Denn wenn er wirklich alle zwölf Zeichnungen genau betrachtet hätte, würde er kaum behauptet haben, dass die Mohammed-Karikaturen an antisemitische Darstellungen im "Stürmer" erinnern.
Diese Behauptung (auf die ich unten noch näher eingehen werde) ist nicht der einzige Unsinn, den Günter Grass in einem Interview von sich gegeben hat, das in der spanischen Zeitung "El Pais" am 09.02.2006 erschienen ist und in deutscher Übersetzung in der Zeitung "Die Welt" am 10.02.06 (Link : http://www.welt.de/data/2006/02/10/843397.html) veröffentlicht wurde.
Nachfolgend einige Zitate (Hervorhebungen von mir) jeweils mit meinen Anmerkungen:
"Es handelt sich hier um eine bewusste und geplante Provokation einer rechten dänischen Zeitung. Diese hatte einen Karikaturwettbewerb ausgerufen, an dem einige sich teilzunehmen weigerten mit dem Hinweis auf das Tabu, Mohammed graphisch darzustellen. Die Zeitung konsultierte sogar einen dänischen Islamexperten, der Warnungen aussprach. Aber die Zeitungsleute haben trotzdem weitergemacht, weil es radikale, ausländerfeindliche Rechte sind."
Wir können nicht wissen, welche Gedanken Flemming Rose, dem verantwortlichen Redakteur der dänischen Tageszeitung "Jyllands-Posten", durch den Kopf gegangen sind, als er zunächst den Karikaturen-Wettbewerb ausgeschrieben und später die Veröffentlichung der zwölf Zeichnungen veranlasst hat. Die Bewertung, die Günter Grass hier abgibt, kann zutreffend sein oder auch nicht; sicherlich kann man sie nicht von vornherein als unsinnig oder falsch bezeichnen.
Andererseits sollte man allerdings die Entstehungsgeschichte zur Idee für die "Cartoonade" nicht vergessen: die Schwierigkeiten eines Verlages nämlich, einen Illustrator für ein Kinderbuch über den Propheten Mohammed zu finden, weil alle Künstler fürchteten (und vor dem Hintergrund etwa der Ermordung des holländischen Filmregisseurs Theo van Gogh (ausführlicher in der englischsprachigen Wikipedia) durch einen fanatischen Islamisten auch durchaus Gründe dafür hatten), für Propheten-Zeichnungen mit ihrem Leben bezahlen zu müssen.
"Wir leben in einer Zeit, in der einer Gewalttat die nächste folgt. Die erste ist die durch den Westen gewesen, die Invasion des Irak."
Der erste Satz gehört zu dem Arsenal der Topoi vom Typus "Je, je, wie sind die Zeiten so schlecht ...". [Verbunden mit dem logischen Umkehrschluss: früher war das ganz anders ...]
In Wirklichkeit ist unsere Zeit, verglichen etwa mit dem Mittelalter oder der Renaissance, von der Völkerwanderung ganz zu schweigen, im historischen Vergleich relativ friedlich. Parallel zur zunehmenden Eindämmung der Gewalt (wenigstens auf der "großen" Ebene – Kriege usw.) haben sich allerdings die Wahrnehmungen der noch vorkommenden Kriege und sonstigen Gewalttaten, sowie deren Bewertung, geändert: wir erfahren heute mehr darüber als die Menschen früherer Zeiten, und wir sind sensibler dagegen.
Aber dass nun speziell in unserer Zeit "einer Gewalttat die nächste folgt" [und in früheren Zeiten nicht], ist sicherlich unzutreffend.
Der zweite Satz ist schlicht erschütternd, und die Vergesslichkeit von Günter Grass allenfalls mit seinem hohen Alter (* 16.10.1927, als0 78 J.) zu entschuldigen.
Die Besetzung des Irak durch die Amerikaner und ihre britischen Alliierten, sowie durch die eher symbolischen Kontingente verschiedener anderer Länder, will ich keineswegs rechtfertigen. Aber da war doch vorher noch was gewesen? Dass Günter Grass den Anschlag auf das World Trade Center in New York vom 11.09.2001 so rasch aus dem Gedächtnis verdrängen konnte, ist schon erschreckend.
Natürlich kann man sagen, dass auch dieser Anschlag nicht der Anfang des (welches?) Ganzen war. Vorher gab es den Kuwait-Krieg, die Kriege zwischen Israel und den Palästinensern, die Briten und Franzosen als Kolonialherren ... . Genau genommen hat es seit Kain und Abel immer irgend welche Gewalttaten gegeben, mit denen Andere die ihren dann mehr oder weniger überzeugend rechtfertigen konnten. Jedenfalls war der Einmarsch der (hauptsächlich) Amerikaner in den Irak nicht "die erste" Gewalttat in den Auseinandersetzungen (wenn man hier mal eine derartige Perspektive einehmen will:) zwischen "den Moslems" und "dem Westen".
Es war übrigens, auch daran muss man Grass offenbar erinnern, nicht "Der Westen", der in den Irak einmarschiert ist. Deutsche Truppen waren nicht dabei.
[Im Iran könnte das, sollte es zum Äußersten kommen, anders werden; die dortige Situation wäre allerdings unter präventiven Aspekten völlig anders zu bewerten. Allerdings sieht der israelische Militärhistoriker und -analytiker Prof. Dr. Martin van Creveld die iranischen Atompläne weitaus entspannter: vgl. das Interview "Bei Kernwaffen lügen sie alle" in der "Jungen Freiheit" vom 20.01.2006; ich selbst stieß übrigens hier zufällig auf das Interview, das auch bemerkenswerte Meinungsäußerungen zur Realisierbarkeit einer deutschen Atombombe enthält.]
"Wir haben das Recht verloren, unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung Schutz zu suchen."
Auch ich habe kritisch darauf hingewiesen, dass wir die Meinungsfreiheit juristisch nicht absolut setzen (vgl. "MEINUNGSFREIHEIT IST KÄSE"). Aber ein solcher Satz, wie in Grass hier loslässt, haut mich einfach um.
Auch wenn man die Formulierung im Zusammenhang liest (Grass weist darauf hin, dass die Freiheit der Presse bei uns durch wirtschaftliche Interessen faktisch eingeschränkt ist, und dass es noch nicht so lange her ist, als es Delikte wie "Majestätsbeleidigung" gab), ist er nicht zu rechtfertigen.
Grass selbst wäre sicherlich nicht gewillt, sich das Recht auf freie Meinungsäußerung nehmen zu lassen. Und wenn dieses in der Praxis nicht immer ausgeübt wird, u. a. wegen wirtschaftlicher Rücksichtnahmen der Medien, heißt das ja noch lange nicht, dass wir nicht auf dem Recht an sich beharren dürfen (und müssen).
(Meine Kritik an der vorliegenden Formulierung schließt natürlich nicht aus, dass im konkreten Falle das Recht auf Meinungsäußerung von der "Jyllands-Posten" – gewollt oder nicht - überdehnt wurde.)
[Auch Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ, ist deutlich irritiert: "Günter Grass, in einem erstaunlichen Interview in 'El Pais', ... dekretierte das Ende der Pressefreiheit" staunt er.]
"Woher nimmt der Westen die Arroganz, bestimmen zu wollen, was man tun darf und was nicht?"
Ja lieber Herr Grass: wer sonst als der Westen soll denn bestimmen dürfen, was man im Westen tun darf oder nicht? Jedenfalls kämen allenfalls wenige Menschen bei uns auf die Idee, etwa von den Saudis die Veröffentlichung von Mohammed-Zeichnungen zu verlangen. Mit anderen Worten: Diese Form von Kritik am Westen liegt neben der Sache.
Gleich anschließend an das vorherige Zitat fährt Grass fort:
"Ich empfehle wirklich allen, sich die Karikaturen einmal näher anzuschauen: Sie erinnern einen an die berühmte Zeitung der Nazi-Zeit, den 'Stürmer'. Dort wurden antisemitische Karikaturen desselben Stils veröffentlicht."
Mit "berühmt" als Beiwort für das Nazi-Hetzblatt "Der Stürmer" habe ich so meine Schwierigkeiten. Ich würde das Adjektiv "berüchtigt" vorziehen.
Immerhin mag es sein, dass Grass "berüchtigt" gesagt hat, und nur durch einen Übersetzungsfehler ins Spanische oder einen Fehler bei der Rückübersetzung ins Deutsche daraus "berühmt" geworden ist, so dass wir diese sprachliche Unschärfe nicht überbewerten sollten.
Was mich allerdings wirklich auf die Palme (sowie zur sezierenden Analyse seiner Aussage und zum Verfassen meines vorliegenden Blog-Eintrages) bringt, ist Grass' Gerede von 'den' Karikaturen.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Zeichnungen macht verständlich, dass Menschen, und besonders Muslime, einige davon durchaus als beleidigend empfinden können. Ich könnte es verstehen, wenn jemand gezielt die Karikatur mit den (abstrahierend dargestellten) (1) Frauengestalten, deren zeichnerische Aussage ich, ehrlich gesagt, zwar nicht verstehe, welche aber durch den beigefügten Spruch (hier auf englisch übersetzt) "Prophet! daft and dumb, keeping women under thumb" einen deutlich anti-islamischen Zug bekommt, gedanklich in der Nähe von Stürmer-Karikaturen gegen die Juden ansiedeln würde. [Obwohl die Karikaturen aus dem Hetzblatt von Julius Streicher bei, wie man juristisch sagen würde, "verständiger Würdigung" denn doch noch um einiges schlimmer sind: vgl. etwa hier; an dieser Stelle sind die amtisemitischen Nazi-Karikaturen übrigens sogar in der Jewish (!) Virtual Library im Internet publiziert.]
[Nebenbei bemerkt, waren Jesus und sein Zwölf-Männer-Bund ja auch nicht gerade die Speerspitzen der Frauenemanzipation: Weiber waren denen gerade zum Füßewaschen gut genug. Jesus und Mohammed waren insoweit halt Kinder ihrer Zeit und in deren jeweiligen gesellschaftlichen Vorstellungen befangen. Dass wir die Frauenemanzipation nicht dem Christentum verdanken, lehrt schon ein Blick auf das noch heute den Männern reservierte Priestertum der katholischen Kirche.]
Auch das andere Bild mit (realistisch dargestellten) (2) verschleierten Frauen, auf dem ein grimmig dreinschauender Prophet im Vordergrund mit einem Krummschwert droht, kann Assoziationen an Stürmer-Karikaturen wecken.
Mohammed mit dem (3) "Bomben-Turban" ist ebenfalls nicht gerade freundlich. Diese Karikatur (wie auch die anderen) spielt aber im Unterschied zum "Stürmer" immerhin auf reale Vorgänge – Terroranschläge zwar nicht "der" Moslems, aber doch einiger radikaler Islamisten – an.
Problematisch sind außerdem sicherlich noch das Bild vom (4) Mohammed mit Hörnern (Heiligenschein), das Bild des Propheten in der Wüste (vielleicht missverstehe ich es, aber eine Deutung im Sinne von (5) "Kameltreiber" liegt natürlich nahe).
Dass die Karikatur des Propheten am Eingang zum Paradies, der den Terroristen den Eintritt mit dem Hinweis verwehrt, der Vorrat an (6) Jungfrauen sei ausgegangen, für moslemische Augen unerfreulich ist, kann ich mir zwar vorstellen. Eine Beleidigung des Propheten vermag ich darin allerdings nicht zu erkennen. Hier hat sich der Karikaturist eindeutig über den Glauben der Terroristen lustig, bzw. diese lächerlich gemacht, dass sie einen Heiligen Krieg führen (und mit den Wonnen des Paradieses für ihr Tun belohnt werden). Soweit der Koran eine solche Belohnung vorsieht, ist natürlich auch eine – verbale oder zeichnerische - Kritik an einschlägigen Textstellen legitim. Terroristen der Lächerlichkeit preiszugeben, ist wohl das Schlimmste, was man Fanatikern antun kann, und genau das leistet diese Karikatur mit ihrer eindeutigen Botschaft: ihr seid Idioten, wenn ihr glaubt, für eure Taten in den Himmel zu kommen; über solche Dummköpfe können wir (abgesehen davon, dass wir sie natürlich auch polizeilich verfolgen) nur lachen! Erinnern wir uns an diese Zeichnung, falls es noch einmal Terroranschläge oder islamistische Fememorde geben sollte, und kleben wir sie massenhaft auf sämtliche Plakatwände! [Diese Paraphrase darauf - gewissermaßen eine Karikatur der Karikatur - ist freilich auch nicht schlecht!!!]
Wir haben also 5, äußerstenfalls 7, Karikaturen, deren Inhalt man (teils mehr, teils weniger) als beleidigend oder rassistisch empfinden könnte.
Insgesamt ungefähr die Hälfte: das ist (zu) viel, aber das sind eben nicht einfach "die", also nicht alle der, Mohamed-Karikaturen! Keine dieser Karikaturen ist außerdem hasserfüllt, wie es die Zeichnungen im Stürmer sind. Da liegen Welten dazwischen, und wer die Propheten-Karikaturen, selbst noch die schlimmsten, mit der antisemitischen Hetze im Stürmer gleichsetzt, ist ein 'terrible simplificateur'. Derartige Parallelisierungen sind darüber hinaus nicht einfach nur schrecklich, sie sind vor allem auch gefährlich. Denn Günter Grass hat wohl auch nicht bedacht, dass solche Gleichsetzungen die Nazi-Hetze relativieren. Das aber wäre doch zweifellos das Letzte, was er will.
Die empörendste Vereinfachung liegt natürlich darin, dass er völlig undifferenziert alle zwölf Mohammed-Karikaturen über einen Kamm schert.
Der Zeichner des Schülers "Mohammed", der in Persisch an die (8) Schultafel schreibt "Die Journalisten von Jyllands-Posten sind eine Bande reaktionärer Provokateure" [im Original – z. B. hier im Rahmen der Serie zu sehen - ist das Bild natürlich ohne die englischsprachigen Zusätze erschienen], kann am allerwenigsten einer anti-islamischen Haltung verdächtigt werden.
Und jener (9) angschlotternde Karikaturist, der im abgedunkelten Zimmer verstohlen ein Bild des Propheten zeichnet, trifft am besten von allen den Ausgangspunkt der ganzen Kontroverse, nämlich die Furcht der Illustratoren, Bilder des Propheten Mohammed (für ein Kinderbuch) zu zeichnen.
Diese Karikatur sollte, wem immer es um Meinungsfreiheit geht, ins Zentrum seiner Betrachtungen rücken. Die darin geäußerte Kritik am islamistischen Terror, die keinerlei Kritik an oder Beleidigung des Propheten enthält, ist legitim und notwendig. Es ist bedauernswert (aber leider in gewisser Weise wohl auch kennzeichnend für unsere Medien oder auch für unsere Mentalität oder Wertepriorität), dass bei den Nachdrucken in anderen Zeitungen und Zeitschriften der 'Bomben-Turban' im Vordergrund stand (so zumindest mein Eindruck, der allerdings nicht durch umfangreiche Kenntnisse gestützt ist und deshalb falsch sein könnte; ggf. lasse ich mich gern korrigieren).
(Nachdem ich diese Zeilen geschrieben hatte, stieß ich zufällig auf den Text von einem gewissen David Morris u. d. T. "The Slippery Slope of Self-Censorship". Genau wie ich fordert Morris eine differenzierte Betrachtung der Muhammed-Karikaturen und möchte ebenfalls den 'nervösen Karikaturisten' ins Zentrum der Debatte stellen:
"What would I have done if I were a newspaper editor? I'd have begun by publishing a single cartoon, the one of the artist at his drawing table, glancing fearfully over his shoulder as he drew an image of Mohammed. I would have invited discussion by all parties, not only in the pages of the paper but on its website and in other public forums.")
In keiner Weise anti-islamisch ist auch jene (10) Zeichnung, welche den Kinderbuchautor Kare Bluitgen mit einem Turban auf dem Kopf zeigt, in den eine Orange gefallen ist. Dazu gibt es – wie auch zu den anderen Karikaturen - eine Erläuterung in der englischsprachigen Wikipedia: "Another [cartoon] shows journalist Kåre Bluitgen, wearing a turban with the proverbial orange dropping into it, with the inscription 'Publicity stunt'. In his hand is a child's stick drawing of Muhammad. The proverb 'an orange in the turban' is a Danish expression meaning 'a stroke of luck': here, the added publicity for the book."
Beim (11) Prophetengesicht in der Mondsichel wüsste ich nicht, inwiefern das beleidigend gemeint sein oder empfunden werden könnte, aber auch bei dieser Zeichnung verstehe ich nicht, worauf der Karikaturist hinaus wollte.
(Es liegt, nebenbei bemerkt, auch darin ein riesiger Unterschied zu den Stürmer-Bildern, dass diese, "dank" ihrer Primitivität, unmittelbar verständlich sind, während man bei den 'Dänen-Zeichnungen' teilweise schon länger überlegen muss, was eigentlich gemeint ist.)
Den Sinn der Darstellung der (12) 'polizeilichen Gegenüberstellung' verstehe ich ebenfalls nicht so recht. Eine Beleidigung des Propheten ist aber sicherlich nicht beabsichtigt und ist nicht zu erkennen. Anscheinend handelt es sich um eine weitere Anspielung auf den PR-Effekt der Karikaturen-Aktion für den Kinderbuchautor. [Erläuterung in der Wikipedia englisch: "A police line-up of seven people wearing turbans, with the witness saying: 'Hm... jeg kan ikke lige genkende ham' ('Hm... I can't really recognise him'). Not all people in the line-up are immediately identifiable. They are: (1) A generic Hippie, (2) politician Pia Kjærsgaard, (3) possibly Jesus, (4) possibly Buddha, (5) possibly Muhammad, (6) generic Indian Guru, and (7) journalist Kåre Bluitgen, carrying a sign saying: 'Kåres PR, ring og få et tilbud' ('Kåre's public relations, call and get an offer')."]
Zurück nun aber zur Textanalyse des Interviews von El Pais mit Günter Grass. Dort sagt er u. a. noch:
"Wir haben das Glück der Renaissance, der Aufklärung gehabt ... . Die islamische Welt hat diesen Prozess nicht durchgemacht, sie befindet sich auf einer anderen Entwicklungsstufe. Und das muss man respektieren."
Hinsichtlich der "anderen Entwicklungsstufe" könnte er zwar objektiv Recht haben, aber von einer anderen Warte aus lässt sich natürlich auch eine solche Äußerung schon wieder als "anti-moslemisch" kritisieren. Letztlich impliziert eine derartige Feststellung eine Bewertung der islamischen Länder als zivilisatorisch zurück geblieben, und diese Einstufung wird den Menschen dort genau so wenig gefallen, wie die Karikaturen.
Ebenso kann man sich fragen, ob wir nicht jedenfalls von denjenigen Muslimen, welche im Westen leben, eine Anpassung an die hiesige Entwicklungsstufe verlangen können oder sogar müssten.
"Die Wunden sind bereits tief, nicht nur in den arabischen Ländern, sondern in den armen Ländern allgemein. Der Westen scheint nicht in der Lage zu sein, einen Weg zu finden, diese Länder wie gleichberechtigte Partner zu akzeptieren. Es war unmöglich, für sie dieselben Verhältnisse zu schaffen, die wir für uns in Anspruch nehmen."
Hier sind für mein Empfinden zwei nicht so recht kompatible Aussagen zusammen gebracht, nämlich
a) die Kritik, dass der Westen die armen Länder nicht als gleichberechtigte Partner akzeptiert und
b) die [als Kritik gemeinte?] Feststellung, dass wir für die Menschen in diesen Ländern nicht die gleichen [gemeint wohl: materiellen] Verhältnisse, also Wohlstand, schaffen konnten, wie wir ihn "für uns in Anspruch nehmen" [hier hätte Grass ruhig präziser sagen dürfen: "wie wir ihn für uns geschaffen haben"!]
Dass wir die anderen nicht immer fair behandeln [z. B. Handelshemmnisse usw.], ist kaum zu leugnen *; insoweit ist die Kritik von Grass berechtigt. Allerdings ist es schwierig, zwischen Partner mit unterschiedlichem Zivilisationsstand ein Verhältnis auf 'gleicher Augenhöhe' zu unterhalten.
Unterschiede im Zivilisationsniveau sollten freilich Fairness seitens des fortgeschritteneren Partners nicht ausschließen.
Den Schuh jedoch, dass wir für die Menschen in diesen Ländern irgendwelche Verhältnisse schaffen müssten, sollten wir uns weder anziehen, noch sollten wir ihn uns anziehen lassen (und uns auch nicht von derartigen Forderungen unser Geld von ineffizienten und korrupten Regimen aus den Taschen ziehen lassen). Weder ist es unsere Aufgabe oder Pflicht, die anderen auf einen 'Großen Sprung nach Vorn' zu schubsen, noch reicht unsere Kraft dazu aus. Die helfende Hand ausstrecken (was auch finanzielle Hilfen einschließen kann - soweit sie etwas bewirken): das sollten wir schon tun.
Den Rest (bzw. die Hauptsache) müssen die Menschen in den islamischen (bzw. überhaupt in den weniger entwickelten) Ländern allerdings selbst leisten – wie es die Ostasiaten ja auch schaffen. Natürlich sind die historischen Bedingungen aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungslinien nicht vergleichbar, und für die Chinesen, vielleicht auch für die Inder, die mittlerweile ja ebenfalls ihre Wirtschaft ein wenig dereguliert und einen 'selbsttragenden Aufschwung' in Gang gebracht haben, waren die kulturellen Vorbedingungen offenbar günstiger als für die (meisten) islamischen Länder.
Aber dann können wir denen auch nicht helfen, es sei denn, man wollte sie mit Blut und Eisen auf den Weg des Fortschritts treiben (so wie einst Karl der Große die Sachsen?). Was Grass aber wohl auch nicht will.
Während wir auch intern mittlerweile (hoffentlich) lernen, dass ein Staat nicht Hängematten für alle aufspannen kann und darf, dürfen und müssen wir das auch nach außen sagen und konsequent praktizieren: Hilfe zur Selbsthilfe ja; sentimentale 'Pflaster-für-alle-Wunden-Politik' nein! Letztlich vergrößert so etwas die Probleme nur.
"Man kann über alles reden, selbst über konfliktreiche Themen, wenn jeder die Toleranz mitbringt, die er auch vom anderen erwartet - selbst wenn der eine andere Vorstellung von Kultur hat, die von eigenen Tabus bestimmt wird.
"Ein Topos, welcher lieb und nett, hilft wenig gegen einen Kopf hinterm Brett" kann ich dazu nur sagen.
Der erste und der dritte Teilsatz sind in der Kombination logisch schon deshalb nicht zu beanstanden, weil sie im Grunde auf eine Tautologie hinauslaufen. Denn ob die Leute Toleranz mitbringen, kann ich nur daran erkennen, ob sie über alles reden. "Über alles reden" und "Toleranz mitbringen" bezeichnen praktisch identische Sachverhalte.
Aber Grass meint den Satz nicht abstrakt. Denn vorausgegangen war die Schilderung eines konkreten Sachverhaltes:
"Vor zwei Jahren trafen wir uns im Jemen mit westlichen und arabischen Schriftstellern, um über literarische Themen zu sprechen, unter anderem über Erotik. Für die Araber war das ungewohnt, aber am Ende gelang die Diskussion."
Die von Grass (und anderen westlichen Schriftstellern) mit islamischen Schriftstellern in einem islamischen Land geführte Diskussion über Erotik soll also offenbar beweisen, dass
1) man auch mit dem Muslimen über alles reden kann und
2) dass die Muslime tolerant sind, wenn wir selbst ihnen Toleranz entgegen bringen.
Die von ihm geschilderte Begegnung ist allerdings nicht geeignet, den Beweis zu erbringen, dass man (sogar) mit muslimischen (zumindest) Intellektuellen über alles reden kann. Über Erotik zu sprechen, mag im Islam (heutzutage) verpönt sein. Ein religiöses Tabu brechen derartige Diskussionen aber wohl kaum. Erotik ist (Grass mag das freilich anders sehen) nicht "alles". Hat er mal versucht, mit seinen moslemischen Schriftstellerkollegen [waren eigentlich auch Kolleginnen dabei???] kritisch über die Stellung der Religion im allgemeinen und des Islam im besonderen, oder über die Stellung der islamischen Geistlichkeit in jenen Ländern, zu sprechen? Wohl kaum.
Hat er wenigstens über Frauenemanzipation gesprochen? Oder nur über Erotik?
Im Kern bin ich letztlich besonders deshalb über die Äußerungen von Günter Grass enttäuscht, weil hier ein Mensch, der uns Wahlempfehlungen gibt und sich gelegentlich gar als eine Art praeceptor germaniae geriert, zu einem Thema, das die Welt bewegt, nichts als rhetorische Versatzstücke, teilweise sogar unpassende, zusammenpusselt. Che peccato!
* Näheres über Zollschranken und "asymmetrische Integration in den Welthandel" [die sich übrigens bei Ressourcenknappheit durchaus auch als vorteilhaft erweisen könnte] findet sich z. B. in dem sehr abgewogenen Aufsatz "Menschliche Entwicklung in Zeiten der Globalisierung
Sieben Fragen und unvollständige Antworten" von einem gewissen Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V., Oktober 2005
Einen Artikel (ich habe ihn noch nicht gelesen) über die Gründe für das relative Zurückfallen der arabischen Welt brachte "Die Welt" vom 12.02.06 u. d. T. "Gefangene der Vergangenheit". Ich teste hier mal, wie "Trackbacks" (hoffentlich) funktionieren [tun sie nicht]:
http://www.wams.de/z/plog/blog.php/apocalypso/hauptwiderspruch/2006/02/16/warum_die_arabischen_laender_zurueckfallen
26.02.06 Nachfolgend Links zu einigen anderen Blog-Meinungsäußerungen zum Interview von "El Pais" mit Günter Grass:
Weblog "politically incorrect" (PI) (Motto "contra torrentem" - gegen den Strom - nun ja, ich habe allerdings das Gefühl, dass auch die in irgendeinem Strom mitschwimmen ...) von Stefan Herre u. a.: "Grass: 'Zensieren!' Grass zensieren?"
Lizas Welt (bei PI auf der Blogroll. Was mir gar nicht gefällt: große Klappe, aber zu feige, sich als Person zu identifizieren) titelt "Beim Barte des Propheten".
Burkhard Müller-Ulrich, einer aus der Gruppe der in der deutschen Blogosphäre vielfältig präsenten und verlinkten Broder-Brüder [pardon: zwei Schwestern sind ja auch dazwischen!], atmet auf (heureka!): "Na endlich: Grass ist groß und Mohammed ist sein Prophet".
Martin Hagen fasst die Grass-Position kurz und treffend zusammen: "Grass: 'Selbst schuld!' " und erinnert uns daran, dass "unser guter Günnie, der neuerdings anschenend vom Literaten zum Terrorismusexperten umgeschult hat" bereits mit ähnlichen Argumenten versucht hat, die Attentate von London als Reaktion der Menschen ärmerer Länder auf den reichen Westen zu verstehen. Und dass er "bei seiner Analyse geflissentlich übersieht", dass es scheinbar gut integrierte Muslime aus westlichen Ländern waren, die diese Anschläge ausgeführt haben, und dass Osama bin Laden auch nicht gerade aus einer Familie kleiner Krauter stammt. [Hier der Link zum - allerdings kostenpflichtigen - Spiegel-Artikel (oder Interview? So interessiert, dass ich Geld dafür ausgeben würde, bin ich nicht!) "Dem Terrorismus das Wasser abgraben".
Ein wenig Wein ins Wasser schüttet mir der - derzeit - letzte Kommentar zur "Ursachenforschung":
"Moin Martin Hagen, habe Ihr Blog erst über Miersch, die Achse und einige Umwege entdeckt" schreibt da ein Anonymus (Hervorhebung von mir). Also auch dieses Blog ein Achsenrad?
Stefen Niemeyer wendet sich gleichfalls gegen Grass: "Im Zweifel gegen die Freiheit, Herr Grass?"
Positive Kommentare zur Grass-Lageanalyse habe ich nicht gefunden, und allerdings auch keine Lust, die ganze Google-Liste auf solche durchzukämmen. Wenn wer welche weiß, möge sie oder er es mir sagen. Auch solche Stimmen will ich dann gern verlinken.
Als Kontrapunkt zum intellektuellen Heuhau fen von Günter Grass empfehle ich unbedingt die Lektüre der "Stellungnahme zum gegenwärtigen Konflikt um die Karikaturen, die den Propheten Muhammad abbilden" von dem deutschen moslemischen Islamwissenschaftler (und Juristen) Prof. Dr. Muhammad Kalisch.
Der Aufsatz umfasst zwar elf Seiten, aber die Zeit sollte man sich schon nehmen, wenn man wirklich an Erkenntnisgewinn interessiert ist, und nicht an schnell geprägten Schwätzermünzen.
Prof. Kalisch weiß eben, was der Literat Grass offenbar nicht weiß, nämlich dass es "kaum sinnvoll [ich ergänze: "ist"; Kalisch formuliert allerdings aus subjektiver Perspektive "scheint"], in der meist sehr knappen Zeit, die einem von den Medien zur Verfügung gestellt wird, etwas wirklich Sachdienliches zu antworten".
Textstand vom 16.06.2023
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