amount that part of the annual produce which is destined for the business of reproduction, whereby they would have increased the annual produce, and the permanent riches of the country; but government has every year, or at least at every short interval of years, taken the property which the people would thus have employed in augmenting the riches of the country, and has devoted it to mere dead consumption, whence the increase of production has been prevented. It is in this manner, according to Mr. Spence, that the national debt has been advantageous."
Diese Kritik ist ganz und gar nicht "revolutionär"; sie beruht einfach darauf, dass Mill eine verengte Perspektive hat.
Spence (und auf jeden Fall dann später Keynes) gehen davon aus, dass die Grundbesitzer / Kapitalbesitzer einen Großteil ihres Geldes weder für Konsum noch für Investitionen ausgeben (was Mill sich nicht vorstellen kann, weil es in seiner Idealökonomie, die im Grunde geldlos gedacht ist, bzw. in der das Geld kein Eigenleben hat, nichts anderes als Konsum und Investition gibt). In einer solchen Situation ist es immer noch besser, wenn der Staat das Geld unter die Leute bringt.
Nachtrag 13.07.2011
Zum Schulden(un-)wesen der Kleinstaaten des alten "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" vgl. jetzt auch den FAZ-Artikel "Wege aus Finanzkrise. Am Schuldenwesen kann man genesen" von Wolfgang Burgdorf vom 12.07.2011.
Nachtrag 21.12.2019
Den Blogpost “Paradox of thrift was the norm before industrial revolution” von Richard Koo (13.07.2016) habe ich nicht gelesen; jedoch dürfte er für das vorliegende Thema einschlägig (und vermutlich interessant) sein.
Nachtrag 03.08.2023
Der Vortrag "Die Mediatisierung 1802/03" von Prof. Karl Borchardt, am 16.04.2002 gehalten im Verein Alt-Rothenburg und auf dessen Webseite eingestellt, informiert auch über die Schulden des alten Stadt-Staates:
"Für Rothenburg bezifferte man die Staatsschulden auf rund 690000 fl, das Vierfache der durchschnittlich 170000 fl Staatseinkünfte in den letzten Jahren der Reichsstadt." (fl = Gulden.)
Textstand vom 03.08.2023
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen