Dass eine Brillen-Design-Firma ins Verlagsgeschäft einsteigt, ist in Deutschland schon recht ungewöhnlich. Normaler Weise bleibt in diesem unserem Land der Schuster bei seinen Leisten und der Designer-Brillen-Produzent bei seinen Nasenstegen.
Immerhin fällt das Buch "Übersehene Sehenswürdigkeiten. Deutsche Orte. Overlooked Sights. German Places. Roadbook" (Text in Deutsch und Englisch) von Michaela Vieser und Reto Wettach nicht weit vom Brillengestell. Es verschafft uns nämlich einen Durchblick durch das geheime Deutschland.
Prosaischer formuliert: es ist ein Reiseführer. Selbige tummeln sich mittlerweile derart zahlreich auf dem Markt, dass es beinahe schon wie ein Pejorativ wirken kann, wenn man ein Buch als "Reiseführer" bezeichnet.
Dieses jedoch ist anders, total anders.
Und deshalb habe ich es gekauft, trotz rappelvoller Bücherschränke mit (größtenteils ungelesenen) Büchern. Hier gibt es zahlreiche (farbige und vor allem originelle) Fotos: da geht es etwas schneller mit dem Lesen, und seit gestern habe ich, größtenteils auf der Bahnfahrt, schon etwa 1/3 gelesen oder vielmehr verschlungen, denn das Buch liest sich wie (oder gar besser als?) ein Krimi.
24,90 € hätte ich persönlich zwar nicht dafür investieren können, doch war es in der Buchhandlung König in Frankfurt am Main (an der Kleinmarkthalle) reduziert für 10,- € zu haben, in der 2. Auflage von 2005. Die erste war erst in 2004 erschienen; das Buch muss sich also gut verkauft haben. Warum die 2. Auflage verramscht wird?
Nun, vermutlich deswegen, weil das Buch so locker ist. Das aber leider nicht nur inhaltlich; vielmehr hat sich der Buchblock gelockert, der Rücken ist aus dem Leim gegangen (aber die Seiten hängen -bislang- noch zusammen und insgesamt am Einbandkarton). Schade; bislang kannte ich nicht-klebenden Bücherkleber nur von italienischen Büchern. Aber anscheinend wandert nicht nur die Palmengrenze nach Norden (und, laut Leonardo Sciascia, die Mafia), sondern auch der disfunktionale Buchleim.
Sehr hoffe ich, dass dem Werk eine dritte (und viele weitere) Auflage(n) beschieden sein möge; dann aber vorzugsweise mit einem kernfesten deutschen Rücken.
Über den Inhalt brauche ich mich im Detail nicht auszulassen; darüber kann man sich im Zwischennetz vielfältig informieren:
- Auf der speziell dem Buch gewidmeten Webseite http://www.driftingfriends.de/ (wo der oder die Websurfer / Websurferin anhand einer interaktiven Landkarte auch seine oder ihre Geographiekenntnisse aufpolieren kann).
- Ein Interview mit den Autoren in englischer Sprache in einem japanischen Magazin ("lavishly illustrated", wie man auf Englisch sagen würde: also opulent illustriert mit zahlreichen (allerdings etwas kleinen) Fotos aus dem Buch selbst . Hier erhält man vielleicht den besten raschen Über-, Ein- und Durchblick über/in den Buchinhalt.
- Eine ganze Reihe der Artikel (mit Bildern) sind auch online zugänglich, auf der Webseite der Zeitschrift "Geo" nämlich und weitere im "Deutschland-Portal". (Letzteres wird vom "Presse- und Informationsamt der Bundesregierung" betrieben; man könnte also scherzhaft sagen, dass der Reiseführer seinen offiziellen Segen erhalten hat.)
- Eine ausführliche Rezension hat Jan Brandt im Spiegel Online vom 27.10.2004 verfasst ("ÜBERSEHENE SEHENSWÜRDIGKEITEN. Im Land der Lügner").
- Amazon hat, wie (fast) immer, Auszüge aus einer Reihe von Buchbesprechungen in den Medien usw. ins Netz gestellt, aber auch 16 Leser-Rezensenten war auch nicht faul.
Verwundert hat mich, dass selbst ein solch harmloses Werk die Leserschaft polarisieren kann: immerhin 5 begegnen dem Buch nämlich mit einer typisch deutschen Verbissenheit und Verbiestertheit: "Sind gar nicht alles unbekannte Sehenswürdigkeiten, vieles kennt man ja bereits", "alles nur Werbung für die Sponsoren" [merkwürdig: mir waren die Sponsorenhinweise gar nicht aufgefallen], "belanglose Geschichten", "fade Kost" und "kann man alles selber viel besser machen" lauten diese Urteile.
Denen stehen andererseits 10 Rezensionen mit teilweise begeisterter Zustimmung gegenüber (eine ist, soweit es um die Beurteilung des Buches geht, in der Tendenz für mich unklar).
Ein wenig Sinn für Humor sollte man schon haben, um z. B. jene Fotoaufnahme S. 80 (ausnahmsweise eine in schwarz-weiß) so recht genießen zu können, welche die kritischen anatomischen Teile des Hengstes zeigt, auf welchem Kaiser Wilhelm I vor dem Kyffhäuser-Denkmal in alle Ewigkeit posiert. Oder die auf S. 103 mit der schwarze Katze an der Mauer des Häuschens des russischen Einsiedlers im Olympia-Park von München.
Selbstverständlich kenne auch ich ich eine ganze Reihe der "unbekannten" Sehenswürdigkeiten: manche habe ich selbst schon gesehen, andere im Fernsehen oder auf Fotos. Aber auch die alten Bekannten (Junkerhaus in Lemgo, Externsteine bei Detmold, Barock-Puppenmuseum in Arnstadt, Walpurgishalle in Thale, Kirche St. Walburga in Eichstätt, Aussichtsturm in Stolberg, Stadt Dinkelsbühl und "Eagle's Nest" bei Berchtesgaden) begrüße ich in diesem Buche freudig wieder.
Mir verschafft die Lektüre eine entspannte Lesefreude. Wer aber tief schürfende Erkenntnisse sucht, der sollte ohnehin nicht in der Weltgeschichte herumgondeln, sondern sich diszipliniert in die Uni-Bibliothek hocken - oder die Universitäts-Vorlesung zum Thema "Relation zwischen dem Reisen an sich und dem schlechthinnigen Reisen als solchem" frequentieren.
Schade (bzw. vermutlich schädlich für den Verkaufserfolg) ist allerdings eine aus meiner Sicht bestehende Diskrepanz zwischen der etwas simplen und fachbuchartigen Anmutung des Buchäußeren und der vorzüglichen Illustration innen. Man erwartet nach dem äußeren Eindruck nicht unbedingt lustige Geschichten und reichhaltige Bebilderung im Buchinneren, und deshalb wird im Laden mancher potentielle Kunde den (jedenfalls in meinen Augen) äußerlich etwas "technisch" anmutenden Bildband vielleicht gar nicht erst aufschlagen.
Tatsächlich ist es aber, gegen manche typisch deutschen Miesmacher [was mögen solche ernsten Menschen bloß von meinen Blog-Einträgen mit Titeln wie "Vom Friedhof der unverweslichen Leichen zum Satanswerk der Säuglingstaufe", "VOM FRIEDHOF DER UNVERWESLICHEN LEICHEN ZUM MITTAGSMENUE AUS DER SCHÄDELKALOTTE", "Hungerskandal in Wuppertal: Porsche-Fahrer frisst Rentner-Oma die Polenta vom Teller!" oder "Mensch, willst du würdig von hinnen geh'n, geh nach Kassel erst, das Museum beseh'n!" denken?], ein herrliches Opus, für das auch der reguläre Preis durchaus gerechtfertigt erscheint und dem ich noch viele weitere Auflagen wünsche!
Auch wenn man in den meisten Fällen keine größeren Reisen unternehmen wird, um die geschilderten Kuriositäten usw. zu besichtigen: hier ist die Lese-Reise das eigentliche Vergnügen!
Nachtrag 29.09.07
Wo aufbewahren? Hier passt er vielleicht ganz gut hin: der Link zur "The Athanasius Kircher Society", was man interpretierend übersetzen könnte mit "Gelehrte Gesellschaft Athanasius Kircher".
Die Selbstdarstellung der gelehrten Gesellschaft:
"The Athanasius Kircher Society was chartered to perpetuate the spirit and sensibilities of the late Athanasius Kircher, SJ. Our interests extend to the wondrous, the curious, the singular, the esoteric, and the sometimes hazy frontier between the plausible and the implausible — anything that Father Kircher might find inspiring if he were alive today. Records of our proceedings are maintained for the public’s edification."
Diese wiederum führte mich (als Surfer) zu einem ungewöhnlichen Reiseziel in Deutschland: Den Naturbauten am Triesch in Nentershausen. (Wikipedia-Eintrag zum Ort Nentershausen in Hessen.)
Textstand vom 29.09.2007. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
finden Sie eine Gesamtübersicht meiner Blog-Einträge.
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