Der erste Satz der Einleitung (S. 11) immerhin ist unerwartet:
"Wenn die Kinder, die heute geboren werde, in der Hälfte ihres Lebens angelangt sind, wird es die meisten Rohstoffe, die heute die Basis unseres Wirtschaftslebens sind, nicht mehr geben, so zum Beispiel Öl, Gas, Kupfer und Uran" schreibt Prof. Dr. Manfred Pohl in seinem Anfang 2007 erschienenen Buch "Das Ende des Weißen Mannes. Eine Handlungsaufforderung." Pohl ist Jahrgang 1944, also Angehöriger der "erschöpften Generation" (ein von dem -ebenfalls 1944 geboren- Bielefelder Bernhard Schlink geprägter Ausdruck, wie ich in dieser Rezension seiner Essay-Sammlung "Vergewisserungen" lese). Und damit ist er (bzw. sind beide) beinahe mein Jahrgang.
Aber die Erwartung einer in nicht ferner Zukunft bevorstehenden Ressourcenverknappung, oder - wie hier - sogar Ressourcenerschöpfung, die auch mich schon länger umtreibt (vgl. z.B. "The (b)rat in the box at the ultimate lever?", "Peking bohrt, Amerika bombt, Europa brütet", "KEINE JUNGFRAU ZÄHMT DIESES ZWEIHORN" oder "Hungerskandal in Wuppertal: Porsche-Fahrer frisst Rentner-Oma die Polenta vom Teller!"), kann man nicht auf mentale Erschöpfung zurückführen. Dass die (zunächst:) Erdöl-Vorräte ziemlich bald ausgehen, werden, ist nicht mehr zu übersehen. Auch wenn diese Befürchtungen nicht im Mittelpunkt von Pohls Arbeit stehen, war ich doch (positiv) überrascht zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit sich diese Einsicht bereits im Mainstream des Denkens eingewurzelt hat - und das in diesem Falle sogar bei jemanden, dem man nicht gerade Wirtschaftsferne nachsagen kann.
Per 15.05.07 war bei Amazon noch keine Kunden-Rezension oder sonstige Rezension des Buches eingestellt.
[Vorsicht: wenn man -bei Amazon als Verfasser, bei Google als Namen- "Manfred Pohl" sucht, trifft man nicht nur auf "unseren" Pohl, sondern auch auf einen Hamburger Professor, der sich intensiv mit China beschäftigt. Auseinander halten kann man die Publikationen der beiden z. B. anhand der Veröffentlichungsliste auf der Webseite des Frankfurter Manfred Pohl - oder in dem biographischen Wikipedia-Artikel über ihn.]
Eine ganze Reihe von Buchbesprechungen ist jedoch bereits online (vgl. unten), aber zunächst möchte ich meiner Leser Augen auf eine ganz andere Webseite lenken, welche ich im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Pohls Buch fand und Ihnen als brillante Basisinformation (über die möglicher Weise düsteren Perspektiven für unsere Zukunft als Weiße Männer und Frauen) herzlichst ans Herz lege: "Weißer Mann – was nun?" (UT: "Wer die Wahl am 18. September gewinnt, ist völlig irrelevant. Denn im globalen Wettstreit droht der westlichen Kultur sowieso der Untergang. Ein Nachruf zu Lebzeiten") von Matthias Politycki in DIE ZEIT 01.09.2005 Nr.36.
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Hier aber nun Informationen über diejenigen Rezensionen des Buches von Manfred Pohl, die ich bislang im Netz gefunden habe:
- Roland Tichys Besprechung "Das Ende des Abendlandes. Letzte Rettung für den weißen Mann" im Handelsblatt vom 16.02.2007, der ich überhaupt meine Bekanntschaft mit dem Buch verdanke:
"Seit wenigen Jahrzehnten sieht Pohl diese sich beschleunigende Ausdehnung der Wissenswelt auch in den Ländern und Kontinenten, die bislang von den Europäern beherrscht worden waren. Seither ist der weiße Mann auf dem Weg von der die Welt beherrschenden Spezies zu einer bedrohten Minderheit. Er ist schon allein wegen der demographischen Entwicklung in der Defensive. ... Er ist auch wirtschaftlich bedroht, weil die großen Konzerne und Unternehmen ... ihre technologischen Vorsprünge an die neuen Konkurrenten aus Indien und China verlieren werden. Auf Gnade darf der weiße Mann dabei nicht hoffen: Seine Grausamkeiten in Sachen Kolonialisierung und Versklavung sind unvergessen.
Pohl umgibt sein Kernargument mit einer Reihe von Hilfskonstruktionen. Zum neuronalen Multiplikatoreffekt tritt ein genetischer Multiplikatoreffekt, eine rasante Beschleunigung in der Entschlüsselung unserer elementarsten Lebensgrundlagen. Aber auch diese neuronalen Kicks ermöglichen aufstrebenden Nationen ganz andere Veränderungsmöglichkeiten, gemessen an den gesättigten, absterbenden Wohlstandsgesellschaften aus dem Erbe der letzten weißen Männer.
Pohl liefert viele nutzbringende Werkzeuge, um heutige Phänomene zu verstehen und überhaupt erst sichtbar zu machen. Das hilft darüber hinweg, dass er sein Argument von der Beschleunigung der neuronalen Kompetenz eher postuliert als begründet. Er bleibt auch die Erklärung schuldig, warum Wissensgesellschaften wie das klassische Arabien im 9. Jahrhundert ihre Progression abbrechen und wie anders Europa seine brennenden Bibliotheken löschen konnte. Auch seine Handlungsanleitung ... wirkt zunächst altbacken: Wenn der weiße Mann schon zahlenmäßig schrumpft, sollte er versuchen, seine Zuwanderer zu integrieren und den Übergang vom weißen Mann zum Multi-Colour-Mann gestalten ... . Investition in Bildung ist ohnehin das Alpha und das Omega der ganzen Veranstaltung. Das Traurige ist nur: Er hat Recht. Vielleicht hilft das Buch hier zu einem neuen Verständnis."
- "Kein weißer Riese mehr" von Steffen Hebestreit in der Frankfurter Rundschau Online:
"Ungeachtet dieser Unzulänglichkeiten stellt 'Das Ende des Weißen Mannes' einige interessante Fragen, auch wenn die Antworten oftmals holzschnittartig sind. Aber das Werk ist ja als "Handlungsaufforderung" verfasst. So möge der Leser es denn als Denkanstoß auffassen und als Aufforderung verstehen, angeregt durch die kontroversen Thesen des umtriebigen Professors, sich eigene Gedanken zu machen und fruchtbare Lösungswege für die künftigen Probleme der Welt zu finden."
- "Der vielfarbige Mensch und seine Zukunft" von SIBYLLE QUENETT im Kölner Stadtanzeiger v. 16.02.07:
"Vor allem jedoch wirbt Pohl für ein anderes Bildungssystem, in dem den Fächern Kultur und Religion ein höherer Stellenwert zugemessen wird. Das sei Voraussetzung für den Fortbestand einer friedlichen Welt, in der die Kulturen und Volkswirtschaften im Wettstreit lägen. Möglicherweise ist dies tatsächlich die Alternative zum oft beschworenen 'Kampf der Kulturen', dem der Westen so gern aus dem Weg ginge."
- "Alles hat mal ein Ende", Martin Reichert in der taz vom 19.02.07:
"Am Ende der Pohl'schen Vision steht dann der 'Multi-Colour-Man' (MCM). Der ist zwar unter Umständen nicht mehr blond, aber mit westlichem Wertebewusstsein ausgestattet - die kulturelle Identität der westlichen Länder bleibt erhalten. Die weiße Elite ...[bei der Vorstellung des Buches im Bau der Bundespressekonferenz] ist skeptisch, ob dieser Kraftakt gelingen könnte. ... Ein Oswald Spengler wäre mit einem solchen 200-Seiten-Büchlein nicht durchgekommen. Sein 'Untergang des Abendlandes' umfasst stolze 1.249 Seiten ... . Mag sein, dass das 'Wissen der Welt' mehr wird - die Bücher werden immer dünner. Manfred Pohl will sich mit der Verrottung des Abendlandes auf dem Kompost der Geschichte nicht abfinden. Retten, was zu retten ist: Warum eigentlich, wenn die so wertvolle Kultur längst zur geschmähten 'Zivilisation' geworden ist, die laut Pohl angeblich unglücklich macht? Diese Antwort bleibt Pohl schuldig."
- Thomas Wagner titelt in der WOZ (einer -linken- Schweizer Wochenzeitschrift) vom 08.03.07: "Der Staat als Aktiengesellschaft" im Abschnitt "Demokratie zurückdrängen": "Um seine radikalen Reformen durchzudrücken, postuliert Pohl auch eine tief greifende Umgestaltung der politischen Institutionen: «Bisher mussten die Parteien, die Lobbyisten, die betroffenen Institutionen und so weiter alle in den Entscheidungsprozess mit ihren Vorschlägen einbezogen werden, was unternehmensstrategisch eine Katastrophe ist.» Um die vom Konvent für Deutschland postulierte «Reform der Reformfähigkeit» in Gang zu setzen, stellt Pohl das derzeitige System der parlamentarischen Demokratie grundsätzlich infrage und plädiert dafür, die sogenannten Reformblockaden zu beseitigen. Die Bundespolitik soll künftig wie eine Aktiengesellschaft geführt werden. Damit die Führung unter Kontrolle bleibt, soll die Bevölkerung einen Bürgerkonvent wählen, der zusammen mit dem Bundespräsidenten und dem Bundesverfassungsgericht als Aufsichtsbehörde fungiert. Ein ähnliches Sicherungssystem eben, «wie dies in gut geführten Unternehmen der Fall ist». Die öffentliche Verwaltung soll weitgehend abgebaut und ihre Aufgaben durch private Unternehmen ersetzt werden."
In einem separaten Kasten bringt die WOZ außerdem Informationen (die auch unabhängig von der politisch-gesellschaftlichen Bewertung interessant sind) über die institutionellen Aktivitäten des Autors.
["Immer wieder sonntags. Schimpfen über das eigene Land: Der 'Konvent für Deutschland' tagt, nur Christiansen fehlt" ist der Titel (der Untertitel stammt aus der Druckausgabe der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20.04.08) eines kritischen Berichts (sogar) in der FAZ über diese Organisation.]
- Noch ein wenig linksstrammer ist, wie man schon aus dem Titel erkennen kann, Wagners Darstellung in der Zeitschrift "Junge Welt" vom 13.03.07: "Rassistische Hochkultur. Neulich in Berlin: Hans-Olaf Henkel hält die Laudatio auf ein Buch, in dem es von Stereotypen des Faschismus wimmelt."
Wenn sich die Linken mal ohne ihre Begriffsbuhle "faschistisch" aufs Tanzparkett der Texte wagen würden, wären ihre Pirouetten deutlich präziser: "Ein Buch, in dem es von Stereotypen wimmelt" wäre eine Charakterisierung gewesen, die sogar von mir hätte stammen können. Recht hat Wagner allerdings, wenn er das Buch ein "auf breite Leserschichten zielende[s] Druckerzeugnis" nennt.
Was Wagner ansonsten über Pohls angeblichen "kulturelle[n] Rassismus", seine "militante Thesen" und seine Aktivitäten als "kapitalistischer Missionar" schreibt: nun ja, das gehört halt zu jenem Hausschatz von Worten, welche für die Leser der Tageszeitung "junge Welt" die Duftmarke des miefigen marxistischen Stallgeruchs einer altlinken Seelenwärmstube setzt.
Diese Buchbesprechung ist in der "Jungen Welt" nur mit Online-Abonnement zugänglich, die Gemeinschaft der (Links-)Gläubigen hat ihn jedoch auf zahlreichen anderen Webseiten eingestellt (folgerichtig, denn wer tendenziell Gegner des Eigentums ist, muss auch gegen geistiges Eigentum eintreten; dennoch bin ich denen - wie auch, in anderen Zusammenhängen, zahlreichen anderen "Sündern" dieser Art - dafür dankbar): z. B. hier, da, dort und sogar im Blog "jetzt.de" der Süddeutschen Zeitung.
- Nachtrag 04.06.07: Für einen linken Autor entwickelt Wagner ein erstaunliches Gespür für kapitalistische Synergie-Effekte. Am 29.05.07 hat er - in Inhalt und Tonfall wiederum dem Leserkreis des Mediums angepasst - auch in der Süddeutschen Zeitung eine Rezension untergebracht; Titel: "Diffuser Rassismus". Textauszug:
Nachdem der Rassebegriff diskreditiert ist, bedient sich rassistische Rhetorik vor allem kultureller Argumente. Das Buch des ehemaligen Haus-Historikers der Deutschen Bank, Manfred Pohl, ist dafür ein drastisches Beispiel. Unverblümt postuliert er die globale Vorherrschaft der 'Kultur des Weißen Mannes' als „unsere einzige Hoffnung und unser unveränderliches Ziel'. Ihre Kernländer sollen trotz des künftig unvermeidlichen genetischen Siegeszugs des Multi-Colour-Man (MCM) 'deutsch, europäisch oder amerikanisch bleiben'.
Für seinen antirassistischen Einsatz hätte Thomas Wagner gewiss ein Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern (meinetwegen auch noch Brillanten dazu) verdient. Man wüsste freilich gern, auf welche Weise er z. B. das zunehmende Zurückfallen der (meisten) arabischen Staaten im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb und die riesigen Analphabetenzahlen dort erklärt. Schuld des Westens? Ob er die chinesische Staatsform für ideal hält, oder nicht doch auch dort die Demokratie einführen möchte? Ob er es für ein Unglück hält, dass Indien aufgrund englischer kolonialer Überformung eine demokratische Regierungsform entwickelt hat? Oder was wir seiner Meinung nach gegen das niedrige Bildungsniveau in Afrika, oder gegen die russische usw. Korruptionskultur unternehmen, oder ob wir alles hinnehmen sollten, was in der Welt passiert und uns darauf beschränken, alle reinzulassen, die in ihren Heimatländern mit der Regierungsform, dem Lebensstandard oder den Wohlfahrtsleistungen nicht zufrieden sind, und unsere hoch entwickelte Zivilisation so richtig Multi-Kultig mit fossilen Existenzformen überlebter Gesellschaften durchrühren?
Ein wenig Selbstbewusstsein müssen wir schon entwickeln: nach außen gegen jene, die unser Wohlstandsniveau haben, aber ihre überholten Kulturformen nicht aufgeben wollen. Und nach innen gegen diejenigen, welche uns für die technisch-wissenschaftlich-wirtschaftliche Überlegenheit unserer Zivilisation Schuldgefühle aufschwatzen wollen - weil es einen Meinungsmarkt dafür gibt, und weil auch beim Denken das Kriechen allemal bequemer ist, als eine aufrechte Gangart.
- Nachtrag 13.01.2024 (noch zu Thomas Wagner): Sogar noch in seinem Artikel "Rechtsextremismus: Direkt gegen die Demokratie" ("Warum auch Rechtsextremisten und Rechtspopulisten mehr Bürgerbeteiligung wollen") in der ZEIT vom 08.12.2012 kommt Wagner auf das Buch von Pohl zurück.
[Interessant ist dazu am Rande, wie sich Meinungsmacher in Deutschland offenbar problemlos zwischen linksradikalen und Mainstream-Medien hin- und herbewegen können!]
- In einem namentlich nicht gezeichneten Artikel auf der Webseite des Frankfurter Gesellschaftsmagazins "Frankfurt-live.com" finden sich, im Anschluss an eine neutrale Inhaltsdarstellung des Buches, biographische Informationen auch über den Buchautor Pohl.
- Bild-haft kurz berichtet Martin S. Lambeck in Bild-T-Online vom 17.02.07:
"Ein Buch der Zukunft hat am Freitag Professor Manfred Pohl in Berlin vorgestellt. Der provokante Titel: 'Das Ende des Weißen Mannes'. Pohls These: Angesichts einer Flut von asiatischen und afrikanischen Wissenschaftlern und Wirtschaftskapitänen werden die 'weißen' Europäer und Amerikaner auf der Welt zur Minderheit. Lange Diskussionen über sein kluges Buch führte Pohl mit Altbundespräsident Roman Herzog, Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und dem früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD)."
(Aus Gründen, die für meine Lesern im Verlauf meiner unten folgenden Rezension oder besser: Text-Dekonstruktion hoffentlich unmittelbar evident werden werden, erschrecken mich in dieser Erwähnung sowohl das Etikett "kluges Buch" als auch die angeblich 'langen Diskussionen' von -wenn auch ehemaligen- Mitgliedern unserer Führungselite über Pohls Text.)
[Schön übrigens, dass man mittlerweile zu Bild-T-Online Artikeln auch verlinken kann; hier hatte ich dieses Feature noch vermisst und angemahnt. Man sieht: "Motzen: manchmal hilft's (?)"]
Patricia C. Borna referiert in der Frankfurter Neuen Presse vom 14.03.07 über eine Podiumsdiskussion, die vom frankfurter kultur komitee e. V. veranstaltet wurde.
Nur mühsam konnte ich bei der Lektüre eines Satz im Schlussabsatzes einen heftigen Hustenanfall unterdrücken:
" 'Wir werden aber von absolutem Mittelmaß regiert', so Pohl."
Auch insoweit vertraue ich darauf, dass meine Leserinnen und Leser die Gründe für mein Kurzzeit-Asthma im Laufe der weiteren Lektüre verstehen werden.
- In der WirtschaftsWoche vom 19.02.07 hat Klaus Methfessel Manfred Pohl interviewt. [Dazu am Rande: Dieses Interview, oder vielmehr ein dazu in der Druckausgabe veröffentlichtes Porträt von Pohl ist wiederum Gegenstand eines recht originellen Blog-Eintrages u. d. T. "Kunst und Macht".]
- Stefan May hat "Das Ende des Weißen Mannes" am 28.03.07 im Deutschlandradio besprochen. Daraus ebenfalls ein Zitaten-Auszug:
"Der Leser seines Buches muss allerdings bereit sein, radikal mit alten Gewohnheiten und bisher als unumstößlich Geltendem zu brechen [wirklich???], will er dem Autor auf seinem gedanklichen Weg folgen.
Der 63-jährige Manfred Pohl studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft, er ist Honorarprofessor in Frankfurt am Main und leitet das International Centre for Corporate Culture and History. Er ist Mitglied im Konvent für Deutschland."
Nachtrag 03.08.07:
Während der linke Flügel (Wagner, s. o.) flugs seine Etiketten auf unseren Pohl pappt, scheinen die Rechtsaußen aus dem Ende des Weißen Mannes nicht so recht schlau zu werden. Die "Junge Freiheit" berichtete bzw. reagierte (soweit ich entsprechende Hinweise im Internet finden konnte) wie folgt:
- Am 23.02.2007 referierte Matthias Bäkermann in einem nicht sehr langen Artikel u. d. T. "Die Erbschaft regeln. Gesellschaft: Der Kulturwissenschaftler Manfred Pohl prognostiziert ein baldiges Ende der Dominanz des europäischstämmigen Mannes" eher neutral über das Buch. (URL = http://www.jf-archiv.de/archiv07/getdata.asp?FILE=200709022317%2Ehtm&S1=%22manfred+pohl%22&S2=&S3= ; man muss sich aber wohl anmelden, um das Archiv der "Junge Freiheit" nutzen zu können).
- Am 2.3.07 erschien eine knappe Notiz, ebenfalls ohne erkennbare Tendenz, u. d. T. "Leidensfähigkeit und Leidenschaft fehlt" (hier extern zu der -ebenfalls rechts stehenden- Webseite der "Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft e. V. Hamburg" verlinkt).
- Michael Paulwitz hatte (aus rechtsäußerer Perspektive betrachtet) mehr Durchblick, wenn er Pohl in seinem Beitrag vom 23.03.2007 u. d. T. "Spengler für Neoliberale. Globalisierung: Manfred Pohl konstatiert das 'Ende des Weißen Mannes' und sorgt sich um die Weitergabe des Erbes" wie folgt kritisiert:
"Staatspolitische Überlegungen spielen in seinem Plädoyer für die Stärkung der Nationalstaaten keine Rolle; der Gedanke, daß dazu auch eine am Nationalinteresse orientierte Einwanderungspolitik gehören könnte, die dem "Weißen Mann" in seinen Kernländern überflüssige kulturelle Konflikte und soziale Probleme ersparen könnte, kommt bei ihm überhaupt nicht vor. Pohls neoliberale Version des Untergangs des Abendlandes hinterläßt daher einen faden Nachgeschmack. Deutschland ist eben doch nicht die Deutsche Bank, der es letztlich egal ist, woher ihre Mitarbeiter kommen, wenn sie nur die Qualifikationsanforderungen erfüllen und die Unternehmenskultur respektieren."
[Am Rande bemerkt: Den folgenden Absatz könnte man sich genau so gut in einer linken Rezension vorstellen: "Pohl betrachtet Staaten wie Unternehmen. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, wer Manfred Pohl ist: Geschäftsführer des Konvent für Deutschland und damit einflußreicher Strippenzieher in der von Arbeitgeberverbänden gesponserten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft; seinen Namen hat sich Pohl, der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft studiert hat, als Unternehmenshistoriker und insbesondere als Leiter des Historischen Instituts der Deutschen Bank erworben, deren Kulturaktivitäten er zuletzt koordinierte." Wie würde man diesen Sachverhalt auf Italienisch kommentieren? Am besten wohl mit: "Gli estremi si toccano"! Für die linken wie für die rechten Flügelspitzen unseres Bundesadlers ist halt die Würde des Staates unantastbar.]
- Letztendlich will man sich aber wohl doch nicht von Pohl lossagen. Die Ausgabe vom 13.07.2007 bringt ein Interview von Moritz Schwarz mit Manfred Pohl: " 'Das Ende des Weißen Mannes'. Der Untergang des Abendlandes kommt. Ab 2050 übernehmen in Europa die Einwanderer das Kommando." (Hier extern zugänglich.)
Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die "Junge Freiheit" ein recht rechtes Publikationsorgan ist, erscheint mir die Äußerung von Pohl:
"Wir müssen heute übertriebenen Patriotismus und Nationalismus vermeiden, statt national müssen wir menschheitlich denken, statt Krieg friedensstiftende Maßnahmen ergreifen, multikulturelle Bildungssysteme und Bildungsansprüche müssen zusammengeführt werden, das heißt Diversifizierung, Akzeptanz und Toleranz usw." [Hervorhebung von mir]
(Ebenfalls bemerkenswert ist die Frage des Interviewers:) "Im Klartext, eine Rückkehr des Kolonialismus?"
Pohl: "In gewisser Weise geschieht das schon, nur heute nicht mehr mit 'Schutztruppen', sondern mit Entwicklungsprojekten. Das Problem ist - das erleben wir auch in Europa -, daß es sehr schwierig ist, lokale Kulturen technisch auf westlichen Standard zu bringen, sozial und kulturell aber zu erhalten." [Hervorhebung von mir; ich stimme Pohl voll zu: vgl. auch meinen Eintrag "terreur des sommes"!]
[Noch interessanter ist jedoch ein Vergleich mit einem früheren Interview (25.11.2005) in der Jungen Freiheit, ebenfalls von Moritz Schwarz geführt, u. d. T. " 'Eine neue Welt entsteht.' Der Wirtschaftshistoriker Manfred Pohl über die Globalisierung als 'industrielle Revolution' des 21. Jahrhunderts". Hier entwickelt Pohl bereits einen großen Teil derjenigen Überlegungen, die er dann in seinem Buch extemporiert. Besonders bemerkenswert erscheint mir dabei, dass er im Interview der Seuchengefahr ein gravierendes Bedrohungspotential zuerkennt, während die Ressourcenverknappung dort noch nicht erwähnt wird. Im Buch hat sich, scheint mir, die Erwartung einer Rohstoffverknappung in den Vordergrund geschoben. Aus Zeitmangel kann ich leider die FAZ nicht lesen; ich könnte mir aber vorstellen, dass diese Zeitung eine wesentliche Informationsquelle (präziser wäre wohl "Weltbildquelle") für Prof. Pohl darstellt; insoweit wäre es interessant zu recherchieren, ob dort in dieser Zeit ein entsprechender Gewichtungs- bzw. Häufigkeitswechsel in der Berichterstattung feststellbar ist. Das könnte dann auch Rückschlüsse auf eine allmähliche Veränderung des öffentlichen Diskurses überhaupt zulassen.]
Nachtrag 22.05.2007:
Auf der Download-Seite des "Konvent für Deutschland" sind eine Reihe von Rezensionen als pdf-Dateien eingestellt; außer den obengenannten z. B. auch:
"Die Zukunft ist bunt" von Sergej LOCHTHOFEN aus der Zeitung "Thüringer Allgemeine";
"Ende des weißen Mannes - Parforceritt mit losem Zügel" von Martin Bialecki, dpa (dieser Beitrag aus: WZ newsline - Westdeutsche Zeitung);
„Der weiße Mann ist ein Auslaufmodell. Wissenschaftler will mit mehr direkter Demokratie und besserer Bildung dem Globalisierungsdruck standhalten“ schreibt Dieter Soika in freiepresse.de.
"Pohl sorgt sich um die Weißen" berichtete, unter "Menschen und Märkte" nur ganz kurz die FAZ (und nicht direkt über das Buch, sondern vielmehr über einen Vortrag Pohls über das Buch). Ansonsten scheint das Zentralorgan der bundesdeutschen Bourgeoisie das Buch zu be-schweigen. Woraus ein jeder diejenigen Rückschlüsse ziehen mag, welche er für zutreffend hält.
"Armer Mann. Wie der Historiker Manfred Pohl die Republik zu retten versucht" schreibt Matthias Arning in der Frankfurter Rundschau Online (aber anscheinend ist der Artikel nicht online).
Nachträge 17.02.08:
Die Börsen-Zeitung bringt in Ihrer Ausgabe vom 18.08.2007 (im Text steht, offenbar irrtümlich, 2008) eine kurze und eher kritische Rezension sowie im Anschluss daran ein kurzes Interview mit Prof. Dr. Pohl. Dieser begründet auch seine Titelwahl:
(Frage:) "Haben Sie ganz bewusst diesen provokanten Titel gewählt, an dem sich viele stoßen?"
(Pohl:) "Ich habe ganz bewusst diesen Titel gewählt, weil ich weiß, dass wir in einer Event-Gesellschaft leben. Sie müssen erst etwas Provokatives bringen, um wirklich Aufmerksamkeit zu erhalten. Wenn ich das Buch 'Die Kultur des weißen Mannes' genannt hätte, hätte kein Mensch hingehört. Man muss Emotionen wecken. Emotionen spielen eine enorme Rolle, auch in der Wirtschaft."
Dipl.-Soz.wiss. Alexander Häusler weiß, was er seiner Position als "Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Neonazismus der FH Düsseldorf" schuldig ist. In einer Rezension vom 05.02.2008 auf der Seite "socialnet" schreibt er u. a.:
"Was hier an Thesen vertreten wird, ist nicht nur in höchstem Maße verquer ausgedrückt, sondern auch inhaltlich durchzogen von biologistischen und kulturalistischen Klischees mit Anknüpfungen an einen populistischen Jargon, der politisch mehrheitlich Rechtsaußen zu verorten ist." Pohls Thesen wertet er auch als einen Hinweis auf den "Tatbestand ..., dass sich kulturalisierende Zuschreibungen und Interpretationen von Rechtsaußen hinein in das Machtzentrum politischer Eliten verschoben haben."
"Bedenklich an dem Inhalt dieses Werkes ist weniger dessen Niveau als vielmehr der biographische Entstehungskontext des Autors, der zugleich als Wortführer des neoliberalen Think-Tanks 'Konvent für Deutschland' auftritt. Dieser Hintergrund ermöglicht es, dass im neoliberalen Zeitungen wie der 'WirtschaftsWoche' (8/2007) Aussagen zu finden sind, die ihren Entstehungskontext in präfaschistischen Intellektuellenkreisen der Weimarer Zeit haben. Darin fragt der Redakteur den Autor Manfred Pohl nach der Gültigkeit der 'nun 100 Jahre alte(n) Prophezeiung Oswald Spenglers vom Untergang des Abendlandes'. Der Autor antwortet darauf wie folgt: 'Nicht, wenn es uns in den Kernländern Europas und in den USA gelingt, unsere Kultur hinüberzuretten, sodass die Menschen, die aus anderen Kulturen und mit anderen Religionen zu uns kommen, diese neue Identität an- und unsere Leitkultur übernehmen.' Derartige Thesen sind als rechter Kulturkampf in Reinform zu interpretieren - nur sind diese nicht in einer Rechtsaußen-Gazette zu finden, sondern vom Autor in wirtschaftsliberale Blätter transformiert worden: So werden die Themen der Rechten zu Themen der Mitte."
Es wäre sehr verkürzt wenn man behaupten wollte dass das, was Häusler da schreibt, einfach grob falsch wäre. Es ist indes kennzeichnend für die Qualität der deutschen politischen Debatte, wenn Häusler sich nicht so sehr am Niveau des Textes als an der organisatorischen Einbindung Pohls stört.
Ich selbst halte Pohl zwar auch für einen nützlichen HiWi von Kapitalinteressen, der aber mit diesem Buch versucht, endlich einmal eigene Gedanken zu entwickeln (die sicherlich den von ihm vertretenen Kreisen nicht sämtlich fremd sind, aber u. U., wie z. B. antifeministische Züge, den objektiven Kapitalinteressen sogar entgegen gesetzt). Diese Gedanken sind in der Tat in sich derart widersprüchlich ("verquer"), dass man sie nicht als Resultat von ernsthaften Debatten ansehen kann, sondern als gedankliche Wucherungen eines intellektuell eher einsamen Menschen, der in 'seinen eigenen Kreisen' nur als brauchbarer Organisator, nicht aber als relevanten politischen Denker, ernst genommen wird.
Henkel, Herzog, Clemens & Co. klopfen ihrem Kumpel vielleicht jovial auf die Schulter und stellen der Presse sein Buch vor; aber für so blöd sollte man sie denn doch nicht halten, dass sie die Mängel einer solchen Position und einer derartigen Darstellung nicht erkennen.
Eine Analyse, die nicht vom (Un-)Geist der Nazi-Zeit überwuchert ist, kann sich darauf konzentrieren, die intrinsischen Mängel von Pohls Buch in den Vordergrund ihrer Kritik zu stellen.
Eine derartige Analyse wird aber auch nicht übersehen, dass unsere (deutsche, europäische, westliche) Gesellschaft oder Kultur in einem dynamischen Prozess stehen, der auch reale Bedrohungen enthält, die Pohl anspricht.
Wer das nicht erkennt (weil er z. B. die Augen zu sehr auf die Vergangenheit statt auf die Zukunft richtet), läuft Gefahr, uns mit Kampfbegriffen wie "rassistisch" und "kulturalistisch" im Ergebnis wehrlos schon gegenüber der bloßen Erkenntnis derartiger Bedrohungen zu machen.
Darauf hinzuweisen und dem Widerstand entgegen zu setzen, erscheint mir nicht nur legitim, sondern auch notwendig.
Dass übrigens die 'rechte Rechte' keineswegs angetan ist von Pohls Thesen, zeigt ein Beitrag u. d. T. "Das Ende des Weißen Mannes" im "Deutschland-Brief" vom Aug./Sept. 2007 der Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft (SWG) Hamburg. Dort wirft man Pohl vor, dass er sich einfach mit den kommenden Machtverhältnissen akkommodieren, abdanken, dem Konflikt ausweichen wolle - was die SWG natürlich nicht will: "Der Gang der Geschichte ist nicht determiniert, sondern immer ein Wechselspiel zwischen Aktion und Reaktion. Das übersieht Manfred Pohl."
Ganz im Gegensatz zu Häuslers Darstellung zeigt auch ein Blick in die (sehr kurze) Besprechung des Buches in der rechten Theoriezeitschrift "Nation & Europa" (vom ?), dass man dort Pohl keineswegs als Verbündeten betrachtet, sondern seine Ansichten (insoweit vergleichbar der linken Kritik) aus den Interessen des Finanzkapitals ableiten zu können glaubt:
"Im übrigen findet Pohl nichts Schlimmes am sich abzeichnenden Austausch der Bevölkerung. Wörtlich: 'Wenn wir in etwa fünfzig Jahren einfach nur braun statt weiß wären, wäre das kein Problem, denn wir wären ja weiterhin Deutsche.'
Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Mit Pohl, der bis 2004 das Historische Institut und bis 2005 das Institute for Corporate Culture Affairs (ICCA) der Deutschen Bank leitete, meldet sich in der Zuwanderungsdebatte ein Vertreter jener internationalen Banken-Oligarchie zu Wort, die ethnisch-kulturelle Aspekte generell für nebensächlich hält. Wichtig ist diesen Kreisen nur der 'Markt' - ob er aus weißen, farbigen oder wie auch immer zusammengewürfelten Bevölkerungssplittern besteht, ist zweitrangig."
Eine längere Diskussion, weniger des Buches (wenngleich durch dieses angestoßen) als vielmehr der von Pohl angesprochenen Situation, findet sich in einem Forum zur Webseite "Zettels Zimmer".
Nachtrag 13.01.2024
Das Portal "Zeitenschrift" kommt mir irgendwie seltsam vor.
Aber jedenfalls finden sich dort in einem Artikel unter der Überschrift "Islamisierung: Droht dem Abendland der Untergang?" (Heft 91, 4. Quartal 2017) auch Bezugnahmen auf das Buch von Pohl.
Für Hinweise auf evtl. weitere im Internet erreichbare Rezensionen bin ich dankbar.
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Nicht die gängige Informationskost - neben seinem bei einem Mainstream-Mann erstaunlichen Ressourcenpessimismus - ist es auch, wenn Prof. Dr. Pohl uns knallhart vor den Latz knallt, was ich bereits in meinem "Rentenreich" dezent angedeutet hatte ("Auch bei uns ist man bezüglich ausländischer Investitionen ja gelegentlich recht heikel. Sogar die stammesverwandten Österreicher haben Gerhard Schröders Salz-Gitter erfolglos bestürmt. Dass die Langnasen in China beliebter sind als die Österreicher in Deutschland, ist eher unwahrscheinlich."), dass wir Weißen nämlich gar nicht so beliebt sind in der Welt:
"Schließlich werden sich alle jene Völker, die der Weiße Mann über Jahrhunderte ausbeutete, gegen ihn erheben. Alle die Verbrechen, die der Weiße Mann in den Kolonien vollbrachte, insbesondere die Ausbeutung durch Sklaverei in allen Teilen der Welt bis in die heutige Zeit, sind in den unterdrückten Ländern noch präsent."
['n bisschen was Gutes haben wir hier und da zwar auch getan, aber das wird - ähnlich wie von unseren Brüdern und Schwestern in den Neuen Bundesländern auch - sehr schnell vergessen. Dankbarkeit ist keine relevante Kategorie in den internationalen Beziehungen.]
Eine Bestätigung für die Richtigkeit von Pohls Einschätzung der Unbeliebtheit der Weißen bei den Farbigen finde ich übrigens zufällig bei der Google-Rezensionssuche unter seinem Buchtitel. Bartholomäus Grill berichtet in "DIE ZEIT" vom 31.12.2004 Nr.1 unter eben dieser Überschrift "Das Ende des Weißen Mannes":
"Überall in Afrika wächst der Hass gegen die Nachfahren der Kolonialherren. Sie haben dort kaum noch eine Zukunft."]
[Die Frage der Rentenfinanzierung durch Kapitalanlage im Ausland war gerade jetzt Gegenstand ausführlicher Diskussionen in dem Blog "Herdentrieb", der irgendwie mit der Zschr. "DIE ZEIT" verbunden ist. Unter der Überschrift "Renten - lasst die anderen für uns arbeiten!" empfahl dort Dieter Wermuth diese vermeintlich clevere Strategie, die einige Diskussionsteilnehmer - darunter mich - deutlich weniger überzeugte.]
Im Fortgang schreibt Pohl einiges über Leidenschaft. Die, wie auch Leidensfähigkeit, braucht eine Kultur ganz gewiss. Nur leider bringt er für mein Ohr die Leidenschaft - in diesem Zusammenhang kann es ja zunächst einmal nur um die Leidenschaft zum Denken gehen - nicht rüber. Liegt das vielleicht daran, dass gleichzeitig viel von "Frieden" und "Glück" die Rede ist?
Ohne diesen Begriff zu benutzen, kündigt er an (und fordert uns wohl gleichzeitig auf), vernetzt zu denken. Auch das war für mich nicht erst seit seit Frederic Vesters "Neuland des Denkens" eine vertraute Vorstellung; auch dazu habe ich mich im Zusammenhang mit dem Thema "Rentenfinanzierung" auf meiner Webseite "Rentenreich" schon früher geäußert ("Exkurs III: Denken, wie die Webervögel Nester bauen?").
Am Ende der Einleitung (S. 22/23) folgt freilich ein Absatzteil, der meinem hochgespannten Erwartungsballon 'ne ganze Menge Luft ablässt:
Von der Entschlüsselung der Gene und der Gehirnfunktionen ist dort zunächst die Rede, und von der Schaffung von Systemen und Strukturen, welche den Menschen ein friedliches Zusammenleben ermöglichen sollen: alles richtig und nichts dagegen einzuwenden.
"Das ist die Zentrale Zukunftsaufgabe des Weißen Mannes, sein Beitrag zur Gestaltung der globalisierten Welt" - okay, meinetwegen. (Aber gewiss könnten uns die Chinesen und Japaner dabei ein wenig helfen. Die sind ja nicht blöd - wie sie uns derzeit gerade zeigen. Und, was die Friedfertigkeit angeht, war die chinesische Zivilisation jedenfalls in der Vergangenheit und nach außen hin, von ein paar Randgebieten -Tibet usw.- abgesehen, sehr viel friedlicher als wir.)
Egal; meine Kritik gilt den folgenden beiden Sätzen (S. 23):
"Seine Kultur zu erhalten und zu stärken und weiterzugeben, ohne andere Kulturen zu vernichten oder geringer zu schätzen. Die Vielfalt der Kulturen und Religionen ist ein ebenso wichtiges Gut der Menschheit wie Demokratie und freier Markt."
Was mich daran stört? Das ist mir einfach zu glatt, das sind unhinterfragte Kanzelsprüche, auch als Kanzlersprüche für Festreden geeignet.
Was ist denn eigentlich eine Kultur, bzw. was kann man im vorliegenden Diskurszusammenhang sinnvoller Weise als Kultur bezeichnen, oder wenigstens: was versteht Pohl hier unter "Kultur"?
Hat sich die Kultur der Polynesier auf Hawaii erhalten, weil man dort noch heute zur Begrüßung eine Blumengirlande um den Hals gehängt bekommt?
Was ist mit den Bakschisch-Kulturen, mit der chinesischen "Guanxi-Kultur": wollen wir deren Fortexistenz dulden oder gar fördern? [Beiläufig: man könnte sogar sagen, dass die chinesische Regierung, indem sie diese uralten Gepflogenheiten mit Strafen bis hin zur Exekution massiv bekämpft, ihr Land zu verwestlichen versucht.] Eliminieren wir solche unschönen Aspekte anderer Kulturkreise ganz einfach definitorisch, indem wir sie zur Nicht-Kultur oder zur Unkultur erklären?
Und auch mit der Vielfalt der Religionen ist das so eine Sache. Wir, wie vermutlich auch die Ostasiaten, können damit gut leben. Aber Menschen, die ihren Glauben wirklich ernst nehmen, die durch und durch religiös (im voraufklärerischen Sinne) sind: kann man von denen erwarten, dass sie diese auch bei uns historisch sehr junge Perspektive teilen?
Wir haben in unserer Kultur die Religion in einem gewissen Sinne überwunden - zerstört. Und werden sie noch mehr zerstören, je mehr naturwissenschaftliche Erkenntnisse wir über das Funktionieren des Gehirns gewinnen. Die Verbreitung dieser Erkenntnisse und überhaupt der Naturwissenschaften verbreitet zwangsläufig auch den dafür zwingend erforderlichen "methodischen Atheismus" - und bedroht damit unvermeidlich die Selbstverständlichkeiten tiefreligiöser (oder soll ich sagen: primitivreligiöser?) Kulturen.
Mit anderen Worten: In Zeiten nach Spengler und Huntington einfach das Motto "Leben und Leben lassen" als Grundlage der interkulturellen Beziehungen zu postulieren, das ist erschreckend dünn. Egal, was wir wollen: unsere Kultur ist ihrem Wesen nach expansiv, uns (mir jedenfalls, aber ebenso Pohl) erscheint sie als historischer Höhepunkt und derzeitige Endstufe der menschlichen Entwicklung. Es gibt keine Alternative zu Wissenschaft und Technik und zu ökonomischer Rationalität, wenn man 'das Los der Armen' auch in der Dritten Welt verbessern möchte. Auch ein 'Leben lassen', z. B. von Jäger-und-Sammler-Kulturen im Amazonasbecken, ist ausgeschlossen, sobald wir dort nach Bodenschätzen jagen wollen (oder bald wohl müssen). (Und ebenso werden natürlich auch die Rohstoffe in den Naturschutzreservaten, in den USA wie anderswo, irgendwann ausgebuddelt werden.)
Ein wenig Folklore hier und da, den Bayern ihre Lederhosen und den Indianerhäuptlingen ihren Federschmuck, na klar, da haben wir nichts dagegen.
Auch der eine oder andere substantiellere Aspekt anderer Kulturen mag fortleben oder sogar von "uns" übernommen werden (vergessen wir nicht, dass es unsere stolze Porsche-Firma heute wahrscheinlich nicht mehr gäbe, wenn nicht Wendelin Wiedeking das Toyota-Produktionssystem von den Japanern 'abgekupfert' hätte).
Aber ein dauerhaftes Fortbestehen konkurrierender "Kulturen" im, sagen wir mal, Spenglerschen Sinne des Wortes halte ich in einer globalisierten Welt (zumal dann, wenn sie befriedet sein soll) für ausgeschlossen. Wenn wir nicht einmal in diesem Punkt ehrlich sind (gegen uns selbst und gegenüber den anderen), oder zumindest naive Vorstellungen tief schürfend hinterfragen: was werden die anderen (denen das Problem sicherlich nicht entgeht) von unseren sonstigen Worten und Taten halten?
Was ist Kultur? Eigentlich scheint das eine zentrale Frage zu sein, wenn man ein Buch über die westliche Kultur und ihr Verhältnis zu anderen Kulturen auf der Welt schreibt.
"Blöde Frage" wird sich indes Manfred Pohl gesagt haben, und stellt sie erst gar nicht.
Recht hat er, bedingt: auch ich mag diese Schulbankperspektive nicht und meine, dass unsere Gesellschaft endlich einmal einen Quantensprung auch in der Art ihrer Fragestellungen machen sollte.
Denn ich halte es keineswegs für sinnlos, den Begriff Kultur zu hinterfragen.
Nicht nach dem vermeintlichen 'Wesen' des Kulturbegriffs sollten wir allerdings gründeln, sondern versuchen, einen soliden Grund in unsere Kommunikationsstruktur bringen.
Das bedeutet: Nicht den Begriff 'Kultur' als Begriff zu erforschen suchen, sondern sich Gedanken darüber zu machen, welche(n) Sachverhalt(e) wir für unsere jeweilige analytische Zielsetzung sinnvoll unter diesen Begriff subsumieren sollten.
Vielfältig, wie der Begriff verwendet wurde und wird, ist dennoch zumindest so viel klar, dass er in einem Text der vorliegenden Art nicht die schönen Künste meint (bzw. wo er das tut, wird es aus dem Zusammenhang erkennbar). Es geht (auch wenn Pohl Oswald Spengler nicht erwähnt) um die 'westliche' oder auch 'abendländische' Kultur des "Weißen Mannes". Darüber, ob es diese Kultur überhaupt gibt, was das ggf. "ist" (oder, wie ich lieber formulieren würde, was man zweckmäßiger Weise darunter verstehen sollte) kann man lange streiten; ebenso über die geographische Abgrenzung (z. B.: gehörte früher / gehört jetzt Griechenland dazu? Südamerika?).
Immerhin kann ein Autor hoffen, dass seine Leserschaft insoweit doch wenigstens einen Kern von halbwegs identischen Vorstellungen hat (Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Skandinavien, Polen usw. gehören sicherlich für uns alle dazu) und dass er seine Ausführungen nicht von vornherein mit einer Begriffsklärung beginnen muss.
Irgendwann kommt man aber nicht mehr darum herum, sich für eine disziplinierte Begriffswahl zu entscheiden und die Begriffsverwendung im Text auf ihre Konsistenz, sowie den Begriff überhaupt auf seinen (intendierten) analytischen Gehalt zu überprüfen.
Pohls Kulturbegriff scheint mir, leider muss ich das in aller Härte sagen, auf dem Kraut- und Rüben-Acker gewachsen zu sein.
"Eine Hochkultur überschreitet irgendwann ihren Zenit ... . Andere Kulturen erwachen ... . Diesen Prozess erleben wir gerade." (S. 25): okay, das ist, ob right or wrong kann hier offen bleiben, doch wenigstens noch ein (mir jedenfalls) vertrautes Spenglersches Denken.
Auf S. 33 heißt es: "Aber alle Kulturen sind untergegangen ... ".
"Erwachen" also die Toten? Und wieso eigentlich "alle", zumal er gerade noch "Mesopotamien, China oder Ägypten" als Kulturen bezeichnet hatte (die "klein begonnen und dann eine gesteigerte Entwicklung genommen" haben)?
Dass es in Mesopotamien (Irak) heute keine "Kultur" in einem Spenglerschen (oder Toynbeschen oder Huntingtonschen) Sinne mehr gibt, ist zwar offenkundig; das Gleiche gilt für Ägypten. Aber was ist mit China? Existiert dort eine (Hoch-)Kultur, die jetzt wieder erwacht, oder erleben wir dort gerade die Geburt einer neuen Kultur oder was? Welche Vorstellung hat der Autor, wenn er hier von "Kultur" spricht? Wundert er sich gar nicht darüber, dass es ausgerechnet die (nach Spengler) ausgebrannten alten Kulturvölker (Ostasiens und Indiens) sind, die "Fellachen", welche nun mit Verve unsere zivilisatorischen Errungenschaften übernehmen (während sich Völker ohne einen hochkulturellen Hintergrund - in Afrika - damit schwer tun)?
Hatte Spengler (so meine Meinung) Unrecht, wenn er das Stadium der 'Zivilisation' in unserer Kultur mit denjenigen Stadien gleich setzte, die er (dort vielleicht mit Recht) in den vorangegangenen Hochkulturen als zivilisatorische Endstadien ansah?
Erleben wir nicht mit unserer von Wissenschaft und Technik durchdrungenen und die ganze Welt durchdringenden "Zivilisation" etwas quantitativ Neues, das in keiner Weise mit technischen Spielereien im römischen Alexandria (Spengler bauscht für seine Beweisführung den Umstand auf, dass schon damals das Prinzip der Dampfmaschine bekannt gewesen sei) vergleichbar ist? Und, wenn das zutrifft: leben wir dann immer noch in einer Welt konkurrierender Kulturen, oder haben wir nicht das Stadium der Kultur, auch der Hochkultur 'alter Art' (im typologisch-deskriptiven, nicht im wertenden Sinne) bereits hinter uns gelassen? Macht es da überhaupt noch Sinn, von einer echten Konkurrenz verschiedener "Kulturen" auszugehen, oder wird nicht, was anderswo an hochkulturellen Relikten noch vorhanden ist, durch unsere völlig neuartige Form von "Kultur" von innen her ausgehöhlt und muss sich, um überhaupt konkurrenzfähig zu bleiben, diese kulturgenetische Permutation gefallen lassen und sie sogar selbst aktiv betreiben? Sollten wir vielleicht sogar den Begriff "Kultur" in diesem Zusammenhang für das, was jetzt ist, durch einen anderen Begriff ersetzen um auf diese Weise die historische Vergleichbarkeit zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen?
Könnte man (naiv-anthropomorphisierend, wie es unsere Sprachstruktur leider vorgibt) sagen, dass die Evolution verschiedene Hochkulturen konstruiert hat um auszuprobieren, mit welcher sie den nächsten Quantensprung zur Post-Kultur schafft?
Im Fortgang derartiger Überlegungen müsste man sich dann freilich entscheiden, ob man als treibende Kraft ein besonders geeignetes kulturelles Betriebssystem oder Kulturgene postuliert (nach Art der Spenglerschen "faustischen Kulturseele"), oder ob wir lediglich Dank einer besseren Proteinversorgung den anderen überlegen wurden, oder durch die Anpflanzung von Kartoffeln die Population verdichten konnten, oder durch die staatliche Organisation in konkurrierende Entitäten größeren Wert auf die Waffenentwicklung legen mussten als die Chinesen usw.
Erklärungsmöglichkeiten gibt es wie Sand am Meer - wenn man überhaupt nach Erklärungen sucht und sich nicht darauf beschränkt, historische Dönekes zu vertellen.
Welche Zählung verschiedener "Kulturen", in der Vergangenheit und/oder Gegenwart, legt Pohl seinen Überlegungen überhaupt zu Grunde: diejenige von Oswald Spengler im "Untergang des Abendlandes", oder die von Arnold Joseph Toynbee in "A Study of History" vorgeschlagene?
[Dieses 12-bändige Werk habe ich nicht gelesen; eine komprimierte Version liegt irgendwo hinten in meinem Bücherschrank. Einen Überblick gibt die Wikipedia, aus dem man jedenfalls erfährt, dass Toynbee sehr viel mehr Hochkulturen - teils auch 'vorzeitig' gescheiterte - annimmt als Spengler. Allen tiefer Interessierten sei, wenn sie viel Zeit haben, dieser Blog eines gewissen David Derrick empfohlen ("This blog is about Letting air into the longest book in the English language, and some of its companions, via extracts.").
Franz Martin Wimmer hat einen Aufsatz "Geschichtsphilosophie 20. Jahrhundert.
Morphologische Theorien über Weltgeschichte" online gestellt, in welchem er u. a. kurz aber, soweit ich es beurteilen kann, treffsicher das Wesentliche erfassend, die Geschichtsauffassung von Arnold Toynbee wiedergibt.
(Im übrigen fällt mir auf, dass über Oswald Spengler anscheinend weitaus mehr Webseiten, besonders auch in englischer Sprache, im Internet stehen als über Toynbee. Liegt das an einer - sprachlich und/oder thematisch bedingten - größeren Faszination des "Untergangs", oder sind auch meinen Mitmenschen zwölf Bände zu viel?)]
Auf S. 32 zählt Pohl einige Kulturen auf: "Babylonier, Assyrer, Sumerer, Hethiter", wobei ins Auge sticht, dass er oben von "Mesopotamien" gesprochen hatte, diesen Begriff hier aber in drei (die Hethiter siedelten bekanntlich in Anatolien) Kulturen auflöst. Oder will er lediglich sagen, dass eine mehr oder weniger kontinuierliche mesopotamische Kultur nacheinander drei verschiedene Trägervölker hatte? Nichts Genaues erfährt man bei ihm nicht.
S. 33 verblüfft uns dann total: Dass sich Inka und Azteken als Hochkulturen entfaltet haben, ist sicherlich zutreffend. Dass sich aber in China eine Hochkultur unter Kaiser Wu-ti (ca. 100 v. Chr., also 300 Jahre nach Konfuzius!) und dann (eine weitere???) in der Ming-Dynastie (14. - 17. Jh.) entwickelt haben soll, macht um so weniger Sinn, als er zusätzlich auf die Erfindung (O-Ton Pohl: "entdeckt") des Schwarzpulvers im China um 1000 hinweist. Diese hohe kulturelle Leistung lag außerhalb der Wu-Ti- und Ming-Hochkultur-Zeiten Chinas, so dass man doch wohl von einer fortdauernden chinesischen Hochkultur - mit gewissen Blütezeiten - ausgehen darf oder muss?
Auch hier (S. 33) wieder behauptet Pohl, ausgerechnet in unmittelbarem Anschluss an die Passage über China: "Aber diese Kulturen gingen unter ... ."
Untergegangen? Nein, sagt er im folgenden Teilsatz, die chinesische Kultur (Ming-Kultur oder welche?) ist gar nicht untergegangen: sie "stagnierte" lediglich. Untergehen, stagnieren: alles Hekuba für Pohl?
Und aus welchem Grund stagnierte China? David Landes hat sich darüber in "Wohlstand und Armut der Nationen" anscheinend tief schürfende Gedanken gemacht.
Pohl kann's kürzer: "wahrscheinlich infolge seiner [Chinas] Abgeschlossenheit von der antiken Welt" stagnierte das Land nach seiner Meinung. Obwohl das Land doch im Hohen Mittelalter technologisch noch auf gleicher Höhe mit Europa oder gar überlegen war. Und was hätte die griechisch-römische Antike China geben können?
In welcher Weise hätte außerdem das China um 1600 (Ming-Zeit = Hochkultur lt. Pohl!) Verbindung zu einer Antike aufnehmen oder halten können, die schon lange untergegangen war?. Wenn die Antike China kulturell überhaupt hätte befruchten können (oder, im Sinne eines gegenseitigen Austausches, seinerzeit vielleicht sogar befruchtet hat), dann sicherlich nur gleichzeitig. Alternativ müsste man die Möglichkeit der "Renaissance" einer völlig wesensfremden Kultur in China postulieren: eine äußerst kühne Vorstellung.
In der westlichen Kultur war die Antike nach der Darstellung Pohls nicht, wie es wohl gängige Meinung ist, irgendwann (oder auch mehrfach: karolingische, ottonische usw. Renaissancen) wieder aufgelebt. Vielmehr behauptet er eine "Kontinuität, die eindeutig in der Fortentwicklung und Fortschreibung der antiken Kultur lag" (S. 33). "Das Christentum hatte bereits im dritten Jahrhundert die antike Kultur für sich reklamiert und arbeitete auf dieser Basis stetig [sic!] weiter". [Hervorhebungen von mir]
Die 'dunklen' Jahrhunderte, die kulturelle Vermittlung zwischen Antike und Abendland durch die Araber - alles Hirngespinste?
[Tatsächlich streiten die Historiker darüber, ob das Römische Reich 'untergegangen' ist, oder (zu was auch immer) 'transformiert' wurde. Vgl. dazu in der Wikipedia, Stichwort "Untergang des Römischen Reiches" im Kapitel "Neuere Forschungsmeinung": "Heute wird die Spätantike, in deren Zeitraum (etwa 300 bis 600) der Fall Roms fiel, differenzierter gedeutet als beispielsweise noch von Otto Seeck. Die Dekadenztheorie wird als weitgehend obsolet betrachtet. Obwohl vor allem ab etwa 550 ein Rückgang der Bildung konstatiert werden kann, ist es wohl richtiger, statt von Verfall von Transformation zu sprechen – auch wenn diese seit etwa 1980 dominierende Sichtweise in letzter Zeit wieder von einigen Gelehrten (z. B. Bryan Ward-Perkins) angegriffen worden ist, die ausgehend vom archäologischen Befund nun doch wieder von einem Niedergang sprechen wollen, der im 5. Jahrhundert Westrom und im frühen 7. Jahrhundert Ostrom betroffen habe." Oder im englischsprachigen Pendant: "Many scholars maintain that rather than a 'fall', the changes can more accurately be described as a complex transformation." Ich halte das für spitzfindige Spielereien. Fakt ist, dass die Errungenschaften der römischen Zivilisation - Bäder, Baukunst, Theater, Kunst, Militärwesen, Recht, Schifffahrt, Straßenbau, Technologie usw. - ziemlich plötzlich nicht mehr da waren bzw. auf ein niedriges Niveau abgesunken sind. Beispielsweise können sich die Bauwerke im Reich Karls des Großen in keiner Weise mit den Basiliken, Befestigungsbauten, Tempeln, Theatern usw. der Römer messen. Es gab auch keine literarische und/oder geisteswissenschaftliche Kultur wie zu Zeiten von Cicero, Horaz, Livius, Tacitus usw. Selbst wenn man unterstellt, dass sich das Feudalwesen aus dem römischen Kolonat entwickelt habe, und die unbestreitbare und für unsere kulturelle Entwicklung zweifellos ungemein wichtige Übernahme der christlichen Religion aus der Konkursmasse der antiken Kultur berücksichtigt, halte ich es für irreführend, von einer kulturellen Kontinuität zu sprechen.
[Vgl. zur Kontinuitätsdebatte auch den (in meiner Einschätzung wie auch nach der "offiziellen" Wikipedia-Klassifikation) exzellenten Artikel "Spätantike".] Die gab es in Byzanz, jedenfalls bis 1453, vermutlich auch über die verschiedenen Reiche hinweg im alten Mesopotamien und später im Übergang vom persischen Sassanidenreich zum arabischen Kalifat (dazu z. B. in dem Wikipedia-Eintrag "Blütezeit des Islam": "Die sog. arabische Kulturblüte bedeutet in Wahrheit nichts wirklich Neues, sondern die Zusammenfassung der kulturellen Leistungen der Völker des vorderen Orients unter islamischem Vorzeichen. Bei den meisten Wissenschaftlern, Künstlern dieser Epoche handelte es sich nicht um Araber dem Blute nach, sondern um zum Islam konvertierte und arabisierte Griechen, Syrer, Perser, Juden etc. bzw. um Nachkommen solcher Personen. Zur Zeit der arabischen Expansion befanden sich die eigentlichen Araber auf einem im Vergleich zum nichtislamischen Orient, insbesondere dem oströmischen Reich niedrigen Kulturniveau." Ausführlicher ein Buchauszug "The Golden Age of Islam is a Myth", "adapted by Robert Locke from Dr. Serge Trifkovic."]
Zurück zu Pohl: der konstatiert zutreffend (S. 29), dass "die Entwicklung gerade auf technischem Gebiet ... doch äußerst langsam voran" ging, und wundert sich (begründet) darüber, dass sich "im Gegensatz hierzu ... das geistige wissenschaftliche Denken [ein misslungener Begriff, der die Frage provoziert, ob auch ein 'ungeistiges wissenschaftliches Denken' denkbar ist. Warum sagt er nicht z. B. "das im weitesten Sinne geisteswissenschaftliche Denken"?] ... vor allem bei den Griechen und Römern, zur Hochblüte" entwickelte. Ebenfalls berechtigt fragt er: "Hier stellt sich nun eine erste entscheidende Frage: Warum dauerte es bis ins 15. Jahrhundert n. Chr. von Solon, Aristoteles, ... Cicero, ..., also mehr als 2000 Jahre [von Solon an gerechnet; von Cicero "nur" noch ca. 1600 Jahre], bis eine erste, wirklich weltverändernde, technische Erfindung gemacht wurde ..."? [das Fragezeichen, das mir nach dem einleitenden "warum" logisch zwingend erscheint, fehlt bei Pohl, weil er mitten im Satz von der Frage zur Beschreibung wechselt: "... und andere drei Jahrhunderte später folgten ..."]. Im Leser erweckt das natürlich die Erwartung, von Pohl nunmehr Erklärungen für diese in der Tat überraschenden Sachverhalte zu erhalten, zumindest in Form einer Arbeitshypothese. Tatsächlich jedoch lässt Pohl seine vorangegangenen Gedankengänge im Sande verlaufen und schwenkt um (S. 30) auf die völlig anders geartete Frage, ob "die Evolutionsgeschichte den Weißen Mann in irgendeiner Form begünstigt" hat. Nicht alle Leser aber lassen sich gern mit zusammenhanglosen Bruchstücken abfüttern.
[Meine eigene Arbeitshypothese für das Erfordernis eines 'Vorlaufs' der Geisteswissenschaften gegenüber der Naturwissenschaften und Technik lautet: die Geisteswissenschaften mussten zunächst gewissermaßen ein 'kulturelles Betriebssystem' schaffen, das dann mit der 'Software' der Naturwissenschaften die Daten der Außenwelt adäquat verarbeiten konnte. Diese Idee verdanke ich der -angefangenen- Lektüre des Buches "Die italienische Renaissance: Versuch und. Charakterisierung eines Kulturtyps" des russischen Historikers Leonid Batkin, der (wenn ich ihn recht verstanden habe) die historische Funktion des Renaissance-Humanismus in dieser Weise deutet (wenn auch ohne explizite Verwendung der Begriffe "Betriebssystem" und "Software").]
Man könnte darüber nachdenken, ob man den Kulturkern mit den Mitteln der Systemtheorie knacken kann, oder indem man Kulturen biologisch als Meta-Organismen begreift (das hatte zwar schon Spengler versucht; jedoch könnte es angesichts der Fortentwicklung der Biologie durch die Genforschung heute noch bzw. wieder fruchtbar sein), oder ob Informationstheorie und Computer-Analogien erhellend sind. Fragen, denken, drängen und ringen muss man freilich, wieder und wieder wird man enttäuscht in tauben Gängen schürfen, sich in Sackgassen des Denkens verrennen und gegen Mauern laufen, die man für Türen gehalten hatte. Viel Enttäuschung nimmt in Kauf, wer diesen Weg einschlägt, und irgendwann vielleicht erleben muss, dass ein anderer das Ziel erreicht, vor dem man selbst keuchend zusammen gebrochen ist. Kämpfen müssen die Neuronen, statt neuronale Kampftransparente überm Stirntor zu entrollen! Aber ach, Spengler hatte ja sowas von Recht; das Abendland, zumindest der europäische Teil davon, und ganz speziell der Nachtmützen-Michel in der Mitte, ist müde geworden. Sind wir wirklich nur noch todmüde Fellachen? Oder "reißt" es unsere Zivilisation noch einmal: wird sie definitiv die Globalzivilisation?
Zurück zu Pohl: der konstatiert zutreffend (S. 29), dass "die Entwicklung gerade auf technischem Gebiet ... doch äußerst langsam voran" ging, und wundert sich (begründet) darüber, dass sich "im Gegensatz hierzu ... das geistige wissenschaftliche Denken [ein misslungener Begriff, der die Frage provoziert, ob auch ein 'ungeistiges wissenschaftliches Denken' denkbar ist. Warum sagt er nicht z. B. "das im weitesten Sinne geisteswissenschaftliche Denken"?] ... vor allem bei den Griechen und Römern, zur Hochblüte" entwickelte. Ebenfalls berechtigt fragt er: "Hier stellt sich nun eine erste entscheidende Frage: Warum dauerte es bis ins 15. Jahrhundert n. Chr. von Solon, Aristoteles, ... Cicero, ..., also mehr als 2000 Jahre [von Solon an gerechnet; von Cicero "nur" noch ca. 1600 Jahre], bis eine erste, wirklich weltverändernde, technische Erfindung gemacht wurde ..."? [das Fragezeichen, das mir nach dem einleitenden "warum" logisch zwingend erscheint, fehlt bei Pohl, weil er mitten im Satz von der Frage zur Beschreibung wechselt: "... und andere drei Jahrhunderte später folgten ..."]. Im Leser erweckt das natürlich die Erwartung, von Pohl nunmehr Erklärungen für diese in der Tat überraschenden Sachverhalte zu erhalten, zumindest in Form einer Arbeitshypothese. Tatsächlich jedoch lässt Pohl seine vorangegangenen Gedankengänge im Sande verlaufen und schwenkt um (S. 30) auf die völlig anders geartete Frage, ob "die Evolutionsgeschichte den Weißen Mann in irgendeiner Form begünstigt" hat. Nicht alle Leser aber lassen sich gern mit zusammenhanglosen Bruchstücken abfüttern.
[Meine eigene Arbeitshypothese für das Erfordernis eines 'Vorlaufs' der Geisteswissenschaften gegenüber der Naturwissenschaften und Technik lautet: die Geisteswissenschaften mussten zunächst gewissermaßen ein 'kulturelles Betriebssystem' schaffen, das dann mit der 'Software' der Naturwissenschaften die Daten der Außenwelt adäquat verarbeiten konnte. Diese Idee verdanke ich der -angefangenen- Lektüre des Buches "Die italienische Renaissance: Versuch und. Charakterisierung eines Kulturtyps" des russischen Historikers Leonid Batkin, der (wenn ich ihn recht verstanden habe) die historische Funktion des Renaissance-Humanismus in dieser Weise deutet (wenn auch ohne explizite Verwendung der Begriffe "Betriebssystem" und "Software").]
Man könnte darüber nachdenken, ob man den Kulturkern mit den Mitteln der Systemtheorie knacken kann, oder indem man Kulturen biologisch als Meta-Organismen begreift (das hatte zwar schon Spengler versucht; jedoch könnte es angesichts der Fortentwicklung der Biologie durch die Genforschung heute noch bzw. wieder fruchtbar sein), oder ob Informationstheorie und Computer-Analogien erhellend sind. Fragen, denken, drängen und ringen muss man freilich, wieder und wieder wird man enttäuscht in tauben Gängen schürfen, sich in Sackgassen des Denkens verrennen und gegen Mauern laufen, die man für Türen gehalten hatte. Viel Enttäuschung nimmt in Kauf, wer diesen Weg einschlägt, und irgendwann vielleicht erleben muss, dass ein anderer das Ziel erreicht, vor dem man selbst keuchend zusammen gebrochen ist. Kämpfen müssen die Neuronen, statt neuronale Kampftransparente überm Stirntor zu entrollen! Aber ach, Spengler hatte ja sowas von Recht; das Abendland, zumindest der europäische Teil davon, und ganz speziell der Nachtmützen-Michel in der Mitte, ist müde geworden. Sind wir wirklich nur noch todmüde Fellachen? Oder "reißt" es unsere Zivilisation noch einmal: wird sie definitiv die Globalzivilisation?
Hierzu befragen wir den Amerikaner Stanley Kurtz. In seiner für mein Empfinden schlechthin brillanten Betrachtung "The Future of 'History'" (Policy Review, No. 113, June and July 2002) präsentiert Kurtz eine Abwägung der Thesen von Samuel P. Huntington, "The Clash of Civilizations" gegen die von Francis Fukuyama in seinem Buch "The End of History and the Last Man" vorgetragenen Auffassungen. Dort heißt es u. a. (speziell auf islamische Gesellschaften bezogen):
"Maybe with time, for example, the “acid of modernity” will dissolve Turkey’s traditional social structure and the modernizers will win out. Or maybe the piecework ateliers of Turkey will develop into a working blend of capitalism and the traditional social structure. Or will the kinship structure’s formidable interference with bureaucratic and capitalist efficacy tell the tale in the end? To begin to answer the question, we need detailed case studies and hard analyses of the social and economic riddles at the heart of the urbanizing Islamic world (and the Third World more generally). At the moment, however, we have too little in the way of either data or theory to make an informed decision. That, in the end, is why neither Huntington, nor Fukuyama, nor anyone else at the moment can plausibly resolve the issue." [Hervorhebungen von mir]
Eine solche Art von Überlegungen und Konkretisierungen, vor allem auch von Versuchen, die zukünftige historische Entwicklung auf einer soliden Fakten- und Hypothesen-(Alternativen-)Grundlage prognostizierbar zu machen, vermag mich aufgrund ihrer Schärfe und Tiefe jedenfalls vom Ansatz her zu überzeugen.
Schließlich dürfte es auch einen Zusammenhang zwischen denjenigen Realien gehen, welche hinter den Begriffen "Kultur" (i. S. von Kulturkreis) einerseits und "Identität" andererseits stehen. Dazu hatte ich mir u. d. T. "UNSYSTEMATISCHE FRAGEN UND NOTIZEN ZUR BILDUNG (UND ZUM ZERFALL) VON GESELLSCHAFT(EN) oder KANN MAN SOZIALE DYNAMIK(EN) ABSTRAKT BESCHREIBEN UND VERSTEHEN?" schon im November 2005 einige Arbeitsnotizen gemacht, welche seither so vor sich hinschlummern. (Hier, wie auch an anderen Stellen, habe ich übrigens auch Gedanken über die möglichen tieferen zivilisationsgeschichtlichen Hintergründe von Frauenemanzipation und Anti-Diskriminierungsregelungen und -bestrebungen zum Besten gegeben.)
Interessant, und in den Bezeichnungen originell ("Schneckenprogression", "Gletscherprogression", "Windprogression" und "Lichtprogression"), ist allerdings wiederum Pohls Periodisierung der neuzeitlichen Innovationsschübe (S. 21 und Tabelle S. 24). Freilich bleibt unklar, ob die Periodisierung und Bezeichnungen von Pohl selbst entwickelt wurden. Wenn ja: Kompliment; ansonsten immerhin danke für die Kenntnis-Vermittlung!
Das folgende Kapitel "Historische Dimension" ist, wenn ich es zurückhaltend sagen soll, auch von dem bereits oben kritisierten (oder eigentlich: vergebens gesuchten) Kultur(kreis)begriff bei Pohl abgesehen, suboptimal.
Man fragt sich, ob Pohl bei der Abfassung jene Leser vor Augen hatte, für die es seiner Meinung nach "... schwierig [ist] zu verstehen, dass nicht das Herz der Sitz der Gefühle ist sondern lediglich ein Muskel, der Blut durch das Kreislaufsystem pumpt, dass menschlicher Geist und Spiritualität von einem physischen Organ, dem Gehirn, erzeugt wird" (S. 28). Es mag ja sein, das einige Klippschüler die Gefühle mental im Herzen ansiedeln - aber dass diese Bildungsklasse sein Buch liest, ist zu bezweifeln.
[En passant bemerkt, klaffen Gedankenführung und Satzbau hier ein wenig auseinander. "Nicht das Herz" müsste mit "sondern das Gehirn" komplettiert werden; Pohls Fortsetzung "sondern lediglich ein Muskel" verlangt dagegen ein einleitendes "das Herz nicht (Sitz der Gefühle) ist".]
Nicht-Klippschüler (zumindest krause Pedanten wie mich) wird es ein wenig stören, dass Pohl die Elektrizität kurzerhand in die Kategorie der "Erfindungen" des Weißen Mannes einordnet (z. B. S. 7, 30, 37).
Seine Behauptung von einer Kontinuität zwischen antiker und westlicher Kultur hatte ich bereits oben in Zweifel gezogen (Oswald Spengler würde sich bei dieser Idee im Grabe umdrehen, aber man muss kein Spengler-Jünger sein, um solche Statements mit dicken Fragezeichen zu glossieren). Sollte es aber eine solche tatsächlich gegeben haben, dann wäre diese Kontinuität nicht "von christlichen Gelehrten und europäischen Herrscherhäusern übernommen" worden (S. 32). Allenfalls hätte durch die Übernahmen antiken Gedankengutes durch christliche Gelehrte und europäische Herrscherhäuser eine Kontinuität der Antike hergestellt worden sein können.
Ohne Gehirn keine Innovation. Diese Binsenweisheit erklärt indes nicht, wodurch es zur (exponentiellen?) Beschleunigung der Innovationen kam, was diese ermöglichte oder erzwang. Außerdem würden wir natürlich gern wissen, weshalb z. B. in China, das "uns" bis in unsere frühe Neuzeit (1700?) technologisch auf vielen Gebieten ebenbürtig oder überlegen war (z. B. erfordert die Porzellanherstellung sehr hohe Brenntemperaturen, die in Europa erst um 1700 - aufgrund des Zusammentreffens spezifischer industrieller und metallurgischer Problemstellungen und Erfahrungen in Sachsen: Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, Gottfried Pabst von Ohain - erzielt werden konnten) die Innovationen nur langsam oder gar nicht voran kamen. Wodurch war Europa überlegen? Buchdruck? Kriegstechnik (darf man wohl annehmen)? Kapitalismus? Der Linksintellektuelle Robert Kurz (den ich als brillanten Polemiker schätze) verortet mit guten Gründen den Ursprung der Moderne im Krieg, der zum Kapitalismus geführt habe ("Der Knall der Moderne. Mit Moneten und Kanonen. Innovation durch Feuerwaffen, Expansion durch Krieg: Ein Blick in die Urgeschichte der abstrakten Arbeit"). [Pohl hat sogar ein Buch von Kurz in sein Literaturverzeichnis aufgenommen, allerdings nicht über den Ursprung der Moderne, sondern über die Globalisierung: "Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems". Dieses Buch kenne ich nicht, aber wenn ich Kurz' Arbeit "DER ONTOLOGISCHE BRUCH. Vor dem Beginn einer anderen Weltgeschichte" lese, kommen mir Zweifel, ob man von einer solchen Position aus die Globalisierung verstehen kann.] Kriege gab es freilich auch in China, bzw. zwischen China und seinen Nachbarländern.
Vielleicht gab es zu wenig Länder in Ostasien? Nicht genügend Konkurrenz - militärisch, ökonomisch?
Aber selbst dann, wenn man das Militär als Auslöser des Urknalls der Moderne ansieht, kann man das immer noch als ein Oberflächenphänomen interpretieren, welches sich ohne die "faustische Kulturseele" (oder ein innovationsförderndes 'Betriebssystem' innerhalb unserer Kultur) nicht entwickelt hätte.
Warum haben die Römer ihre Waffen- und sonstige Technik nicht über einen bestimmten Stand hinaus weiter entwickelt, warum die Byzantiner nicht ihr "Griechisches Feuer"? Anreize genug hätten sie gehabt in ihren Kämpfen mit den Persern, Arabern und später den Turkvölkern. Warum haben die altamerikanischen Kulturen das Rad nicht für Transportzwecke genutzt?
Pohl glaubt offenbar, die rapide zivilisatorische Entwicklung des Westens mit dem Begriff "Neuronaler Multiplikator-Effekt (NME)" (S. 34 und öfter) erklären zu können. Es müsse, sagt er "Mechanismen neuronaler Beschleunigung geben." (S. 34) "Gleichzeitig muss eine neuronale Assoziation unterschiedlicher Gehirnfaktoren erfolgt sein, Verschaltungen und Vernetzungen, die das System 'Industrielle Revolution' erst möglich machten". (S. 34/35)
Mussten die Tüftler und Wissenschaftler seit der frühen Neuzeit schneller denken? Mussten sie - als Individuen - mehr Informationen verarbeiten? Das ist eine interessante und, vorbehaltlich einer Verifizierung, plausible Hypothese. Nur, wie gesagt: bis etwa 1600 oder 1700 war die 'Industrie' in China im Großen und Ganzen mindestens ebenso weit entwickelt wie diejenige des Westens: warum kam es nicht in Ostasien zu einem "Neuronalen Multiplikator-Effekt"?
David Landes z. B. lehnt, wenn ich den Ausführungen in der Wikipedia über sein Buch "The Wealth and Poverty of Nations" Glauben schenken darf, monokausale Erklärungen für den Aufstieg Europas ab (hier eine Rezension von Bradford de Long mit anschließender langer Expertendiskussion).
Pohl liefert freilich keine monokausale Erklärung dafür, dass sich die möglicher Weise für die industrielle Revolution erforderlichen besonderen Gehirn-Schaltungen, die er im übrigen auch nicht näher zu beschreiben versucht, ausgerechnet in unserer Kultur entwickelt haben. Er bietet dem Leser schlicht und einfach gar keine Erklärung, sondern knallt uns als Erklärungsersatz die "neuronale Progression" auf den Tisch. Das ist mir ein wenig zu wenig.
Denkbar wäre statt dessen eine arbeitshypothetische Verwendung von Begriffen der Datenverarbeitung: "schnellere Datenverarbeitung", "größere Speicherkapazität". Das ist mit präziseren Vorstellungen verbunden und wäre -theoretisch zumindest - verifizierbar bzw. falsifizierbar. Praktisch wäre der Sachverhalt allerdings schwierig zu erforschen, weil historische Vergleichspersonen für Messungen der Gehirnkapazität usw. leider nicht zur Verfügung stehen. Aber vielleicht könnte man indirekte Rückschlüsse ziehen, wenn es etwa gelingen sollte, die Informationsverarbeitungskapazität zu bestimmen, die für das (alltägliche bzw. geistige) Leben in alten Zeiten erforderlich war?
Andererseits kann man durchaus Zweifel hegen, ob die Abendländer, zumindest in der frühen Neuzeit, tatsächlich mental besser 'verdrahtet' waren als Menschen früherer Zeiten: Musste etwa (auch wenn dies nicht das Gebiet von Wissenschaft oder Wirtschaft betrifft) Friedrich der Große, um seine Kriege zu führen, schneller denken und mehr Daten verarbeiten als Gaius Iulius Cäsar im Gallischen Krieg oder gar im Bürgerkrieg?
Der Begriff "Neuronaler Multiplikator-Effekt (NME)", den Pohl im weiteren Verlauf seines Buches den Lesern geradezu einhämmert, hat also, in meinen Augen jedenfalls, keinerlei Erklärungswert. Er ist mangels hinreichender Konkretisierung nicht verifizierbar (und folglich auch nicht falsifizierbar). Selbst wenn man ihn mit konkreten Inhalten füllt, beispielsweise einer beschleunigten und umfangreicheren cerebralen Datenverarbeitung in den (allen, einigen, zahlreichen - ?) Individuen, kann er nicht erklären, warum sich dieses Mirakel ausgerechnet beim Weißen Mann zugetragen hat.
Dass durch die technologische und wissenschaftliche Entwicklung eine völlig neue ökonomische Situation entstand (S. 35) ist sicher richtig (und ebenso darf man annehmen, dass die ökonomische Situation - in Form der mittelalterlichen Großkaufleute, Handelsgesellschaften und Bankiers, in der frühen Neuzeit der Manufakturen - ihrerseits einen rückkoppelnden Einfluss auf Technik und Wissenschaft hatten).
Richtig ist auch, dass die Forderung "Laissez faire" (so die Ursprungsform) bzw. die meist mit der Infinitiv-Form des Verbs "laisser" gebildete Parole "Laisser faire" bis heute die Geister scheidet, und dass der Begriff aus der französischen Sprache stammt. Irreführend ist es gleichwohl, von einem "Laisser-faire der Franzosen" zu sprechen, weil eine solche Ausdrucksweise im Leser die Vorstellung erwecken muss, als sei dies ein besonderer französischer Charakterzug bzw. ein vorherrschender Zug des dortigen Wirtschaftssystems - ausgerechnet im Vaterland des Merkantilismus und der "Planification"!
Das aber glauben nicht einmal die Franzosen selbst. Auch wenn es meinem rostigen Schul-Französisch (später allenfalls durch die eifrige Lektüre der Werke von Georges Simenon kurzzeitig reanimiert) Mühe macht, habe ich ich versucht, insoweit unter dem Stichwort "Histoire du libéralisme économique" in der französischen Ausgabe der Wikipedia einen Beleg zu finden und legen selbigen hier vor (Hervorhebungen von mir):
"C’est en France, dans le contexte de l’épanouissement des Lumières que le libéralisme économique naît au sein du courant physiocrate face aux doctrines mercantilistes alors dominantes. Rompant avec la tradition mercantile focalisée sur les trésoreries de l’État, le courant physiocrate fait de la production agricole la seule source de valeur (physiocratie signifie « gouvernement de la nature »). Cette confiance en la nature relève de l’intuition d’un ordre économique spontané et optimal. Ne parvenant pas à faire de cette prescience une théorie, les physiocrates attribuent cet « ordre naturel » à la providence divine. La réalisation de cet ordre naturel est permise par la recherche de l’intérêt particulier qui concourt naturellement à l’intérêt général (idée exprimée par Mandeville et reprise par Smith, et déjà émise par Spinoza un siècle plus tôt). Bien qu’on leur doive la première représentation circulaire de l’économie (François Quesnay, Tableau Economique, 1758), l’idée d’une auto-régulation par le marché ne leur vint pas. ... Anne Robert Jacques Turgot, un temps contrôleur général des finances de Louis XVI obtînt pour un court moment la libre circulation des grains à travers la France. Les physiocrates plaidèrent aussi notamment pour l’abolition des corporations, pour la diminution des taxes pesant sur les paysans et pour la suppression des avantages féodaux en matière fiscale afin d’éviter la banqueroute qui mènera à la Révolution française. Toutefois, leur influence resta purement intellectuelle et ne connut que peu de suites concrètes."
Von Adam Smith im 18. Jahrhundert springt Pohl zur Pest ins 14. Jh. (genauer: um 1350). Mir war es bisher nicht bekannt, dass die Pest das Gottvertrauen der Menschen nachhaltig gestört hätte und dass die Epidemie "wesentlich dazu beigetragen [hat], dass die Wissenschaftler in alle Richtungen zu denken begannen ..." (S. 36). Auch der in die "Liste exzellenter Artikel" aufgenommenen Wikipedia-Eintrag zur Pest weiß davon nichts. Vielmehr ist im Abschnitt "gesellschaftliche Auswirkungen" u. a. von der Judenverfolgung die Rede, von einer intensiveren Religiosität und von sozio-ökonomischen Auswirkungen:
"Viele der Menschen empfanden die Pest als Gottesstrafe. Religiöse Bewegungen entstanden spontan im Gefolge oder in Erwartung der Pest ... . Langfristig bewirkte und beschleunigte die Pest durch den massiven Bevölkerungseinbruch einen tiefgreifenden Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft, deren langfristige Wirkungen auch positiv bewertet wurden. So bezeichnete David Herlihy die Pest als die Stunde der neuen Männer: Die Entvölkerung ermöglichte einem größeren Prozentsatz der Bevölkerung den Zugang zu Bauernhöfen und lohnenden Arbeitsplätzen. Unrentabel gewordene Böden wurden aufgegeben, was in manchen Regionen dazu führte, dass Dörfer verlassen oder nicht mehr wiederbesiedelt wurden (sogenannte Wüstungen). Die Zünfte ließen nun auch Mitglieder zu, denen zuvor die Aufnahme verweigert worden war, und während der Markt für landwirtschaftliche Pachten zusammenbrach, stiegen die Löhne in den Städten deutlich an."
[Nebenbei: wenn schon nicht die Große Pest, dann haben jedenfalls die verschiedenen Krankheitsepidemien in Europa (schein-)paradoxer Weise den Europäern sehr bei der Welteroberung geholfen. In seinem Buch "Guns, Germs and Steel" (mit 956 Kundenrezensionen auf der englischsprachigen Amazon-Seite; deutscher Titel: "Arm und reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften") macht Jared Diamond, wie auch schon andere Autoren, darauf aufmerksam, dass die Europäer ihre Krankheiten, gegen die sie widerstandsfähiger geworden waren, gewissermaßen "exportierten" und dadurch - mehr als mit Feuer und Schwert - die Einheimischen (speziell wohl in Amerika) dezimierten. Übrigens wird in einer Rezension von Karsten Pöhl ein Berührungspunkt zu Manfred Pohl deutlich, wenn es heißt: "Die zweite Folgerung ist eher ernüchternd: Diamond weist auf die große Bedeutung von Kumulationsprozessen hin: dort wo Wissen und Wohlstand bereits in hohem Maße vorhanden ist, wird stetig neues generiert." Etwas Ähnliches will Pohl, auf die Vergangenheit bezogen, nach meinem Verständnis auch zum Ausdruck bringen.]
Unstreitig hat unsere Kultur einen Quantensprung in Technologie und Wissenschaft geschafft (oder muss man sagen: mehrere Quantensprünge?), aber ich wüsste nicht, an welchen Ereignissen oder historischen Erscheinungen man solche bereits im 14. Jh. entdecken könnte. John Wyclif und Jan Hus waren zwar Reformer und nehmen als solche einen wichtigen Platz im entwicklungsgeschichtlichen Stammbaum unserer Kultur ein. Sie waren aber gewiss keine Menschen, die (z. B. durch die Pest) sich von der Religion entfernt hätten und in ihrem Glauben an Gott irre geworden wären. Und Wissenschaftler in einem auch nur halbwegs modernen Begriffssinn, der die Humanisten einschließen würde, waren sie schon gar nicht.
Erst recht war der "Ackermann in Böhmen" von Johannes von Tepl (um 1400) nicht das Werk eines Gottlosen.
Atheismus (falls Manfred Pohl diesen als wesentliche und fortschrittsfördernde Konsequenz aus der Pestepidemie ansehen sollte, Genaueres sagt er auch hierzu nicht) hatte es schon im Mittelalter gegeben. Verstärkt trat er, auf der Ebene der "Intelligentsia", allerdings wohl erst um erst um 1500 auf (Pietro Pomponazzi z. B. könnte ein Atheist gewesen sein). Den Durchbruch, nicht zur herrschenden Doktrin, aber zumindest zu einer die Wissenschaft beherrschenden Doktrin (nicht notwendig im Sinne einer metaphysisch-verabsolutierenden Gottesleugnung, sondern im Sinne eines methodischen Atheismus, der jedenfalls für die zu erforschenden Gegenstände diskretionäre Eingriffe einer übernatürlichen Macht leugnet) verdankt der Atheismus wohl der Reformation, allerdings als deren indirekter Folge. Insoweit halte ich die Darstellung im Wikipedia-Artikel über den Atheismus für zutreffend:
"Die Reformation brachte zunächst keine Abkehr vom (christlichen) Glauben. Dennoch ist sie ein wichtiger Wendepunkt nicht nur in der Geschichte der Religion, sondern auch in der des Atheismus. Durch die Reformation konnten sich mit den protestantischen Konfessionen erstmals Kirchen neben der katholischen etablieren, die zu stark waren, um dauerhaft unterdrückt werden zu können. Auf Dauer waren beide Seiten zur religiösen Toleranz gezwungen. Diese Entwicklung hin zur Toleranz sollte später auch Atheisten zugute kommen."
[In der Religion ist es also wie in der Wirtschaft: Monopole sind i. d. R. schädlich!]
Wie auch immer: welche konkrete Funktion die Große Pest um 1350 auf die abendländische Innovationsentwicklung gehabt haben soll: nichts Genaues erfährt man nicht.
Die Entdeckung der Zentralperspektive lässt sich m. W. jedenfalls nicht auf auf die Pest zurückführen.
Nebenbei bemerkt
a) ist gerade der Verlust der Kenntnis von raumperspektivischen Verfahren, wie sie bereits die Römer in Pompeji angewendet hatten, ein Beispiel für die Diskontinuität der antiken Kultur zu der unseren und
b) vermisse ich im historischen Überblick über die verschiedenen Innovationen, wie ihn Pohl bietet, jeglichen Hinweis auf diese 'Erfindung', obwohl gerade sie mit Sicherheit einen weit reichenden Einfluss auf die neuronale Organisation unserer Gehirne gehabt hat. Vielleicht war sie neben oder gar noch vor dem Buchdruck (um 1450, vgl. "Johannes Gutenberg"), von dem sie zeitlich nur etwa 40 Jahre entfernt ist (1410 - vgl. Wikipedia zu "Filippo Brunelleschi") sogar die größte abendländische (Re-)Innovation. 1492, also wiederum ca. 50 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, segelte Christoph Kolumbus nach Amerika; dann dauerte es nur noch gut 20-30 Jahre bis zur Reformation. (Erst) in diesem Zusammenhang bringt etwa der einschlägige Wikipedia-Artikel die Pest-Epidemien (die es weiterhin gab; allerdings nie mehr so verbreitet wie diejenige um 1350) ins Spiel: "Die Pestepidemien konfrontierten die Menschen beständig mit dem Tod und der Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Gläubigen erwarteten sich von der Kirche Antworten, die sie nicht geben konnte." Das klingt zwar ähnlich wie bei Pohl, ist aber inhaltlich etwas völlig anderes als seine quasi direkte Ableitung der Moderne aus der Großen Pest von 1350.
Auch der Renaissance-Humanismus, zu dessen Erforschung deutschsprachige Historiker (der berühmteste war Jakob Burckhardt; wichtige Beiträge haben auch Georg Ludwig Voigt -"Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus"- und Eberhard Gothein -hier eine Biographie- geliefert) dürfte eine enorme Rolle gespielt haben, die wir heute nur deshalb nicht so scharf (und mnemotechnisch wirksam) ins Visier bekommen, weil man diese, häufig auch einfach "Humanismus" genannte Bewegung nicht an einem Ereignis oder Geisteswerk, nicht an einer Person und nicht einmal an einer kurzen Zeitspanne festmachen kann.
(Zitat aus dem Wikipedia-Eintrag zu den Wirkungen des Renaissance-Humanismus: "Der Renaissance-Humanismus war eine Bildungs- und Wissenschaftsreform. Daher betrafen seine Nachwirkungen, soweit sie unabhängig von den allgemeinen Nachwirkungen der Renaissance zu betrachten sind, das Bildungswesen und den Wissenschaftsbetrieb.")
Dass sich alles beschleunigt hat, speziell auch die Kommunikation (S. 37 ff.) wird keinem Leser etwas Neues sagen; dass diese Akzeleration durch die Einführung und Ausbreitung des Internets einen weiteren qualitativen Sprung macht, dürfte gleichfalls unstreitig sein. Nicht ganz verständlich ist für mich allerdings die (recht unscharf formulierte) Sorge von Prof. Pohl, dass das Internet "die Menschheit zu kollektiven Massenhandlungen" verführen könnte (S. 39). Dies könne dann eintreten, wenn "über [erg.: das] Internet ein kollektives globales neuronales Bedürfnis" geweckt werde (a. a. O.).
Mit derartigen Formulierungen (weniger mit den dahinter zu vermutenden Besorgnissen) habe ich eine Menge Probleme.
Bedürfnisse sitzen im Gehirn (von Bedürfnissen des Magens, der Blase usw. einmal abgesehen). Die Wortkombination "neuronale Bedürfnisse" halte ich deshalb für tautologisch, zumindest aber im Kontext für überflüssig, weil das Wort "neuronal" hier keinen zusätzlichen Erklärungswert hat (dass nicht die Blasen-Bedürfnisse gemeint sind, ist eh' klar).
Dass das Internet verführerischer sein sollte als frühere Kommuniktionsformen, sehe ich auch nicht. "Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, das alte, / Hast keine verfallene Schlösser / Und keine Basalte. // Dich stört nicht im Innern, / Zu lebendiger Zeit, / Unnützes Erinnern / Und vergeblicher Streit. // Benutzt die Gegenwart mit Glück! / Und wenn nun eure Kinder dichten, / Bewahre sie ein gut Geschick / Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten"
wusste schon Johann Wolfang von Goethe: zu Zeiten, als es weder Telefon noch Fernsehen gab. Und die Emigranten seiner Zeit und späterer Zeiten müssen das ebenfalls irgendwie spitz gekriegt haben.
Dann kam das Fernsehen, mit welchem wir erst die marxistisch-leninistische Ideologie und als Folge davon das ganze Staatensystem des Ostblocks im Konsumlockverfahren geknackt haben. (Die Behauptung mag in dieser Form übertrieben sein, hat aber doch einen realen Kern.)
Ja, Finsterlinge haben Grund, den freien Fluss der Information zu fürchten. In Peking würde die Regierung wahrscheinlich sagen, das Internet habe die "Falun Gong" (mehr über diese Sekte in meinem Blog-Eintrag "Wie mich die Außerirdischen beim Pizzaessen erwischten") zu "kollektiven Massenhandlungen" [gleichfalls eine Tautologie: was wären denn die begriffskonträren 'individuellen Massenhandlungen'?] verführt.
Richtig ist natürlich, dass man mit E-Mail und Internet geistige und reale Zusammenrottungen leichter, schneller und weiter reichend organisieren kann. Aber so gänzlich unüberwacht ist das Internet ja auch nicht: 'Lieb Vaterland, magst ruhig sein: / Echelon klinkt sich überall ein' (und auch die deutschen Sicherheitsorgane werden ihre klandestinen Internet-Präsenzen kaum auf die Pädophilen-Verfolgung beschränken).
Nun will ich weiß Gott Pohl nicht unter der Kategorie der Finsterlinge subsummieren. Der Kontrollwahn, die Furcht, dass, was nicht kontrolliert ist, schon per se gefährlich sei, ist leider weit verbreitet in unserer Gesellschaft. Und so sickern von allen Seiten - sogar eher "von unten" , über Gerichtsurteile - zensierende Tendenzen ein. [Wogegen man sich wehren sollte, indem man u. a. "Freedom for Links" fordert bzw. diese Forderung unterstützt.]
Das sind alles sehr abstrakte Erörterungen; worum es Pohl konkret geht, ist wohl in erster Linie die Furcht vor einer massenhaften Armutsmigration in unsere Gegenden. Diese Furcht mache ich keineswegs lächerlich, sondern teile sie. [Und würde, wenn das in großem Umfang geschieht, auch massive Gegenmaßnahmen befürworten. Davon spricht Pohl aber nicht: auch an dieser Thematik kann man sich, speziell in Deutschland, die Finger verbrennen. Vielleicht haben deshalb unsere Politiker - mit Ausnahmen - so lange nichts getan bzw. nichts zu sagen gewagt, bis einige aus dem Volk anfingen, Asylantenheime anzubrennen?]. Nur glaube ich nicht, dass eine solche Migration durch das Internet generiert oder durch dieses bedrohlicher würde, als ohne. Nicht Bits und Bytes kommen zu uns, sondern Boote, und wie in Texas konsumiert wird, wird bislang noch in Fernseh-Soaps eindringlicher vermittelt als via Internet.
Im übrigen erscheint es mir recht widersprüchlich, wenn Pohl die Einführung der Gewerbefreiheit als "Sozialrevolution schlechthin" feiert (S. 37), sich aber andererseits (S. 61) sorgt "Ob ein Welt-Ehtikrat, der UNO angeschlossen, helfen kann, die Unternehmen und die Inhalte der Suchmaschinen zu überwachen,(?!?!) scheint ... fraglich." [Hervorhebung von mir]
"Evolution [ist] nicht gleichbedeutend mit Fortschritt", hören wir auf S. 40, und gleich im Folgesatz ist von "ständig zunehmende[r] Komplexität" die Rede. Für mich ist Fortschritt genau das: eine Entwicklung hin zu einer ständig zunehmenden Komplexität. Pohl hat vielleicht - überhaupt oder an dieser Stelle - einen anderen Fortschrittsbegriff (vermutlich den traditionellen Begriff einer Entwicklung zum Besseren). Aber das müsste man doch wenigstens erwähnen, und nicht das Wort "Fortschritt" einfach so in die Lande stellen, als sei es ein Begriff aus der Außenwelt der Platon-Höhle?
Nachtrag 13.01.24: Zum Fortschrittsbegriff s. a. meinen Blott "Fortschritt – real oder imaginär? Zum Essay "Die Fortschrittsillusion" von Prof. Eckart Voland (Spektrum der Wissenschaft, April 2007)" vom 08.01.2008.
Fragwürdig erscheint auch seine Behauptung (S. 40/41), dass der Buchdruck "das erste zentrale Ereignis" war, welches "die technologische Revolution einleitete": auch das Schwarzpulver wäre, trotz seiner meistenteils destruktiven Wirkungen, kein schlechter Kandidat dafür (vgl. meine obige Erörterung von Robert Kurz' "Knall der Moderne").
Pohl fährt fort mit Beispielen für die fortlaufende Steigerung der Geschwindigkeit in unserem kulturellen System und fragt dann (S. 42): "Aber wird der Mensch diesen Neuronalen Multiplikator-Effekt (NME) verkraften? Wird der die Geschwindigkeit aushalten? Das hängt wesentlich davon ab, wie er seine weitere Evolution planen wird". [Hervorhebung von mir]
Davon träume manchmal auch ich: das wir eines Tages in der Lage sein könnten, den Quellcode unseres 'kulturellen Betriebssystems' in gleicher Weise zu manipulieren, wie - vielleicht - zukünftig die genetische Ausstattung des Menschen. Wenn man (wohlgemerkt: im Sinne einer Arbeitshypothese) die Kultur für einen 'Metaorganismus' hält, dann drängt sich die Analogie Genforschung / Genmanipulation zu Kulturerforschung / Kulturmanipulation geradezu auf. Doch bin ich mir dessen bewusst, dass solche Analogien mit größter Vorsicht anzufassen sind, und dass man nicht die mentale Konstruktion einer Analogie mit Entsprechungen in der Realität verwechseln darf.
Letztlich bin ich, schon wegen des Feedback-Effektes (wie ihn, in anderem Zusammenhang, z. B. George Soros in seinem Essay "The Capitalist Threat" - hier und an vielen anderen Stellen ins Netz gestellt - so eindrucksvoll herausgearbeitet hat) doch äußerst skeptisch, dass wir unsere "Evolution planen" können.
Zu diesem Thema hatte ich in bereits in einem Eintrag u. d. T. "Von der Atombombe zur Frauenemanzipation" am Rande einige Überlegungen angestellt, welche ich für den vorliegenden Text repetieren möchte (im Kontext ging es dort - wie übrigens auch in meinem Eintrag "Auf Zeit-Seite Eins rettet Iris Radisch die Erde. Doch leider so, dass ich bald kotzen werde" - um die Frage, welchen Grad an Freiheit wir haben, um unsere umwelt-beeinträchtigenden Aktivitäten zu steuern):
"Wie Wildwasser in eine schlecht gefasste Mineralquelle schießt bei derartigen Überlegungen immer wieder das Problem herein, welches für das Nachdenken über Gesellschaft überhaupt zentral ist: kann sich der Mensch gedanklich gewissermaßen in eine übergesellschaftliche (oder sollte ich sagen: 'überevolutionäre'?) Position erheben, um die Gesellschaft quasi 'von außen' zu steuern? Ich lasse zu diesem Punkt hier die sehr rudimentären (wenn auch jetzt ein wenig angereicherten) Gedankengänge stehen, die ich damals notiert hatte.
Der Marxismus war der grandioseste gedankliche (und, wenn man von einigen utopischen Gemeinschaften und vielleicht dem Jesuitenstaat in Paraguay – über den ich allerdings nicht näher informiert bin - absieht, der einzige realisierte) Versuch einer derartigen Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung(srichtung). (Was freilich die Marxisten selbst, die sich ja lediglich als Geburtshelfer des Zeitgeistes betrachten, bestreiten werden.) Sein Scheitern müsste uns skeptisch stimmen bezüglich einer solchen Möglichkeit.
Im Kontext der Abfassung der Überlegungen zur Emanzipationsfrage stieß ich durch die (teilweise) Lektüre des Buches 'Wendezeit' von Fritjof Capra ... wieder einmal auf das Steuerungsproblem.
Capra selbst sieht die grundsätzliche Problematik durchaus; so heißt es auf S. 233 unten:
'Wachstum[ist] wesentliches Charakteristikum des Lebens'; und auf S. 234: 'Tatsächlich scheinen Evolution Wandel und Wachstum wesentliche Aspekte der Wirklichkeit zu sein'. Was (beileibe nicht nur:) Capra verkennt, ist, dass z. B. unsere heutigen Anschauungen über Wachstum nicht einfach zufällige oder krankhafte Fehlentwicklungen sind, sondern einfach die 'Bewusstseinsseite' des – wie soll ich sagen? vielleicht: - 'Wachstumsdranges' des Lebens selbst, wie es sich schon unterhalb der menschlichen Ebene in der Entwicklung der Pflanzen- und Tierwelt zu immer größer Komplexität und immer vollständigerer Ausnutzung aller (potentiellen) Räume der Erde ausdrückt.
Insofern wären, und dass muss man leider allen wohlmeinenden Aposteln eines theoretisch erdachten 'vernünftigen (oder nachhaltigen) Wachstums' entgegen halten, nicht erst unsere Anschauungen falsch, sondern schon die Entwicklungsgesetze, oder jedenfalls die Entwicklungsrichtung, 'des Lebens' oder 'des Lebendigen' an sich!
Auch Norbert Elias wäre skeptisch gewesen, heißt es doch in der Wikipedia über sein Buch "Über den Prozeß der Zivilisation":
"Nach Elias 'ist die »Zivilisation« ebenso wenig wie die »Rationalisierung« ein Produkt der menschlichen »Ratio« und Resultat einer auf weite Sicht hin berechneten Planung.' (Bd. II, S. 312).
Für Elias bestimmt eine fundamentale dynamische Verflechtungsordnung ('Figuration') den Gang des geschichtlichen Wandels; 'sie ist es, die dem Prozeß der Zivilisation zugrunde liegt.' (Bd. II, S. 314). Diese Verflechtungsordnung ist recht einfach: 'Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander.' (Ebenda). Aber er weist auch darauf hin, 'daß sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat.' (Ebenda). Diese Verflechtungsordnung hat also eine Eigengesetzlichkeit, ist nicht strukturlos; sie ist aber weder rational noch irrational.
Dieser Zivilisationsprozess 'wird blind in Gang gesetzt und in Gang gehalten durch die Eigendynamik eines Beziehungsgeflechts, ...' (Bd. II, S. 317) - die fundamentale Verflechtungsordnung. Nun behauptet Elias aber nicht, dass alles vorbestimmt sei und die Menschen sich dem Schicksal oder einer Macht hingeben müssten, sondern dass in diesen Zivilisationsprozess eingegriffen werden kann 'aufgrund der Kenntnis ihrer ungeplanten Gesetzmäßigkeit.' (Bd. II, S. 316)." [Hervorhebungen von mir]
Allerdings stellt Pohl seinen Planungsoptimismus dann doch unter Vorbehalt, indem er sagt (S. 42): "Die Frage ist, ob die Natur mitspielt. ... Die Natur meldet sich zurück. Klimaveränderung und Umweltkatastrophen zeigen Begrenztheit auf. ... Mit der bewussten Veränderung der Natur begann unsere Kultur. Wird die Natur sie wieder beenden?"
Diese Verknüpfung von Informationen über die Natur mit Informationen über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die wir, meist separiert, zwar tagtäglich in der Zeitung lesen können, ist nach meinem Eindruck noch nicht Standard in der öffentlichen Debatte. An dieser Stelle blickt Pohl, wie auch bereits im ersten Satz seiner Einleitung, weiter als viele andere; die weiteren Überlegungen erfolgen aber, was den Natureinfluss angeht, unter der Annahme eines "rebus sic stantibus".
"Eng miteinander verwoben" nennt Pohl auf S. 43 oben Antike und Christentum (vom Satzbau her müsste man diese Verbundenheit eigentlich auf Athen und Rom beziehen, da Antike und Christentum eingeklammert sind, aber dass diese beiden Städte bzw. Kulturen auf Gedeih und Verderb miteinander verpflichtet gewesen wären, macht irgendwie keinen Sinn).
Als glücklicher Erbe von Antike und Christentum begann nun der Weiße Mann "nach römischem Vorbild, die Welt für sich zu beanspruchen. Er startete in eine neue Zukunft ..." schreibt Pohl weiter auf S. 43. Aber welche historischen Fakten stehen hinter diesen wolkigen Worten? Wann und durch welche Aktivitäten begann der Weiße Mann, seine nehmende [aber letztlich auch gebende!] Hand auf die Welt zu legen? Und das "römische Vorbild" darf man wohl auch nicht wirklich wörtlich nehmen, denn Rom war zwar eine expansive Macht, hatte aber keineswegs die ganze Welt, sondern immer die jeweiligen Nachbarn im Visier (und hat sich unstreitig auf diese Weise ein schönes Stück Welt unter den Nagel gerissen).
[Auf einer Webseite mit der Überschrift "To Rule the Earth" hat jemand freundlicher Weise eine Größenübersicht der verschiedenen historischen Imperien eingestellt; mit 2,2 Mio. qkm war das Römische Reich im Verhältnis nicht einmal besonders groß.]
An den 'Start in die neue Zukunft' schließt Pohl an, dass diese Zukunft "erstmals zu Beginn des 9. Jahrhunderts lebensbedrohlich gefährdet" gewesen sei, und zwar durch die Araber.
An diesem Satz kaue ich wieder heftig herum: wo hätte, zum einen, Europa begonnen, zu Beginn des 9. Jahrhunderts (also zur Zeit Karls des Großen) die Welt zu beanspruchen, an welche nicht einmal später die Teilnehmer der Kreuzzüge dachten? Und, zum anderen, liegt die Datierung um ein ganzes Jahrhundert zu spät. Wirklich gefährdet war das Christentum (bzw. zunächst einmal das Frankenreich) Anfang des Achten Jahrhunderts, Anfang des Neunten Jahrhunderts haben die Araber zwar die Insel Sizilien und Gebiete in Süditalien erobert, aber eine Gefährdung des europäischen Kerngebietes bestand zu dieser Zeit nicht mehr.
Ereifere ich mich hier etwa über einen simplen Druckfehler? Leider nicht, denn im Folgenden lesen wir, dass Karl Martell die Araber zwischen Tours und Poitier im Jahre 832 besiegt habe: richtig ist aber Siebenhundertzweiunddreißig. [Eselsbrücke: Kaiserkrönung Karl der Große = Weihnachten 800; 'Hammer-Karl' kommt vor 'Kaiser Karl' - wie im Alphabete, also auch in der Chronologie.] [Nähere Informationen über die Schlacht bietet z. B. (auf Italienisch) Prof. Prof. Giovanni De Sio Cesari u. d. T. "BATTAGLIA DI POITIERS"]
Doch es geht weiter mit Behauptungen, welche von dem Begriff "Ungenauigkeiten" nur ungenau erfasst wären. Es ist ganz einfach falsch, dass Karl Martell "das Herz Europas von den Pyrenäen bis zur Oder" geschaffen habe.
Zu Beginn der Herrschaft Karls des Großen, um 770, waren die Franken gerade mal an der Weser gewesen (auf dieser, leider sehr kleinmaßstäblichen, Karte kann man es gerade noch so erkennen).
Allenfalls könnte man, sehr leger, von Karl dem Großen behaupten, dass er die Herrschaft der Franken bis zur Oder ausgedehnt habe, indem er die Sorbische Mark seinem Reiche (vermutlich eher symbolisch) einverleibte (vgl. die Angabe auf dieser Karte). Im Großen und Ganzen endete die fränkische Macht auch zu seiner Zeit noch an der Elbe (vgl. Historische Karte Europa um 800). Erst in einem langen Hin- und Her wurde bis ins Hochmittelalter hinein wurde das Gebiet zwischen Elbe und Oder christianisiert und kolonisiert.
"Mit dem Ende des Römischen Reiches und der Entdeckung Amerikas" seien, so Pohl, "die politischen und ökonomischen Voraussetzungen für die europäischen Nationen geschaffen [worden], die Welt zu beherrschen. Wenn man Ereignisse, die etwa 1000 Jahre auseiander liegen, zur Begründung einer historischen Kausalität derart leger zusammenzieht, kann man ebenso gut das Ende der Eiszeit als Voraussetzung für die europäische Weltherrschaft erwähnen.
Irreführend erscheint es mir auch, wenn Pohl (S. 43/44) davon spricht, dass sich "Ende des 17. Jahrhnderts ... die Muslime ... anschickten, Europa zu erobern" und dass die "islamischen Heere besiegt" wurden. [Hervorhebungen von mir]
Richtig ist zwar, dass die angreifenden Türken Muslime waren. Aber das ist nicht gleichwertig mit der (falschen) Behauptung, dass "die Muslime" uns angegriffen hätten: indische oder indonesische Muslime waren jedenfalls nicht dabei, Araber und Perser auch nicht (oder allenfalls einige wenige, falls sie, was ich nicht weiß, in der türkischen Armeen dienen mussten).
Ich weiß natürlich, dass den Europäern in jener Zeit die völkische - also türkische - Identität der Angreifer relativ gleichgültig war und vielmehr die religiöse - also islamische - Identität im Vordergrund stand und sie geängstigt hat. Trotzdem haben sie allerdings korrekt von "Türkenkriegen" gesprochen, nicht von "Islamkriegen" oder "Moslemkreuzügen"!
Ich glaube auch nicht, dass meine Kritik an Pohls Wortwahl Pingeligkeit ist. Gerade in unserer aktuellen Situation darf man eine - nein: nicht einmal "sensible", sondern ganz einfach: - "korrekte" Wortwahl erwarten. Man kann dann natürlich auch über die damaligen Befindlichkeiten der angegriffenen Europäer, ihre Furcht vor den islamischen "Heiden", sprechen. Sachverhalt und (zeitgenössische) Wahrnehmung des Sachverhalts sind jedoch, zumal in der Rede eines Historiker, zu trennen.
"In einem beispiellosen Siegeszug" seien in Nordamerika die "Planwagen der Einwanderer von der Ostküste zur Westküste gerollt" (S. 45): Siegeszug? Setzt einen substantiellen Gegner voraus: Alexander der Große vs. Dareios III: das war ein Siegeszug! Gegen die nordamerikanischen Indianer dagegen war die Kolonisierung der heutigen USA trotz vereinzelter militärischer Rückschläge doch eher ein Spaziergang.
Und beispiellos war die Besiedlung des amerikanischen Westens schon gar nicht: die Spanier hatten ihre riesigen Territorien in Südamerika sehr viel rascher durchdrungen (auch wenn sie die Einheimischen nicht so nachhaltig ausgerottet haben wie dies in Nordamerika der Fall war).
Verblüfft lesen wir im Anschluss an den Satz über die Besiedlung des Westens: "Schließlich gründeten sie einen eigenen Staat: die USA". Tatsächlich war es doch wohl so, (vgl. auch diese Karte aus einem Geschichtsatlas, oder noch anschaulicher jene Karte), dass die USA gegründet wurden, bevor die Planwagentrecks zur Westküste zogen.
Der vom Autor hergestellte Zusammenhang zwischen der Familie als Kern des amerikanischen Freiheitsdenkens und dem Umstand, dass "zahlreiche Verfolgte der europäischen monarchistischen Diktaturen in Amerika eine neue Heimat fanden" (noch S. 45), erschließt sich mir nicht.
Auf S. 46 unten lässt der Verfasser die USA zunächsst "die politische Verantwortung [was immer das genau sein mag] ... für die gesamte Welt" übernehmen um im übernächsten Satz zu sagen "Die USA glauben die Verantwortung für die ganze Welt zu besitzen, eine Fehleinschätzung ...": Was also gilt? Besitzen sie oder glauben sie nur zu besitzen?
Die USA und Europa müssen den Schwellenländern "mit neuen Innovationen folgen, um an der Spitze der Weltwirtschaft zu bleiben", heißt es auf S. 47. Gewiss: wenn man an der Spitze bleiben will, muss man innovativ sein; aber warum müssen wir denn an der Spitze bleiben (so auch S. 25)? Das wäre doch zumindest diskussions- und begründungsbedürftig, zumal wir Weißen nun ja nicht mehr die Welt beherrschen wollen? (Zugegeben: ich persönlich lebe natürlich auch lieber in einem Spitzenland als in einem drittklassigen, aber zu welchem Zweck "müssen" wir auf ewig an der Spitze stehen?)
"Der American Way of Life für alle, unterdessen eine Horrovision für die meisten Nationen ..." meint Pohl auf S. 47. Ich denke, das muss man differenzierter sehen: den amerikanischen Wohlstand würde gewiss niemand verschmähen, und wenn sie könnten, würden viele von denen, die in ihrer Gesellschaft gegen die USA agitieren und demonstrieren, sofort dorthin auswandern.
Wahrscheinlich wollen die meisten den Kuchen aufessen und aufbewahren zugleich: den gemütlichen Schlendrian ihrer traditionellen Gesellschaftsordnung, aber westliches Konsumniveau. Das ist tatsächlich auch möglich: aber nur dort, wo (noch) so viel Erdöl vorhanden ist, dass die Industrieländer das Wohlleben der Menschen (oder in vielen Fällen auch nur jener Fettschicht, die an den Fleischtöpfen sitzt) finanzieren.
(Vergleichbare 'Best-of-Träume' erleben wir ja in den Neuen Bundesländern, wo die recht große Zahl von PDS-Wählern offenbar glaubt, man könne das -in ihren Augen- Beste aus Honnis und Angelas Welt gleichzeitig haben.)
Auf S. 50 bin ich mir nicht sicher, ob das schwache Licht meines Geistes den folgenden Satz im richtigen Licht sieht: "Die Marktwirtschaft und somit der Wettbewerb funktionieren nur, wenn Ungleichgewichte vorhanden sind und ausgenutzt werden oder aber alle Märkte gleichen Bedingungen unterliegen." Ich jedenfalls würden ihn so interpretieren, dass die Marktwirtschaft sowohl dann funktioniert, wenn Ungleichheiten vorhanden sind, als auch dann, wenn die Ungleichheiten beseitigt sind. Und was sagt mir das? Oder sagt es Ihnen etwas?
Die Ausführungen über die Globalisierung (S. 51 ff.) repetieren auf einfachstem Niveau, was man täglich in den Zeitungen liest. Statt einer Widerlegung ihrer schablonenhaften Vorstellung über die Schrecken der Globalisierung würden Fritz und Lieschen Müller in Pohls Ausführungen (die sie aber zum Glück nicht lesen werden) lediglich ihre Vorurteile und Ängste bestätigt finden.
Welchen Grad an intellektueller Penetration hat ein Text, bei dem es (S. 51) zunächst (fälschlich) heißt, dass der Begriff Globalisierung "irgendwie zu einem 'Heilsbegriff' geworden" sei, während er im übernächsten Satz (zutreffend) als ein Begriff gesehen wird, der "Euphorie und Ängste" verbreitet?
"Epochen miteinander zu vergleichen" sei oft nicht sinnvoll, "da Geschichte sich angeblich nicht wiederholt" schreibt Pohl auf S. 52. Ja wat denn nu: wiederholt sie sich tatsächlich nicht, oder ist das eine irrige Meinung (wie man aus der Verwendung des Wortes "angeblich", wenn es bewusst eingesetzt wurde, folgern müsste)? Wenn sie sich in Wirklichkeit doch wiederholt, wäre ja auch die Vergleichung sinnvoll; wenn die Vergleichung sinnlos ist, muss die Annahme zutreffen, dass die Geschichte sich nicht wiederholt: das Wort "angeblich" führt also in die Irre.
Über Südamerika berichtet Pohl (S. 54), dass dort "der Rohstoffreichtum ... infolge eines politischen Linksrucks neu definiert [wird] und demzufolge ... auch die Verteilung eher ein ideologisches Problem" ist.
Mir ist zwar, von Julian Simon und anderen "Cornucopians" her, die Vorstellung geläufig, dass der Mensch (bzw. eigentlich: die jeweilige technologische Entwicklungsstand der Menschheit) darüber "entscheidet", was eine Rohstoffressource ist und was nicht. Edward W.Younkins z. B., "Professor of Accountancy and Business Administration at Wheeling Jesuit University in West Virginia" verkündet u. d. T. "THE FLAWED DOCTRINE OF NATURE'S INTRINSIC VALUE" die frohe Botschaft der Überflussgläubigen: "People have the capacity to assign and to create value with respect to nonhuman existents. Nature, in the form of natural resources, does not exist independently of man. Men, choosing to act on their ideas, transform nature for human purposes. All resources are man-made." [Hervorhebung von mir] Das kann ich zwar nicht glauben (jedenfalls nicht insoweit, als Younkins damit die beliebige Ressourcenverfügbarkeit insinuieren will), aber das ist immerhin ein konkretes Beispiel für eine "Definition" von Rohstoffen. In Südamerika "definiert" die politisch erstarkende Linke vielleicht die Eigentumsverhältnisse an den Rohstoffen neu, aber kaum diese selbst.
Und was ist an der Verteilung der Rohstoffe ideologisch? Bislang allenfalls die Regelung der Eigentumsverhältnisse (z. B. die Verstaatlichung der Ölfelder, Erzminen usw.). Es mag ja sein, dass Hugo Chavez das venezolanische Erdöl an Kuba billiger abgibt als auf dem freien Markt, aber noch verkauft er es auch ganz unideologisch an seine US-amerikanischen Widersacher - zu Weltmarktpreisen natürlich.
"Vielleicht besteht die Gleichheit eines Tages darin, dass es äußerlich und innerlich nur noch einen globalen Menschentyp gibt. Aber das wäre Gleichschaltung! Oder?" Was soll mir das sagen? Wäre das eine Katastrophe? Ohnehin wird ja doch nach Pohls (wohl zutreffender) Einschätzung der MCM, der Multi-Colour-Man oder Viel- bzw. Mehrfarbenmensch die Zukunft beherrschen? Der ist zwangsläufig eine Art Einheitsmensch, aus mehreren Farben zusammengemischt. Oder hält Pohl diesen im Grunde für einen Fehlfarbenmenschen?
So recht kompatibel mit einer Passage über die Identität auf S. 14 ("Entscheidend ist die Identität, das Zugehörigkeitsgefühl, und diese müssen deutsch, europäisch oder amerikanisch bleiben") oder auf S. 102 ("... Schaffung und Bildung einer neuen Identität, sowohl in Deutschland als auch in Europa ...") oder S. 188 (Übergang vom Weißen Mann zum Multi-Colour-Man MCM soll so gestaltet werden, dass] "die Identitäten der Nationalstaaen in Europa und den USA erhalten bleiben") erscheint mir diese Textstelle nicht.
Welche Entwicklung hält Pohl für wahrscheinlich? Eigentlich sollte man annehmen, dass (wenn man eine Fortsetzung bisheriger Trends zu Grunde legt) die intensive Durchmischung der verschiedenen Kulturen zwangsläufig eine im Kern globale Kultur und insoweit den globalen Menschentyp erzeugen muss.
Will er sich dieser Entwicklung entgegen stellen? Wenn nein: warum ist es wichtig, die Identitäten der europäischen Staaten, z. B. von Lettland, Litauen, Luxemburg oder Liechtenstein, aufrecht zu halten? (Er spricht zwar von Deutschland und den USA, aber die Kleinen werden kaum begierig sein, mit ihrer Identität bei uns unterzuschlüpfen.)
Nicht unbegründet sorgt er sich um die Jugendarbeitslosigkeit (S. 57), "da hier Revolutionspotenziale entstehen, die weltweit einen Migrationsprozess auslösen können, der nicht beherrschbar sein wird." Selbstverständlich können wir die Migration stoppen: wenn sie ein für uns bedrohliches Ausmaß annimmt, müssten wir sie als Aggression verstehen und notfalls mit jenen Mitteln bekämpfen, die wir auch gegen Angriffe der klassichen Art einsetzen würden. Das ist nicht besonders nett, und für diese Bemerkung handele ich mir vom Gutmenschenmeister Thomas Wagner and his like (bzw. his ilk) zweifellos das Etikett "rassistisch" ein. Aber ich mag es einfach nicht, wenn alle Welt in meinem Garten (selbst wenn ich keinen besitze) rumtrampelt.
Wir sollten mehr als bisher versuchen, Fairness im Umgang mit den aufstrebenden Völkern zu zeigen (Abbau von Zollschranken usw.), statt weinerliches Mittleid zu heucheln und ein paar Hilfsdollars runter sickern zu lassen. Gleichzeitig dürfen wir aber ruhig unser Selbstbewusstsein pflegen und uns massiv wehren, wenn wir - sei es auch durch illegale Immigration - angegriffen werden. Härte und Güte - "hug" - wäre die in meinen Augen richtige Positionierung: selbstbewusst, aber fair.
Indes: lieb' Linkelein mögt ruhig sein: das Kapital (und ihr) lasst alle rein (derweilen dann in der Altpopulation der Haß aufbrodeln wird wie weiland in Transelbanien)!
In dieser Frage (wie auch auf anderen Gebieten, insbesondere bei der Staatsverschuldung!) existiert eine objektive Interessenidentität zwischen guten Menschen und gut (an anderer Leute Arbeit) verdienenden Menschen. Die Realkapitalbesitzer haben als Immobilienbesitzer ein Interesse daran, die Wohnungen und überhaupt die Immobilien zu füllen und als Fabrikbesitzer ein Interesse, das nötige Humankapital (möglichst kostengünstig) ranzuschaffen, welches ihren Realkapitalinvestitionen überhaupt erst Wert verleiht. Wenn es hier zu Lande (und entsprechend in anderen Ländern) zu dramatischen Populationsrückgängen kommen sollte, werden sie versuchen, die - aus ihrer Sicht: Lücken - mit Zuwanderern aufzufüllen. Und dabei werden sie sogar Gott und die Moral auf ihrer Seite haben. (Und sogar die gottlosen Linken; aber manche anderen Gottlosen -ich z. B.- werden weniger begeistert reagieren.)
[Meine Mutmaßung über eine bei dieser Frage bestehende objektive Interessenidentität von Kapitalbesitzern und Moralbeschützern habe ich schon mehrfach in meinen Blog-Einträgen behandelt, z. B. unter dem Titel "Der zögernde Imperialist und die unsichtbare Hand"]
Allerdings kann alles auch ganz anders kommen: wenn die Rohstoffe knapp werden, versuchen vielleicht wir im Kongo über die Zäune zu klettern?
Von einer "verschworenen Netzgemeinschaft" hat Pohl bei Andreas Rosenfelder in der FAZ [beiläufig: dass Pohl FAZ liest, wollen wir uns hier schon mal vormerken: für wenn wir später zu seiner Medienschelte kommen :-) ] gelesen. In Rosenfelders Artikel "Web 2.0. Das Internet ist bewohnbar geworden" ging es allerdings an dieser Stelle nicht um das Internet an sich, sondern um einen im Internet publizierten langsamen Medikamenten-Selbstmord. Die fragliche Stelle lautet: "Sicher ist ein Suizid unter Anteilnahme einer verschworenen Netzgemeinschaft nicht das, was sich die Propheten der zweiten Internetgeneration unter Web 2.0 vorstellen." "Verschworen" war die Gemeinschaft in diesem "Forum der unter Nerds beliebten Seite „Joel on Software“, des launigen Blogs, dessen Gastgeber der Entwicklerguru Joel Spolsky ist". Das macht Sinn; falsch ist es aber, die Internet-Surfer en bloc als "verschworene Gemeinschaft" zu apostrophieren.
Die Gefahr eines 'Aufstands der Massen', herbeigeführt durch Internet oder Handy "kombiniert mit Erkenntnissen über den Ablauf neuronaler Prozesse" beschwört Pohl auf S. 60. Abgesehen davon, dass er die Manipulierbarkeit des heutigen Menschen m. E. überschätzt (vor 70 Jahren, ante Internet und TV, und ganz ohne Kenntnis neuronaler Prozesse, hat das mit dem Manipulieren deutlich besser geklappt, als es in Internet-Zeiten vermutlich möglich wäre), wüssten wissbegierige Leser wie ich schon gern, wen Pohl sich als Aufstands-Opfer vorstellt.
Auf S. 61 ängstigen ihn die Suchmaschinen. Möglich, dass er in der FAZ vom 21.09.06 den Beitrag "Internetzensur. Loch im Netz" von Felix Johannes Krömer über Zensur durch Streichen von Webseiten in der Suchmaschine gelesen hat. Der wäre freilich eher ein Grund, "freedom for links" zu fordern, als die search engines zu tadeln.
Aber es werden eher Artikel wie "Internet. Die wachsende Macht der Suchmaschinen" (FAZ v. 28.06.06) gewesen sein, die ihn (implizit) gleich in die Überwachungsforderungen einstimmen lassen: "Ob ein Welt-Ethikrat, der UNO angeschlossen, helfen kann, die Unternehmen und die Inhalte der Suchmaschinen zu überwachen, scheint bei der jetzigen Weltkonstellation fraglich. ... Aber je globaler die Information und Kommunikation wird, umso härter und konsequenter sind ethische Normen notwendig, damit ein Ausufern verhindert werden kann." Was ist das, ein "Ausufern"? Und kann ich Pohl glauben, wenn dieser Mann, der "Normen" (vulgo: Kontrolle) will, mir im weiteren Verlauf des Textes erzählt, er trete für mehr Demokratie ein? Und gegen Bürokratie? Kontrolle ist zwangsläufig immer bürokratisch. Sie ist nicht immer entbehrlich, neigt aber dazu, ohne Not kreative Ansätze nur deshalb abzuwürgen, weil sie von der Norm abweichen. [Ein Beispiel ist das Geldexperiment (Freigeld, Schwundgeld, Umlaufgesichertes Geld) 1932 in Wörgl. (Ich bin zwar skeptisch gegenüber Freigeld, zumal die Idee im Grunde letztlich die Produktion noch mehr beschleunigen will und damit den Ressourcenverbrauch ankurbelt; trotzdem wäre es interessant gewesen, die Funktionsfähigkeit des Modells über längere Zeiträume zu testen - wie die Menschheit das beim Kommunismus ja auch getan hat.)]
Die Ausführungen S. 62/63 sind so allgemein gehalten, dass ich ihnen nichts abgewinnen kann. Nur gelegentlich wird es konkreter - und dubios fragwürdig. So auf S. 62 unten wenn "neu verpackte" [also offenbar nicht: neue!] Dienstleistungen die Unternehmensentwicklung fördern sollen, oder wenn es auf S. 63 heißt, dass die Internetbetreiber "wieder den Menschen entdeckt" haben. Das "wieder" ist ein gedankenlos in den Text gespachteltes Füllwort, denn die Internetbetreiber entwickeln sich jetzt überhaupt erstmalig. Und gegen Sprüche wie 'den Menschen entdecken' (oder später, in anderem Zusammenhang, die Forderung "der Mensch muss im Mittelpunkt stehen" - S. 81) habe ich eine regelrechte Allergie: das sind nichts als verbale Flaschen, in welche man vom Essig bis zum Eiswein alles reinkippen kann.
Auf S. 64 sorgt Pohl sich darum, dass der "durchsichtige Manager und das durchsichtige Unternehmen" die Folge sein könnten, wenn "alle Unternehmer ihre Kompetenzen ins Netz transferieren". Wie soll ich mir das konkret vorstellen? Glaubt Pohl allen Ernstes, dass die Firmen ihre Betriebsgeheimnisse ins Netz stellen werden?
Und im übrigen: Pohl will doch gerade, jedenfalls auf der politischen Ebene, Transparenz herstellen (S. 118). Oder würde er sich dann auf eine Art von Freibeuterei im Meer der Begriffe verlegen und das, was andere unter "Transparenz" verstehen, etwa in "Hypertransparenz" ummünzen und als solche ablehnen? Zwar halte ich Pohl nicht für hinterhältig und gerissen (die Analyse der Struktur des Buches spricht dagegen), aber es gibt gesellschaftliche Dynamiken, die den Akteuren selbst unbewusst sind. Deshalb kann es nicht schaden, wenn man als Leser bei Zeiten seine Spock-Ohren spitzt.
Deren Spitzen zucken z. B. auch zusammen, wenn sie Pohl auf S. 65 sagen hören, dass Corporate Responsibility (CR) = Unternehmensverantwortung, Corporate Culture (CC) = Unternehmenskultur und Corporate Social Responsibility (CSR) = Gesellschaftspolitische Verantwortung der Unternehmer notwendig sei, um die Globalisierung fortzuschreiben (so weit unstreitig!) "und die Menschen in ein neues Zeitalter zu führen". Ganz sicher haben die Unternehmer und Unternehmen (unabhängig von ihrem Wollen und zunächst jenseits unserer Kategorieetikette "gut" und "böse") einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft (s. a. S. 127 + 131). Aber führen sollte doch die Politik? Jedenfalls macht m. E. nur auf der Grundlage dieser Annahme die Thematik des Buches überhaupt Sinn.
Das Internet könnte, fürchtet Pohl, eine "Panepidemie" [Pandemie] auslösen (S. 66). Dabei gab es etwas Ähnliches doch schon vor ca. 70 Jahren in Deutschland, also lange vor dem Internet (freilich auch von einem damals neuen Kommunikationsmedium, dem Radio, unterstützt, jedoch nicht ausgelöst).
Sicher: auch die chinesische Regierung fürchtet sich vor'm Internet. Weil es eine Informationsepidemie auslösen und den Menschen innerhalb und außerhalb Chinas z. B. bewusst machen könnte, welche gewaltigen Probleme im Bauche des Drachen gären und wie dort Menschenmaterial geradezu verfeuert wird.
Dass Emotionen eine große Rolle auch in der scheinbar rationalen Wirtschaftwelt spielen (S. 66/67) haben Teile der Wirtschaftswissenschaft bereits entdeckt. Sehr ernst zu nehmen ist allerdings Pohls Bemerkung, dass [zukünftig] "die Frage nach der Gestaltung globaler Märkte angesichts der ausgehenden Rohstoffe, der Klima und Umweltveränderungen ... "...eine entscheidende Rolle bei der Frage spiele, "ob bei fortschreitender Globalisierung der Shareholder Value die Maxime unternehmerischen Handelns bleiben ..." kann. Er verspricht, diese Frage "später intensiver" zu behandeln, löst dieses Versprechen aber letztlich nicht ein. Auf S. 111 entrüstet er sich zwar (und ich nehme ihm ab, dass er es ehrlich meint): "... was sind das für Menschen, die nur ihren Gewinn sehen, der Jahr für Jahr maximiert werden muss. Ich glaube, hier läuft etwas ganz und gar schief." Zutreffend stellt er aber andererseits fest, dass der "Shareholder Value ... der Hauptanreiz für Investitionen" ist, also ein selbstregelnder Steuerungsmechanismus der Wirtschaft. Soll der durch eine politisch gesteuerte Wirtschaft abgelöst werden, oder wie sonst können wir (welche?) wirtschaftliche(n) Ziele erreichen, ohne z. B. eine ineffiziente Bürokratie aufzubauen, wie der Sozialismus das tun musste. Mir scheint, unsere Gesellschaft und Wirtschaft stecken hier irgendwie (wie genau kann ich leider selbst nicht sehen und also auch nicht verbalisieren) in einer gewaltigen Klemme oder Falle, über die allein man schon ganze Bücher füllen könnte. Ein eventuelles Ende der (relativ) unbegrenzten Ressourcenverfügbarkeit (Verfügbarkeit mineralischer Rohstoffe) wird jedenfalls auch das Ende unserer (relativ) freien Marktwirtschaft sein.
"Alles was geschieht, hat seine Ursachen" sagt Pohl auf S. 69 und "... Ökonomie basiert auf Monismus und Determinismus". Er ist also (genau wie ich auch) eine Art von Materialist oder zumindest Determinist. Mit tief schürfenden philosophischen Erörterungen (oder Spitzfindigkeiten?) will ich mich hier nicht aufhalten; dafür fehlen mir auch die Kenntnisse. Schleierhaft ist mir indes, wo Pohl selbst in einem solchen Denksystem den lieben Gott ansiedelt, und wo er ihn sich bei anderen angesiedelt vorstellt. Gewiss: Albert Einstein war Physiker, und nicht der Dümmsten einer, und hat wohl dennoch an die Existenz Gottes oder, umfassender und wohl korrekter ausgedrückt 'des Numinosen' geglaubt ('Gott würfelt nicht' wird er, wohl verkürzt, häufig zitiert).
Mir als Agnostiker ist ´Pohls Bemerkung über das "gottlose 20. Jahrhundert" (S. 90) gleichgültig, und auch seine Genugtuung darüber, dass es dem Faschismus und Kommunismus "Gott sei Dank kräftig misslang", "eine Welt ohne Gott aufzubauen". (Auch ich hätte kein Problem, meinerseits die Formulierung zu verwenden, dass Faschismus und Kommunismus - derzeit jedenfalls - "Gott sei Dank" mehr oder weniger von der Weltbühne verschwunden sind.)
Nur frage ich mich, wie ein Determinist anderen Menschen überzeugend Religiosität 'verkaufen' will. Die Kreationisten sind mir zwar nicht sympathisch, aber jedenfalls folgerichtig, wenn sie die Naturgeschichte verdrehen und vertuschen wollen, um uns Menschen auf dem rechten Glaubenspfad einzumauern. Aber Pohl bezeichnet doch schon in seinem Vorwort (S. 7) das 21. Jahrhundert als das "Entschlüsselungsjahrhundert". (Das ist ein offenbar von ihm geprägter Begriff -Google-Treffer beziehen sich ausschließlich auf sein Buch-, auf den Pohl durchaus stolz sein kann und den der gesellschaftliche Diskurs ruhig übernehmen darf.)
Auf S. 71 schlägt Pohl das "früher war alles besser"-Thema an wenn er schreibt: "Allerdings rangieren in der heutigen Zeit ganz klar die Waren vor den Werten". [Hervorhebung von mir] War denn das jemals anders? Und eine Statistik, die ein (wie auch immer konkret abgefragtes) "Interesse" an Coca-Cola mit dem "Interesse" an "Werten" vergleicht, ist unseriös und selber ein Teil der medialen Berieselung, die Pohl beklagt. Jedenfalls glaube ich nicht, dass Ehepartner sich mehr für Coca-Cola interessieren als für ihre Beziehungen untereinander - und das ist doch ein Wert?
Menschen wollen - selbstverständlich - (auch) konsumieren. Wenn es auf S. 72 heißt, dass insoweit "rationale Erwartungen" entstehen, ein "neuronales Bedürfnis" geweckt wird und eine "neuronale Erwartung" entsteht, kann ich damit wenig anfangen. Ob das Konsuminteresse rational oder emotional entsteht, neuronal oder sonstwie, scheint mir herzlich gleichgültig zu sein. Menschen wollen und wollten schon immer vorzugsweise dort leben, wo man gut lebt, und schon immer sind sie (soweit es ihnen möglich war) massenhaft in die (relativen) Schlaraffenländer gezogen: Die Germanen nach Italien und Nordafrika, die Mongolen ins Chinesische Reich usw.
Die auf S. 75 aufgestellte Behauptung, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten auf der Misstrauenstheorie von Charles de Montesquieu (1689 - 1755) beruht, will ich gern glauben; den Zusatz 'und auf der von Alexis de Tocqueville" muss meine chronologische Plausibilitätskontrolle allerdings anzweifeln (Tocqueville 1805 - 1859; die US-Verfassung wurde anno 1787 beschlossen).
Mit dem Satz "Die Asymmetrie der Information tendiert zur Symmetrie der Information", hatte Pohl auf S. 70 einen Begriff eingeführt, der mir im Kontext seiner Argumentationszusammenhanges einigermaßen deplatziert erscheint.
Die Wikipedia klärt uns auf, was wir uns unter dem Begriff "Asymmetrische Information (engl. asymmetric information)" vorstellen dürfen. Das ist nämlich "ein wirtschaftswissenschaftlicher Begriff und [er] bezeichnet den Zustand, in dem zwei Vertragsparteien bei Abschluss und/oder Erfüllung eines Vertrags nicht über dieselben Informationen verfügen. Die Auseinandersetzung mit Problemen, die aus asymmetrischen Informationen resultieren, ist Gegenstand der Informationsökonomie (engl. economics of information) sowie der ökonomischen Analyse des (Privat-)Rechts."
Pohl indes stellt sich, wie auf S. 75 ff. deutlich wird, unter diesem Begriff etwas ganz anderes vor als die Wirtschaftswissenschaft, nämlich schlicht und einfach einen Wissens- und Bildungsrückstand der Entwicklungs- und Schwellenländer. "Asymmetrische Information" im Sinne der Wirtschaftswissenschaften bedeutet aber nicht, dass wir (bislang noch) bessere Autos bauen können als die Chinesen. Wenn ein westlicher Einkäufer in China Textilien einkauft, dann wird er in der Regel nicht deren Produktionskosten kennen. Der chinesische Produzent kennt wiederum nicht den Verkaufspreis, den der Käufer daheim erzielen kann. Hier liegt also sogar eine beiderseitig asymmetrische Information vor.
Jedenfalls bezieht sich der Begriff in der Wirtschaftswissenschaft auf den Kenntnisstand beider Parteien bei dem Abschluss von Verträgen. Ein klassisches Beispiel für asymmetrische Information wäre vermutlich der Kauf wertvoller Güter gegen billige Glasperlen in der Frühzeit des Kolonialismus; diese Art von Transaktion war nur deshalb möglich, weil die Kolonialvölker weder die Herstellungskosten der Glasperlen noch den Wert der von ihnen hergegebenen Güter für die weißen Händler kannten. Dass die Indianer usw. im übrigen keine Glasperlen selbst herstellen konnten, kann man mit Begriffen wie "technologischer Rückstand" usw. beschreiben, aber nicht mit "asymmetrischer Information".
Man sollte nicht die einfache Leserschichten, die dieses Buch ja vermutlich ansprechen will, durch hochgestochene Begriffe verwirren, die noch dazu im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs eine völlig andere Bedeutung haben. Die simple Feststellung, dass die nicht-industrialisierten Länder derzeit noch einen Wissensrückstand, Bildungsrückstand, Ausbildungsrückstand usw. auf uns haben, den sie jedoch rapide aufholen, wäre nicht nur ausreichend, sondern auch klarer.
Dunkel ist für mich auch der Satz (gleichfalls S. 75) "Die technologischen Erfindungen des Weißen Mannes unterliegen nicht mehr festen Regelwerken": Welchen Regelwerken hätten denn Erfindungen je unterlegen? Wenn er damit andeuten will, dass die Chinesen Technologieklau treiben, dann stimmt das sicherlich - aber warum den Sachverhalt dann nicht unmissverständlich ansprechen? Auch die Behauptung, dass "frei flottierende Spielregeln ohne Schiedsrichter heute zumeit das wirtschaftliche Handeln bestimmen", hilft mir wenig. Denn 1) gibt es heute eher mehr Spielregeln als früher und 2) hat es Schiedsrichter auf der internationalen Handelsbühne noch nie gegeben.
Die Folgerung aus seinen Ausführungen zum schwindenden Kenntnisrückstand der noch nicht voll industrialisierten Nationen zieht er auf S. 78: "Hieraus folgere ich, dass sich die Ökonomen verstärkt mit der Beschleunigung und der Geschwindigkeit, dem Auffinden und Schließen von Innovationslücken, befassen müssen". Befassen können sie sich damit meinetwegen; schließen müssen die Lücken aber Naturwissenschaftler und Techniker. Auf Ökonomen, die ständig falsche Konjunkturprognosen selbst für relativ kurze Vorhersagezeiträume erstellen (aber diese ihre faule Ware unverdrossen weiter anbieten), setze ich eher geringe Hoffnungen als Innovationslückenschließer.
Ökonomen mögen sich Gedanken um die Finanzierung machen (obwohl das eher die Praktiker tun werden und die Theoretiker lediglich nachträglich begründen werden, warum kommen musste, was dann tatsächlich kam). Unter "Innovationsterminbörsen" (S. 79) kann ich mir wieder einmal nichts vorstellen: sollen da Innovationen auf Termin gehandelt werden? Call- und Put-Options auf den Durchbruch zur Singularität?
Zu jenen Topoi, welche ich partout nicht verknusen kann, gehört die Aussage dass "im Mittelpunkt aller Prozesse der Mensch" stehen muss (s. o.). Ich eile also rasch über diesen Satz (S. 81) hinweg und werde mit einer Aussage belohnt, die für eine Bank-nahe Persönlichkeit wie den Autor erstaunlich ist (S. 81/82):
"Das globale Finanzsystem ist mittlerweile eine komplexe 'Geistervilla' von Krediten auf vielen Ebenen geworden, ein Spukgebilde, in dem Finanzderivate herumschwirren, die im Jahr 2005 bereits das Fünffache des Weltsozialproduktes betrugen. ... Irgendwann wird niemand mehr diese Geister beherrschen können, und niemand wird in der Lage sein, sie zu vertreiben."
Das ist eine mir vertraute Thematik; um ein Verständnis der Hintergründe (nicht im Sinne von Strippenziehern, sondern von historischen Entwicklungslinien - Spengler lässt grüßen) habe ich mich bemüht z. B. in meinem Blog-Eintrag "WAS SIND DERIVATE oder HAT ES BEI IHNEN GEKLINGELT?" und - in anderer Weise bzw mit anderer Blickrichtung in dem Aufsatz "Nur die totale Entfesselung des Kapitalismus rettet unsere Umwelt!" auf meiner Webseite "Drusenreich Vier".
Pohl macht nicht den Versuch, die Entwicklung in dieser Dimension zu verstehen, sondern reflektiert die verbreiteten (und möglicherweise auch berechtigten) Besorgnisse, dass es zu einem Crash aufgrund von Herdenverhalten kommen könnte. So jedenfalls interpretiere ich seine Behauptung S. 84, dass die Banker "nicht mehr so [handeln], wie sie es vorhatten, sondern ... ihrem Herdeninstinkt [folgen] und handeln ... wie alle anderen". Denn eine zutreffende Beschreibung des derzeitigen Zustands vermag ich darin nicht zu erkennen.
Im übrigen kann es sich auch kein Finanzprofi leisten, einfach so zu handeln, wie er es vorhatte. Vielmehr muss er (wie letztlich wir alle, wenn auch nicht so kurzatmig) ständig die Entwicklung beobachten und sich anpassen.
"Ein Kollaps des Dollars und ein Platzen der Immobilienblase in den USA und Europa könnten rasch eine neue Weltwirtschaftskrise auslösen" heißt es auf S. 85. Daran schließt er als Fazit seiner Überlegungen über die Fragilität des internationalen Finanzsystems die Meinung an: "Alle diese Überlegungen zeigen deutlich, dass Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika, die heute das globale Wirtschaftssystem prägen, ihren Einfluss Schritt für Schritt verlieren."
Die Aussage als solche halte ich zwar auch für richtig, aber sie ergibt sich doch wohl eher aus einer Betrachtung der warenwirtschaftlichen Entwicklungen denn aus Überlegungen zur Finanzwirtschaft. So lange die Finanzmarkt-Luftnummer noch nicht gecrasht ist, und die Banker den Geldbesitzern - vermutlich auch aus den aufstrebenden Ländern - Finanzderivate bzw. die amerikanische Volkswirtschaft dem Rest der Welt grün bedrucktes Papier gegen harte Waren andrehen kann, sitzt der Weiße Mann noch oben auf. Erst dann, wenn es entweder zu einem Zusammenbruch gekommen ist, oder wenn sich die Schwerpunkte der Finanzwirtschaft z. B. nach Shanghai verlagert haben, sitzen "die anderen" am längeren Hebel.
Dass die Chinesen als Individuen wie als Nation strebsam sind, ist keine Frage. Dass sie Chinesisch als Welt- und Wirtschaftssprache durchsetzen wollen (S. 85), erscheint mir eher zweifelhaft. Traditionell war China als Imperium eher saturiert und nicht-aggressiv. Tatsächlich sollte man auch heute die inneren Probleme dieses Landes nicht unterschätzen, die durchaus zu einem Kollaps oder sogar Zerbrechen des Staates führen könnten. Das, und nicht (wie es bei uns i. d. R. dargestellt wird) die Macht der Kommunistischen Partei als Selbstzweck, dürfte wohl auch die Hauptsorge der chinesischen Führung sein und der Grund, warum sie keine Demokratisierung zulassen. Schließlich konnten sie ja nicht nur in ihrer eigenen Geschichte, sondern zeitnah in der Sowjetunion unter Gorbatschow sehen, wie schnell ein Imperium auseinanderbrechen kann.
Wenn die Chinesen - mit oder ohne Machtbewusstsein - an der Sicherung ihrer Rohstoffversorgung arbeiten, ist das ein absolut normaler Vorgang. Bei der zu erwartenden Verknappung wird sich naturgemäß der Konkurrenzkampf verschärfen, aber nicht einfach zwischen dem Weißen Mann auf der einen und den Chinesen (und Indern?) auf der anderen Seite, sondern das wird dann ein Kampf aller gegen alle sein. Für diese Situation wüsste ich Europa gern als staatliches Gebilde formiert (vgl. auch meinen Blog-Eintrag "Peking bohrt (1), Amerika bombt (2), Europa brütet (3)"). Aber wir Europäer haben unseren historischen Höhepunkt hinter uns und sind historische Aschevölker geworden. So gesehen, macht sich Prof. Pohl durchaus zu Recht Sorgen um "unseren" Zustand in Deutschland. Jedoch müssen wir nach meiner Auffassung unseren Blickwinkel insoweit auf Europa insgesamt ausweiten. Deutschland ist räumlich ein Fliegendreck auf dem Globus. Wirtschaftlich und vielleicht auch machtpolitisch steht es zwar um einiges stärker da, und natürlich müssen wir, solange Europa sich außenpolitisch noch nicht formiert hat, uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern so gut es geht. Nur sollten wir uns keinen Illusionen bezüglich unserer objektiven Möglichkeiten hingeben. [Das waren Meinungsäußerungen von mir, kein Kommentar gegen Pohl, der vielmehr ebenfalls fordert, dass Europa "ein eigenes Selbstbewusstsein" und "eine eigene politische Verantwortung entwickeln" soll - S. 86]
Was Pohl meint, wenn er auf S. 86 sagt, dass "die amerikanische und im Schlepptau europäische Wirtschaftsideologie ... bereits in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts scheitern" wird, ist mir total unklar. Worin bestände denn unsere Wirtschafts-Ideologie? Falls Pohl in Übereinstimmung mit marxistischen Positionen meinen sollte, dass es eine 'kapitalistische Ideologie' gibt, teile ich diese Position nicht. Genauer: ich würde es nicht für sinnvoll halten, die Struktur von Einstellungen usw., welche einer -erfolgreichen- Marktwirtschaft -notwendig- zu Grunde liegen, als "Ideologie" zu bezeichnen. Das ist ein durchsichtiger linker Kampfbegriff, mit dem eine Ebenen-Kompatibilität von Dingen suggeriert werden soll, die aus meiner Sicht nicht kompatibel sind. Bzw. welche Elemente unserer Wirtschaftsweise sieht Pohl als ideologisch begründet an? Das Privateigentum? Die Marktwirtschaft? Und wenn ja, weshalb werden sie scheitern - obwohl doch China diese Bereiche ständig ausweitet, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein und uns einzuholen (und vielleicht sogar zu überholen)?
"Europa täte gut daran, ein eigenes System zu verfolgen, etwa als Katalysator zwischen den neu aufstrebenden Mächten in Asien und Südamerika und den Vereinigten Staaten von Amerika zu wirken". Was für ein System? Ein politisches oder wirtschaftliches? Und was fange ich mit dem Katalysator-Bild an? Ein Katalysator ist in der Chemie "ein Stoff, der die Reaktionsgeschwindigkeit einer chemischen Reaktion beeinflusst, ohne dabei selbst verbraucht zu werden" (Wikipedia). Was stellt sich Pohl vor, wenn er von Europa als Katalysator spricht?
"Völkermischung" (S. 87) ist möglicher Weise nicht schlecht - den Weißen Mann so zu sagen 'rassisch aufsüden'*. Aber der vorhergehende Satz "Nur jene Regionen der Welt, denen es gelingt, die neuronale Progression kognitiver Leistungsfähigkeit räumlich und zeitlich auf Höchstniveau zu halten, wird einer neuronalen Abschlaffung kognitiver Leistungsfähigkeit entgehen" ist eine sinnleere Tautologie: 'Wer sich fit hält, bleibt fit'.
* Nachtrag 22.05.08: Was ich hier eher scherzhaft dahingesagt hatte, könnte durchaus Substanz haben: In dem Focus-Artikel "Europäer kranken am Genpool" erfahren wir u. a., dass die genetische Vielfalt in Afrika sehr viel größer ist als bei uns.
Das dritte Kapitel (S. 89 ff) ist der "Kultur und Religion" gewidmet. Pohl leitet es ein mit dem Satz "Es steht außer Zweifel, dass Kultur und Religion die Fortentwicklung und das friedliche Zusammenleben der Menschen weltweit im 21. Jahrhundert auf allen Gebieten entscheidend mitgestalten werden."
Daran, dass die Kultur das Zusammenleben der Menschen entscheidend mitgestaltet, habe ich schon deshalb keinen Zweifel, weil das Zusammenleben Kultur ist. Im übrigen stehe ich freilich seiner Aussage sehr reserviert gegenüber. Nach der grammatikalischen Struktur des Satzes müsste man davon ausgehen, dass Pohl auf jeden Fall ein weltweit friedliches Zusammenleben erwartet. Aber worüber sich dann Sorgen machen? Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse und dem sonstigen Tenor seines Buches (vgl. z. B. S. 90: "... niemand weiß genau, ob [die Entwicklung] in Religions- und Kulturkämpfe ausartet ...") müsste man eine Art Textkonjektur vornehmen zu: 'Es wird entscheidend von den Kulturen (und der Religion) abhängen, ob die Menschen im 21. Jh. friedlich leben - oder nicht.' Das freilich ist mehr an Interpretationsleistung, als ein Autor (zumal eines offenkundig nicht für die Intelligentsia geschriebenen Buches) seinen Lesern billiger Weise zumuten sollte.
Dass die Religion ausgerechnet in einem "Entschlüsselungsjahrhundert" eine entscheidende Rolle spielen könnte, ist nicht plausibel. Von Oswald Spengler her ist mir der Gedanke einer "Zweiten Religiosität" zwar vertraut; das Wikipedia-Stichwort über sein Buch "Der Untergang des Abendlandes" fasst seine Ideen zu diesem Thema zutreffend so zusammen:
"Zweite Religiosität Die Zweite Religiosität ist eine Art von Trostmittel für die machtlosen Massen der zivilisatorischen Spätzeiten. Die Fellachenvölker werden in der Zeit des so genannten Weltfriedens in Menge hingemordet, aber verzichten selbst auf Gewaltanwendung. Sie ergeben sich in ihr Schicksal und suchen Zuflucht bei Formen der Religiosität, die sie in der Frühzeit ihrer eigenen Kultur vorfinden. Aufklärung und Rationalismus haben zwischenzeitlich die Menschen der Religion entfremdet und den Versuch unternommen, sie zur Mündigkeit und Freiheit zu erziehen. Mit dem Niedergang der Freiheitsidee jedoch ist auch der Rationalismus diskreditiert und der Hunger nach Metaphysik meldet sich wieder.
Kennzeichen der Zweiten Religiosität ist eine demütige Annäherung an den Mythos der Vorzeit, eine Reprimitivierung in den Religionsformen und die Neigung zum Synkretismus. Die Zweite Religiosität ist die anorganische, künstliche Form der ursprünglichen Religion. Sie schlägt den Menschen, der ihr nachhängt, nicht weniger intensiv in Bann (Spengler meint, in spätesten Zeiten werden die Menschen sämtlich wieder fromm, wie im spätantiken Ägypten, im heutigen Islam sichtbar). Aber sie weist keine zukunftsfähigen Merkmale mehr auf."
Spengler analogisiert dabei die Entwicklung (wohl hauptsächlich in der uns relativ gut bekannten "Antike") unserer und anderer Hochkulturen, wobei für ihn alle gleichwertig sind.
Wenn man dagegen von der Annahme ausgeht, dass sich die Menschheit mit der abendländischen Neuzeit über dasjenige Stadium erhoben hat, das früher eine Hochkultur charakterisierte, wird diese Analogisierung allein schon deshalb fragwürdig. "Wir" haben mit unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation etwas Neuartiges geschaffen, unsere Kultur ist, was die Beschäftigung der Arbeitskräfte angeht, nur noch zu einem verschwindend geringen Prozentsatz agrarisch basiert. Die Menschen sind alphabetisiert und der durchschnittliche Bildungsstandard steigt laufend an. Das alles sind schlechte Voraussetzungen für eine tiefere Religiosität, die ihre Kraft aus der Furcht vor einem unbekannten, unerforschlichen und unbeeinflussbaren "Schicksal" herleitet. Und natürlich hat die Religion von ihrer Entstehung her auch etwas mit der Gesellschaftsordnung zu tun: man muss eine Macht ehren, die ganz, ganz weit von einem entfernt steht, die willkürlich über Leben und Tod entscheidet, die rücksichtslos Steuern eintreibt usw.
Auch diesen gesellschaftlichen Zustand haben wir mit unserem demokratisierten und ver-rechteten System hinter uns gelassen.
Krankheit und Tod begreifen wir nicht mehr als Strafe oder auch nur Prüfungen himmlischer Mächte, sondern als Werk von Viren und Bakterien.
Pohl selbst ist Determinist: wie will ein solcher anderen Leuten einen Gottglauben aufschwatzen?
Tatsächlich fehlt denn auch der Liebe Gott in der anschließenden Aufzählung denjenigen Faktoren, die nach seiner Meinung eine maßgebliche Rolle spielen werden, nämlich Entschlüsselung der Gene und des Gehirns, Zugang zum Wissen der Welt und Veränderungen auf der Erde (und im All - welche da wären??).
Veränderungen auf der Erde können bei einem Klimakollaps oder einer Ressourcenerschöpfung tatsächlich den Menschen wieder in die Religiosität treiben, aber in einem solchen Szenario muss man sich ein "Entschlüsselungsjahrhundert" ohnehin abschminken: dann würde die Faust regieren und ein Kampf aller (Völker) gegen alle zur nackten Existenzsicherung ausbrechen. Für Wissenschaft und Technik wären dann keine Mittel mehr verfügbar. Dass Pohl dieses Szenario immer wieder mal andeutet (wenn auch nicht, so wie ich, ausdeutet), ist respektabel, aber es ist nicht dasjenige Szenario, welches seiner Hoffnung auf ein "Entschlüsselungsjahrhundert" zu Grunde liegen kann.
Die Frage, ob unser All begrenzt ist oder endlos (S. 90 oben) wird kaum geeignet sein, uns Menschen einen neuen Gottglauben einzutrichtern. Religion leitet ihre Kraft nicht aus astrophysikalischen Spekulationen her (auch wenn diese gelegentlich als Zierat auftreten mögen, und obwohl in der Vergangenheit Priestertum und Astronomen - wie überhaupt die frühe Wissenschaft jedenfalls im Alten Orient, aber auch in den südamerikanischen Hochkulturen - identisch waren), sondern auf existenziellen Erfahrungen und Bedürfnissen des Menschen. Die bedrohen uns gegenwärtig nicht in der gleichen Weise wie früher; vielmehr sind unsere materiellen Bedürfnisse relativ gesichert und unser Wissensbedürfnis stillen Forscher und nicht Mythenschreiber.
Ganz verschwinden wird die Religion zwar auch bei uns nicht, aber in einem "Entschlüsselungsjahrhundert" kann sie keine tragende Kraft mehr sein - eher wird sie ein Forschungs- und Entwicklungshindernis darstellen. Was nützt uns alles Entschlüsseln, wenn wir unser Wissen nicht anwenden - also "genetical engineering" usw. betreiben? Das freilich werden die christlichen Schöpfungskronenschützer auf jeden Fall zu verhindern suchen, mehr noch als bloßen Erkenntnisgewinn (mit aus ihrer Sicht problematischen Forschungsmethoden).
Die Feinde Galileis sind noch nicht alle tot, und die Vertreter der organisiserten Religiosität wissen sehr gut, dass jede weitere Entschlüsselung speziell in der Biologie und Neurologie - und noch mehr die Anwendung genetischen und neurologischen Wissens in Form von "Design-Menschen" - ihnen immer mehr das Wasser abgräbt, indem sie auch den letzten Winkel im Raum des "Numinosen" mit den Scheinwerfern des Exakten ausleuchtet und keine dunklen Ecken für dunkle Kutten lassen wird.
[Beiläufig bemerkt: Wer die Religiosität stärken will, sollte, auch wenn es zunächst paradox erscheint, die Kirchensteuer abschaffen. Wenn die Kirchen 'have to fend for food', wie in den USA, würde wahrscheinlich das Gemeindeleben aufblühen.]
Auch über den Islamismus wird ja spekuliert, dass dieser nicht etwa (wie es uns sicherheitsverwöhnten Etappenhengsten vorkommen mag) ein kraftvoller Angriff islamischer Religiosität gegen den Westen ist, sondern ein verzweifelter Abwehrkampf islamischer Traditionalisten gegen die vordringende Verwestlichung, von der sie ihre Religion (und Lebensweise) bedroht sehen.
Wir sollten uns auch hüten, auf "Religion" zu setzen. Im frühen Mittelalter haben die deutschen Kaiser versucht, ihre Macht gegenüber den Stammesfürsten zu sichern, indem sie Territorien an den Klerus vergeben haben. Dieser hatte keine (legalen) Erben, somit konnten nach deren Tod die geistlichen Fürstentümer theoretisch vom Kaiser wieder an einen ihm genehmen Anwärter verliehen werden. Die Politik ging allerdings längerfristig in die Hose und diese Staatengebilde behinderten die Ausbildung von weltlichen Territorien, die (wie -sehr spät- Preußen) den Kern eines modernen deutschen Staates hätten bilden können. (Vgl. dazu auch meinen Blog-Eintrag "Künstler rächen Kaiser an der Kirche".)
Das Schicksal unserer Kultur heute auf die Kirche zu bauen, wäre genau so verfehlt. Wir haben in der Zeit der Aufklärung den Kirchen mit Mühe die Zähne gezogen; da sollten wir ihnen jetzt nicht ihre Beißerchen zurück geben. (Und eine Religion ohne Biß bleibt weitgehend wirkungslos.)
Jedenfalls: eine Formierung des "Westens" gegen den Islam (oder gegen China) unter dem Banner des Christentums wäre eher schädlich als hilfreich. Der Westen ist heute nicht christlich, sondern modern. Die christliche Religion mag, trotz aller oberflächlichen Mängel, bei der Entwicklung des Westens zu einer wissenschaftlich-technischen (und nicht-religiösen) Kultur eine wichtige Rolle gespielt haben, aber ein künstlich re-animierter Religions-Golem würde wahrscheinlich eher Schaden anrichten.
Man kann die historische Entwicklung natürlich auch anspruchsvoller darstellen, als es meinen persönlichen intellektuellen Möglichkeiten entspricht. Auf einer Webseite, die sich mit Gotthard Günthers (der sehr bewusst von Spengler ausging) polykontexturaler Logik befasst (klingt irgendwie gut, kann ich mir allerdings nichts drunter vorstellen) ist ein Kapitel einer größeren Arbeit (Titel "Gotthard Günther: Innen wie Aussen"; es handelt sich wohl um eine Dissertation, jedenfalls aber eine von der VW-Stiftung geförderte Forschungsarbeit) so überschrieben:
"Die Überwindung der einwertigen Epoche in der faustischen Kultur". Auch dort glaubt der Autor nicht an eine 'Zweite Religiosität'; vielmehr schreibt er (oder interpretiert Gotthard Günther):
"Wie nun, um an die eingangs des Abschnitts gestellte Frage zu erinnern, ist es erklärbar, das allein in der faustisch-abendländischen Kultur der Ausweg einer zweiten Religiosität verworfen wird? Günther führt zwei Gründe hierfür ins Feld, deren ersten er jedoch nur en passant erwähnt ... .
Transparenter wird diese Sonderstellung der faustischen Tradition durch den Hinweis auf die Wirkmächtigkeit der Leibnizschen Monadologie, in welcher Günther die erste (und vorläufige) metaphysische Theorie der Maschine erblickt. Dies deshalb, da mit Leibniz das Ich qua Monade nicht mehr als Substanz, sondern als Kraft gedacht wird. Damit ist aber ein gewaltiger Schritt über alle bis dahin gelieferten Subjektivitätskonzeptionen getan, die das Ich ja gerade nur über seine inhaltlichen Bestimmungen in den Blick bekamen, nie aber auf die diese selbst fundierende Potentialität gesondert reflektierten.
Dieser mit Leibniz erreichte Reflexionsstand verunmöglicht es der abendländischen Kultur nun, dahinter zurückzufallen und ermöglicht ihr, den nach vorne gerichteten Regreß in die zweite Religiosität zu umgehen." [Hervorhebungen von mir]
Wenn Pohl sagt, dass eine neue Einstellung im Gehirn des Menschen zu Religion und Kultur aus "der Entschlüsselung der Gene und des Gehirns, ...[der] Angst vor Klimawandel ... und versinkenden Städten ... [und der] Frage nach der Unendlichkeit hinter unserem All" entstehen werden, vermengt er zwei nicht kompatible Szenarien: das "Entschlüsselungsjahrhundert" und das "Katastrophenjahrhundert" (kein Begriff von ihm, aber eine Möglichkeit, mit der er als solche erkennbar rechnet).
"Noch nie war die Diskrepanz zwischen Glauben und Gottesleugnung so groß" heißt es auf S. 90. Das halte ich schlicht für falsch. Die Diskrepanz zwischen Glauben und Unglauben ist immer gleich groß, so wie die zwischen "Ja" und "Nein", "Plus" und "Minus" usw.: es handelt sich um eine (theoretisch zumindest, in der Praxis kann man das meist nicht so scharf abgrenzen) binäre Option.
Denkbar ist, dass Pohl auf einen heute mehr als früher verbreiteten Unglauben hinweisen wollte, also quasi die Änderung in der statistischen Verteilung von Gläubigen (weniger) und Ungläubigen (mehr) in der (westlichen) Population ansprechen. Aber, falls er das meint: warum sagt er es dann nicht so oder ähnlich? Warum die Leser verwirren und Rätsel raten lassen?
"Noch nie ist die Beherrschung der Natur als größtes Kulturgut so infrage gestellt [erg.: worden] wie heute" (ebd.). Mag sein, aber auch die menschlichen Eingriffe in die Natur hatten in früheren Zeiten mit ihren primitiven Technologien nicht diese möglicher Weise existenzbedrohende Dimension wie heute.
Denkbar ist auch, dass unsere Eingriffe in das Klima (und unsere Zugriffe auf die nicht-erneuerbaren Ressourcen) zu Konsequenzen führen, die wir nicht mehr beherrschen können. Dass eine solche Situation die Menschen zu irgendeiner Art von Glauben treiben würde, ist eine realistische Annahme. Allerdings ist es mit dem "Entschlüsselungsjahrhundert" vorbei, wenn die Menschheit von Knappheiten und Naturkatastrophen heimgesucht wird.
Man kann sich zwar gedanklich durchaus in unterschiedlichen, neutralen, optimistischen oder pessimistischen Szenarien bewegen; jedoch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass einige sich gegenseitig ausschließen.
Was die Religiosität angeht bleibt allerdings die Frage, wie sich deren weitere Entwicklung in den USA auf deren Politik und Kultur und darüber hinaus dann vielleicht sogar auf unsere Situation auswirkt.
Auch in China gibt es Erscheinungen, die man als religiös bezeichnen kann (Falun Gong oder Falun Dafa - vgl. dazu auch meinen Eintrag "Wie mich die Außerirdischen beim Pizzaessen erwischten").
Man sollte aber derartige Tendenzen nicht überbewerten; das "Säurebad der Moderne" (die "acid of modernity") löst zwar die Religion nicht gänzlich auf, hält sie aber kurz - und das scheint mir auch gut so. (Das sage ich auch gegen Matthias Politycki, der uns in seinem Zeit-Essay "Weißer Mann – was nun?" ebenfalls die Religion als Heilmittel gesellschaftlicher Leiden und als Stärkungsmittel unserer Kultur empfiehlt).
Ich kann nicht beurteilen, inwieweit in Indien der Staat mit dem Hinduismus verbandelt ist; aber dass auch China "erkannt [hat], dass ohne Religion die Entwicklung für einen modernen Staat mit Hochleistungstechnologie und globaler Vernetzung nicht möglich ist" (S. 90), war mir bisher unbekannt und ich bezweifele das sehr.
Die Menschen "bedürfen "der geistigen und seelischen Inhalte" sagt Pohl (S. 91). Das freilich wird auch der philosophische Skeptiker nicht leugnen, dass die Menschen möglichst was in ihrem Gehirn haben sollten. Nur: was ist Seele, wenn doch alles von Neuronen gesteuert und determiniert (und die Funktionsweise dieser Mechanismen von uns demnächst vollständig aufgeklärt) wird?
Ob die entscheidenden Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihre Ursachen wirklich in Kultur und Religion haben, oder nicht auch der Kampf um die Rohstoffe eine ganz erhebliche (verschleierte) Rolle spielt?
Zutreffend sagt Pohl, dass jede Kultur und Religion (bedingt, denn für die fernöstlichen Religionen gilt das wohl weniger) sich für die allein richtige hält (S. 91/92). Fakt ist allerdings, dass die wissenschaftlich-technische Zivilisation bestimmte Verhaltensweisen erfordert, die z. B. in islamischen Gesellschaften behindert oder unterdrückt werden. Insofern halte ich einen allzu weit getriebenen Relativismus für falsch (aber einen solchen totalen Relativismus vertritt Pohl auch nicht).
Dass der Kampf (der Palästinenser) gegen die Juden seine Basis in der kriegerischen Vergangenheit des Islam habe (S. 92), wage ich zu bezweifeln. Die Juden haben die Palästinenser aus ihrem Land herausgedrängt, und die mögen das nicht; das wäre auch dann nicht anders, wenn sie keine Moslems, sondern z. B. Christen wären. (Zum Palästina-Konflikt vgl. meinen Blog-Eintrag "Propheten-Karikaturen und Palästinenserfrage" und besonders auf meiner Webseite Drusenreich fünf meine Studie "IN THE MACCHIA OF SPECIAL INTERESTS ...... A WELL OF CLEAR-CUT ANALYSIS?")
Gibt es derzeit (schon) einen "Kampf der Kulturen" (S. 92)?
Wie soll "ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt" in Deutschland und Europa funktionieren, wenn doch nach seiner Meinung (die vielleicht sogar zutreffend ist) "Moslems ... nur unter schwierigen Bedingungen, um nicht zu sagen überhaupt nicht, eine europäische Identität übernehmen" werden, sondern "ein Staat im Staat" bleiben (S. 93/94)?
Ist die "Liberalisierung des Welthandels [bereits] ... gescheitert" (S. 94)?
"Hä?" frage ich, wenn ich (S. 94/95) lese: "Die Politiker erfinden immer wieder neue Formen des Protektionismus ... . Sie wollen vermitteln, dass eine wohlhabende und vereinte Welt ohne Zölle und Handelsbarrieren jeder Art von Terror überlegen ist". Ja wat denn nu: wollen die Politiker Protektionismus, oder wollen sie Handelsbarrieren abschaffen?
Versuchen die Europäer und Amerikaner wirklich "durch protektionistische Maßnahmen ... zum Beispiel Japan, Indien und China in die Knie zu zwingen" (S. 95)? Oder wollen wir uns vielleicht nur davor schützen, von denen in die Knie gezwungen zu werden? Da hätte man sich doch etwas differenzierteres Denken und eine entsprechend differenzierte Wortwahl gewünscht; welchen Eindruck machen solche (m. E. schlicht und einfach falschen) Formulierungen nach außen?
Dass die Globalisierung nicht optimal funktioniert, wird niemand bestreiten. Aber dass sie derzeit genau das Gegenteil von Sicherheit, Frieden und Freiheit bringt, ist eine Behauptung, die Balkenüberschriften höher gewichtet als die wahrnehmbare Realität. Es hat in der Geschichte sehr viel unfriedlichere Zeiten gegeben als unsere! Freilich drang damals anders als heute nicht die Kunde von jedem Sack Reis, der im fernen China umfällt, bis zu uns.
[Der amerikanische Psychologe Steven Pinker hat sich in seinem Aufsatz "A HISTORY OF VIOLENCE" die von verschiedenen Seiten gern erhobenen Klagelieder über die Friedlosigkeit unserer Welt vorgeknöpft. Auch wenn sein Essay ursprünglich schon am 19.03.1997 erschienen ist, also die Ereignisse von 9/11 in New York nicht berücksichtigt, gilt m. E. noch heute, dass "Conventional history has long shown that, in many ways, we have been getting kinder and gentler". Interessant, dass er (was auch mir schon aufgefallen war), bei dieser Entwicklung einen Wendepunkt -man könnte von einem 'Paradigmenwechsel' sprechen, im 17. Jahrhundert ausmacht: "... there seems to have been a tipping point at the onset of the Age of Reason in the early seventeenth century." Auch sonst demystifiziert Pinker kräfig: "Contra leftist anthropologists who celebrate the noble savage, quantitative body-counts—such as the proportion of prehistoric skeletons with axemarks and embedded arrowheads or the proportion of men in a contemporary foraging tribe who die at the hands of other men—suggest that pre-state societies were far more violent than our own. ... If the wars of the twentieth century had killed the same proportion of the population that die in the wars of a typical tribal society, there would have been two billion deaths, not 100 million. ... On the scale of decades, comprehensive data again paint a shockingly happy picture: Global violence has fallen steadily since the middle of the twentieth century." Auch mit seiner abschließenden Schlussfolgerung stellt Pinker sich gegen die Lamento-Fraktion und dreht die moralisierende Frage 'Warum ist der Mensch bloß so schlecht' um in ein (positives) Erstaunen über unsere Entwicklung: 'Wenn der Mensch historisch so gewalttätig war: wieso ist er plötzlich so friedlich geworden'? In seinen eigenen Worten: "But the phenomenon does force us to rethink our understanding of violence. Man's inhumanity to man has long been a subject for moralization. With the knowledge that something has driven it dramatically down, we can also treat it as a matter of cause and effect. Instead of asking, 'Why is there war?' we might ask, 'Why is there peace?' From the likelihood that states will commit genocide to the way that people treat cats, we must have been doing something right. And it would be nice to know what, exactly, it is."]
Und wenn (um wieder zum Buch von Pohl zurück zu kehren) "das derzeitige Weltsystem der Globalisierung so nicht funktionieren kann" (S. 95): wie kann es dann funktionieren?
Warum muss der Export westlicher politischer, ökonomischer und sozialer Werte daran scheitern, dass "dass Wissen der Welt allen Menschen zugänglich ist" und dass "Kultur und Religion genauso konsumiert [werden] wie alles andere" (S. 96/97)? Eher sollte man doch auf eine Ausbreitung der westlichen Kultur setzen, die ja (zumindest derzeit noch) die primär Wissen schaffende ist? Und eine zum bloßen Konsumgut abgesunkene Religiosität sollte doch keine Bedrohung darstellen?
Angesichts der nicht nur an dieser Stelle inkosistenten Argumentationsstruktur des Buches kann ich mich nicht immer des Gefühls erwehren, als habe Pohl wahllos die Wühlkiste des Feuilletons geplündert und die Gravamina der verschiedensten Skribenten, wie unvereinbar sie auch miteinander sein mögen, in sein Werk inkorporiert.
Wenn der "Relativismus als philosophische Grundlage der Weltordnung ... ausgedient" hat (S. 97), was soll oder kann nach Meinung des Autors dann an seine Stelle treten? Christlicher Fundamentalismus?
Und werden nicht die Kulturkämpfe verschärft, wenn Kultur [gemeint ist wohl: die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Kulturen, denn Kultur als solche gestaltet in jedem Falle die Welt] und Religion "mehr und mehr in der Gestaltung der Welt eine Rolle spielen werden"?
Wieso sucht er die Realität "einer modernen Demokratie ..., in der jeder Mensch frei seine Religion und seine kulturelle Zugehörigkeit nicht nur wählen, sondern auch leben kann" (S. 98) erst in der Zukunft? Werden denn die Muslime in der westlichen Welt derzeit daran gehindert, ihre Religion zu leben? Mit der Kultur ist das freilich problematischer; "Parallelgesellschaften" will Pohl zu Recht bei uns genau so wenig dulden wie ich.
Überhaupt ist möglicher Weise die 'moslemische Kultur' für uns insofern bedrohlicher als der Islam, als der Kern dieser (zwar nicht nur moslemischen) Kultur vermutlich in einer starken Betonung der (Groß-)Familie gegenüber dem Staat liegt. 'Right or wrong, my family' dürfte in diesen weniger entwickelten Gesellschaften häufig der Grundsatz sein (so wie es ja auch in Europa, zumindest in der Vergangenheit, jedenfalls in den traditionellen südeuropäischen Gesellschaften der Fall war).
Eine solche Einstellung bzw. das daraus resultierende Verhalten (Vetternwirtschaft, Korruption) richtet sich gegen bzw. untergräbt potentiell die in der westlichen Welt geforderte primäre Bindung an den Staat, die ich allerdings für ein unverzichtbares Wesenselement der wissenschaftlich-technischen Zivilisation halte. Insofern kann es auf die Dauer bzw. in größerem Umfang keine Kompromisse geben, jedenfalls nicht innerhalb 'unserer' Zivilisation. Eine familienbasierte Gesellschaftsordnung wird niemals derart durchrationalisiert (im mentalen wie im organisatorischen Sinne) sein können, wie es unsere Gesellschaft ist und wie es m. E. überhaupt die Voraussetzung für eine moderne Gesellschaft ist.
[Nachtrag 28.05.07: Eine Linksammlung von "Zeit"-Artikeln zum Thema Islam -mit Schwerpunkt naturgemäß auf den Moslemen in Deutschland- dürfte interssant sein; ich selbst habe bisher nur den Aufsatz "Meinungsstark, aber ahnungslos" gelesen, in einer im Zug gefundenen "Zeit"; diesem Fund verdanke ich auch den Hinweis auf die vorgenannte Linksammlung. Thematisch einschlägig ist auch das Buch "Tödliche Toleranz. Die Muslime und unsere offene Gesellschaft", der Autoren Günther Lachmann und Ayaan Hirsi Ali, das ich aber weder direkt noch aus Rezensionen kenne.]
Beim Lesen von Pohls Beschreibung der Ziele des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad (S. 98/99) reibe ich mir verwundert die Augen: "Die Wahl von vernünftigen weisen Männern soll hierbei [d. h. im Rahmen der politischen Ziele von Ahmadinedschad] sicherstellen, dass nicht nur die Muslime, sondern die gesamte unterdrückte Welt nach dem Vernunftprinzip, dem Verstandesprinzip gerettet werden könne." Das ist ja großartig, dass der Bombenbauer Ahmadinedschad uns nach dem Vernunft- und Verstandesprinzip retten will! Also nix mit Religion? Da könnten wir ihn doch gleich als Retter aus unserer Welt der Irrationalitäten willkommen heißen! Auch Pohl empfiehlt uns übrigens, einen Bundeskonvent mit "unabhängigen weisen [zwar nicht unbedingt: Männern] Mitgliedern" einzurichten (S. 135, Szenario 2 und 3). Von Ahmadinedschad lernen = siegen lernen? Oder welchen anderen Erkenntnisgewinn soll der/die Leser(in) aus dem Ahmadinedschad-Absatz heimtragen? (Man könnte diese Passage zwar für Scheinlob halten, aber Ironie als Stilmittel kann ich sonst nirgendwo in seinem Buch entdecken.)
Mein Kopfschütteln weicht aber rasch dem blankem Entsetzen, wenn ich auf S. 99 lese: "Fest steht, dass zurzeit offener Krieg zwischen den Religionen herrscht - insbesondere zwischen dem Islam und dem Christentum und dem Judentum."
Zunächst einmal kämpft nicht "der" Islam gegen "das" Judentum, sondern die Palästinenser (freilich mit breiter, aber vorwiegend moralischer - teilweise auch finanzieller - Unterstützung aus der moslemischen Welt) kämpfen gegen die Israelis. Das ist primär ein territorialer Konflikt, der zwar durch die unterschiedlichen Religionen verschärft wird, dessen Ursachen aber nicht in einer so zu sagen 'kulturgenetischen' islamischen Aggressivität zu suchen sind.
Sodann gibt es sicherlich Konflikte zwischen Moslems und anderen Religionen, die in islamischen Ländern nicht die gleichen Freiheiten genießen wie bei uns. (Wir müssen uns nicht dafür entschuldigen -das wäre sinnlos-, sollten es aber auch nicht vergessen, dass unser Christentum lange Zeit sogar noch intoleranter gegen Andersgläubige war als viele muslimische Staaten.) Aber auf die Idee, aus der Existenz einiger (islamistischer) Terroristen einen "Krieg zwischen den Religionen" (den man dann ja wohl als Krieg der Islamisten gegen das Christentum bezeichnen müsste) zu konstruieren, käme nicht einmal das 'Revolverblatt'; sogar den Journalisten der Bild-Zeitung traue ich genügend Verantwortungsgefühl zu, um nicht derartige Slogans in die Welt zu setzen (allenfalls in Frageform, und nur bei einem außergewöhnlichen Terroranschlag wie "9/11", kann ich mir dort eine entsprechende Schlagzeile vorstellen).
Obwohl auch ich vom Grundsatz her die Kopftuchträgerei als Demonstration gegen die westliche Zivilisation verstehe und sie deshalb ablehne bzw. sie mir unheimlich ist, erlebe ich persönlich keine Konflikte, schon gar keine kriegsähnlichen, wenn ich als Kunde in die Döneria oder den türkischen Lebensmittel-Laden gehe, oder wenn Muslime als Kunden zu mir kommen. Da geht es sehr zivilisiert und nicht selten freundlich zu; es gibt keine Probleme und ich verspüre (und verbreite) keinerlei Animositäten.
Vielleicht hätte Pohl ein differenzierteres Bild des Konflikts, wenn er den Aufsatz "Die islamische Welt und der internationale Terrorismus" (S. 28ff. in dieser pdf-Publikation der Evangelischen Akademie Tutzing)von Prof. Dr. Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts (Hamburg) gelesen hätte, wo dieser die Hintergründe des islamistischen Terrors gegen den Westen erläutert.
Natürlich müssen wir wachsam sein und die westlichen Werte insoweit, als sie eine notwendige Grundlage der Moderne sind, aktiv verteidigen und auch weltweit zu verbreiten suchen. Wir müssen aber auch wachsam sein, dass die zweifellos vorhandenen Kulturen-Gegensätze und Kulturenkonflikte nicht für fremde Zwecke außenpolitisch instrumentalisiert werden. (Das unterstelle ich zwar nicht Pohl und den meisten anderen Islam-kritischen Personen und Organisationen per se -sonst müsste ich es auch mir selbst vermuten-, kann es mir aber bei einigen politischen Aktivisten, speziell in den USA, durchaus als denkbares Motiv vorstellen).
Einen "Wettbewerb ... [der] Kulturen und Religionen" will Pohl zulassen und warnt: "Wer ... [dagegen] protestiert, möchte andere Kulturen und Religionen verhindern" (S. 101). Andere Religionen lassen wir ja auch durchaus zu, aber zumindest innerhalb unserer eigenen Zivilisationen können wir keine kulturellen Neben-Götter, etwa in Form von Zwangsheiraten usw., dulden. Und beispielsweise Korruptions-Kultur, oder die Kultur des Diebstahls von geistigem Eigentum usw. können wir auch weltweit nicht akzeptieren. "Kultur" ist ja in dem Sinne, wie das Wort hier gebraucht wird, ein wertfreier Begriff, und nicht etwa mit dem "Wahren, Schönen, Guten" gleich zu setzen. Auch die militaristische Tradition Preußens war ein Aspekt seiner (unserer) Kultur; die Mafia ist ein Aspekt der sizilianischen usw. Kultur (und das organisierte Verbrechen gehört in der einen oder anderen Form offenbar zu jeder Kultur). In diesem Sinne gehört auch die Piraterie zur Kultur (hauptsächlich) einiger Gegenden in Südostasien (vgl. z. B. diese Landkarte "IMB live piracy map"); das alles wollen wir zweifelsohne nicht tolerieren.
Ein neues Bildungssystem fordert Pohl, mit den "zentralen Faktoren ... Kultur und Religion" (S. 102; dahinter muss man sich wohl einen Punkt denken, weil der Folgesatz "die internationalen Informations- und Netzwerke ...unterliegen" ein eigenes Subjekt hat und grammatikalisch nicht mit dem Vor-Satz zusammen passt. Im übrigen gehört er auch gedanklich nicht in den Ausbildungs-Kontext, sondern betrifft Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft usw.).
"Die wichtigsten Fächer im Kindergarten, in der Grundschule, in der Realschule, am Gymnasium und an den Universitäten sind Religion und Kultur" meint (bzw. eigentlich: fordert) Pohl (noch S. 102). Religion vielleicht als Pflichtfach an der Universität? Da müsste das Herz jedes eingefleischten Islamisten Freudensprünge machen!
Und überhaupt: welche Religion, welche Kultur will Pohl hier lehren lassen? Die christliche? Oder jedem nach seinem Gusto - aber was macht man mit den gar nicht so wenigen Heiden (Agnostikern, Atheisten, Pantheisten) wie mir? Müssen die auch zum Religionsunterricht gehen? Und was wird im Fach "Kultur" gelehrt? Und kriegen dann auch die Kreationisten einen Lehrstuhl? Und was lernen die Chinesen und Inder, während unsere Jugend mit Religion und Kultur indoktriniert wird? Wahrscheinlich Mathematik, Naturwissenschaften, Ingenieurswissenschaften! Dann können wir den "Weißen Mann" gleich begraben!
Von diesen Feinheiten abgesehen sollen wir ja, auch nach Meinung von Pohl, aus der Geschichte lernen. Also: was sagt uns die Geschichte etwa über den Erfolg der marxistischen Indoktrinationen in den früheren Ostblockstaaten und der DDR? Und wieso sollte eine religiöse Indoktrination, ausgerechnet im Entschlüsselungsjahrhundert, bessere Erfolge zeitigen als seinerzeit die marxistische Gehirnwäsche?
Die Auseinandersetzung mit Kultur und Religion soll u. a. auch Integrationsdefizite beseitigen (S. 103): Also will er die anderen in unsere Kultur integrieren - oder was sonst habe ich mir darunter vorzustellen? (Ich habe im Prinzip nichts gegen eine solche Integration und halte sie auch für erforderlich; aber ein freier Wettbewerb der Kulturen und Religionen ist das, jedenfalls innerhalb unserer eigenen Zivilisation, dann nicht mehr!)
Pohl will die global agierenden Unternehmen in die Pflicht nehmen, ein globales "Corporate Culture Institute" gründen, das "weltweit die Bereiche eines neuen Bildungsbewusstseins abdecken soll" (S. 103). Und was sollen die Unternehmen für die Kultur tun? Helfen, "dass die Bildungssysteme in allen Ländern ... allen Menschen den gleichen Wissensstand vermitteln" (S. 104). Also was nun - den gleichen Wissenstand oder die jeweils spezifische Kultur- und Religionseinbettung, die Pohl gerade eben noch als Hauptziel der schulischen und universitären (Aus-)Bildung ausgemacht hatte? Das passt nicht zusammen, es sei denn, er wollte weltweit für unsere Kultur missionieren: aber das will er ja angeblich nicht.
Den "amerikanischen Way of Life", der nach seiner (nicht abwegigen, aber doch wohl übertreibenden) Meinung die internationalen Organisationen beherrscht, lehnt er gleichfalls als Vorbild für die Welt ab. Ich mag natürlich auch nicht alles, was von drüben kommt. Aber so, wie im Europa der frühen Neuzeit erst die spanische und dann die französisches Kultur (und Mode) der Völkervielfalt eine Art übergeordneter Einheit gab (die nicht aufgezwungen war, sondern sich durch Imitation verbreitete), könnten in unseren Tage die Moden (im weitesten Sinne) der heute dominierenden Macht einen Rahmen setzen, in welchen sich die Menschen weltweit freiwillig und gern einfügen (Jeans, Coca-Cola, Hamburger, Filme usw.). Letztlich wird (wenn ich hier mal ein tendenziell positives Szenario zu Grunde lege) die Menschheit die Welt ohne eine Art von "Globalkultur" nicht befrieden und die für eine Lösung (falls sie überhaupt lösbar sind) der weltweiten Probleme nötige Zusammenarbeit nicht ins Werk setzen können, und auch nicht "allen Menschen den gleichen Wissensstand ... vermitteln".
Irgendwie begreife ich nicht, was Pohl konkret vorschwebt, wenn er über "Unternehmen und [globale] Kultur" schreibt. Es hilft mir auch nicht, wenn ich (S. 104/105) erfahre, dass "das entscheidende Kriterium [für eine effektive Sponsoring-Arbeit globaler Unternehmen] ... ihr Engagement bei der Fortentwicklung der Evolution der Menschheit" bilde, "was nichts anderes bedeutet, als dass sie in der Globalisierung eine zentrale Verantwortung für alle Regionen der Welt übernehmen".
Abgesehen davon, dass ich mir unter einer "zentralen Verantwortung der global tätigen Unternehmen für alle Regionen der Welt" konkret nichts vorstellen kann, ist gleichwohl vorhersehbar, dass diejenigen, welche Pohl zu den Objekten einer Verantwortung der Unternehmen machen will, davon wenig begeistert und die Unternehmen (und die Urheber solcher Vorschläge) zweifellos des Neo-Kolonialismus' verdächtigen werden. Tatsächlich will er, der soeben noch freie Konkurrenz zwischen den Kulturen und Religionen propagierte, ganz offenkundig "Korruption, Rechtsunsicherheit, undemokratische Strukturen [lt. einer Passage S. 96/97 sollten wir aber gerade nicht versuchen, dem Rest der Welt Demokratie aufzuzwingen!], Kindersterblichkeit, Sexismus und Analphabetentum" (S. 105) "ausrotten" (S. 106).
Die Unternehmen seien "verantwortlich (sic!) für die Werte, Einstellungen, Glaubensüberzeugungen, Orientierungen und Grundvoraussetzungen, die Menschen einer Gesellschaft prägen", sie müssten "ihre Kulturaktivitäten dahingehend ausrichten, dass unterschiedlich strukturierte Gesellschaften ihre kulturellen Eigenheiten [ausgenommen natürlich diejenigen Eigenheiten, die wir als unmenschlich empfinden] bewahren können und trotzdem für den Fortschritt und die Ökonomie der Zukunft offen sind".
Also, man kann ja über die amerikanischen Neokonservativen sagen, was man will: aber die können ehrlich charmanter und überzeugender heucheln! Wenn ich etwa in dem (in indirekter Rede wiedergegebenen) Interview "White man's burden" von Ari Shavit (erschienen in der israelischen Zeitung Haaretz, 04/04/03) mit (u. a.) William Kristol über die ideologische Begründung des Irak-Krieges lese:
"America has a need to offer something that transcends a life of comfort, that goes beyond material success. Therefore, because of their ideals, the Americans accepted what the neoconservatives proposed. They didn't want to fight a war over interests, but over values. They wanted a war driven by a moral vision. They wanted to hitch their wagon to something bigger than themselves" [Hervorhebung von mir] dann stehe ich open-mouthed vor der schillernden Pracht eines solchen rhetorischen Purpurmantels des amerikanischen (Ressourcen-?)Imperialismus. (Die Bewunderung ist natürlich rein technisch gemeint; ansonsten vgl. meinen Eintrag "Washington – Segesta – Athen – Tel Aviv: William Kristol und der peloponnesische Krieg". Nebenbei bemerkt: Wenn man dort liest, dass Kristol uns weismachen wollte, der Libanon-Krieg sei kein arabisch-israelischer Krieg, sondern ein islamistisch-israelischer und das eigentliche Angriffsziel sei die liberal-demokratische Zivilisation, dann gewinnt auch die Meinung an Glaubwürdigkeit, dass einige der eifrigen amerikanischen Kulturkämpfer keineswegs -nur oder überhaupt- US-Interessen verfolgen.)
[Im übrigen kann ich mir lebhaft vorstellen, mit welchen Maßnahmen etwa ein Tun Mahathir bin Mohamad reagiert hätte, wenn etwa die in Malaysia stark investierte BASF AG sich angemaßt hätte, 'Verantwortung für die dortigen Werte' zu übernehmen!]
"Freier Markt, Wettbewerb, Kapitalismus sind keine rein ökonomischen Fakten, sondern sie sind selbst Kultur" stellt Pohl zutreffend fest (S. 106). Eben! Und da wir auf diese unsere Spielregeln nicht verzichten wollen (und nicht verzichten können, ohne das Wesen unserer Kultur zu verleugnen) müssen wir den Rest der Welt auf die eine oder andere Weise davon überzeugen suchen, diese Kulturelemente zu übernehmen. Das tun die Amerikaner etwas nachdrücklicher als wir, aber sie tun es auch in unserem Interesse. Wir tadeln sie - und sahnen quasi als Maraudeure hinter der Front ab: vielleicht sollten wir Europäer die derzeitige Weltkonstellation gelegentlich selbstkritisch daraufhin untersuchen, ob nicht auch das eine zutreffende Beschreibung der aktuellen Lage sein könnte?
Die globalisierten Unternehmen sollen mithelfen, "dass Kultur nicht zu einem Hindernis, sondern zum Motor von kultureller Entwicklung wird": was anderes heißt das, als dass die Unternehmen mithelfen sollen, die störenden Elemente anderer Kulturen zu annihilieren? Wie gesagt: grundsätzlich können wir gar nicht anders, als so zu operieren. Aber das sollte man dann auch offen sagen - oder aber mit dem scheinethischen Pathos nach Art eines William Kristol und der anderen Neocons kaschieren. So, wie Sie das ins Werk setzen Herr Pohl, sieht der Osama ja schon mit dem Krückstock, worauf Sie hinaus wollen (auch wenn Sie selbst es wahrscheinlich nicht merken bzw. sich nicht eingestehen).
Seitenlang geht es so weiter: "Die Beziehungen zwischen Kultur und politischer und wirtschaftlicher Entwicklung [müssen] so gestaltet werden, um erfolgreich und nachhaltig handeln zu können" (S. 107) lese ich als 'Kultur (im engeren Sinne) muss unter dem Primat der Wirtschaft spuren'. [Das sehe ich in gewisser Hinsicht zwar auch als unvermeidlich an, weil: 'ohne Kohle kein Feuer'. Aber wenigstens mache ich mir selbst insoweit nichts vor und verstecke meine Meinung nicht hinter rhetorischen Musseline-Schleiern. Wenn man schon etwas verbergen will, empfiehlt sich ein dickeres Tuch: blaues Segeltuch vielleicht?].
Konkret wird es endlich auf S. 108. Die Ausgaben der 60.000 global agierenden Untnerhmen für Kulturaktivitäten beziffert er mit 100 Mrd. Dollar; davon will er die Hälft "sinnvoll koordiniert und nachhaltig eingesetzt" wissen, also wohl für eine Art kultureller Entwicklungshilfe.
Als Beispiel führt er im folgenden Absatz Indonesien an, wo die 50 führenden Weltunternehmen alle Schulen mit Hard- und Software ausrüsten sollten. Na gut, meinetwegen (obwohl ich als Unternehmenslenker erhebliche Einwände hätte, weil Geld, das zunächst in einen großen Topf spendiert wird, meinem Konzern keinen Goodwill bringt - dafür aber rasch Begehrlichkeiten und Gewöhnungseffekte auslösen kann). Aber das hat mit Pohls vorher proklamierter "Verantwortung für Werte" nicht mehr viel zu tun: das ist einfach eine Art freiwilliger Selbstbesteuerung. Den Ländern, denen das zu Gute kommen soll, wird das zweifelsfrei lieber sein, als wenn die Konzerne anfangen, sich um ihre Werte zu kümmern.
Selbst wenn Pohl lediglich eine Umverteilung der von den Firmen schon jetzt (insgesamt) aufgewendeten Mitteln im Sinn hätte, stellt sich die Frage, woher (d. h. aus welchen Gewinnen) die Spenden sprudeln sollen. Kommen sie aus den Gewinnen der Firmen in den jeweiligen unterentwickelten Ländern, könnten die das als Indiz dafür sehen, dass sie die Unternehmenssteuern zu niedrig angesetzt haben. Warum sollen sie sich schenken lassen, was sie, unter dem Primat der Politik, von den Firmen fordern könnten? Und außerdem würden, wenn die Spenden absetzbar wären, diese wiederum das Steueraufkommen in diesen Ländern mindern.
Kommen sie (großenteils) aus einer Umschichtung von Ausgaben, mit denen die Firmen bislang in unseren Breitengraden die Kultur gefördert haben, wird das Geschrei der Kulturschaffenden groß sein. Auch wenn die Intelligentsia (die linke jedenfalls, aber auf der Rechten ist diese Menschensorte ohnehin unterrepräsentiert) immer vorneweg marschiert, wenn es darum geht, anderer Leute (Steuer-)Geld gen Süden zu senden (weil "wir" ja soooo reich sind ...): an den eigenen Fleischtöpfen möchte sie dann doch nicht gespart wissen. Die Kritik würde sich, vorhersehbar, aber natürlich nicht gegen die verstärkte Förderung der Entwicklungsländer durch die Industrie richten; vielmehr würde man mit der ungeniertesten Selbstverständlichkeit die bisherigen Sponsoringleistungen als zusätzliche Zahlungen verlangen.
Davon abgesehen, würden aber natürlich diese Gelder in unserer Volkswirtschaft tatsächlich fehlen, wenn sie umgelenkt würden: einige Künstler müssten auf Alg II umsatteln usw.
Nach Pohls Ausführungen S. 111 muss man jedoch annehmen, dass er vielmehr auf eine Erhöhung der Sponsoring-Ausgaben der Unternehmen hinaus will: "... ich glaube, dass ein Unternehmen, dass sechs Milliarden Dollar Gewinn erwirtschaftet, den Shareholdern klarmachen soll, die Hälfte für die Bildung der Jugend in den armen Ländern auszugeben, wo sie billigst produzieren ..., ohne dass die Bürger dieser Rohstoffreichen Länder einen Niutzen davon haben ... ". Bei solchen 'antikapitalistischen' Äußerungen müsste eigentlich sogar ein Linker wie Thomas Wagner begeistert applaudieren - und diese spendierfreudigen Kumpane mit der anderen ideologischen Feldpostnummer würden natürlich ebenso wie Pohl die Risiken und Nebenwirkungen ausblenden. Denn fiskalisch würde eine solche Spendenfreudigkeit der Industrie die zu versteuernden Gewinne (im Unternehmen und/oder bei den Anteilseignern) mindern, so dass es zu Steuerausfällen käme. Diese würde (müsste?)die Politik zweifellos durch Steuererhöhungen -etwa mit der bekannten Begründung: 'In anderen Ländern ist die Mehrwertsteuer noch höher'- wieder ausgleichen. Am Ende zahlt also wieder das kleine Frauchen und der kleine Mann die (bzw. einen großen Teil der) Rechnung. (Und wird, je mehr man ihn an der Politik beteiligt, um so heftiger dagegen opponieren.)
Die außen-, innen-, finanz- und gesellschafts-politischen sowie die wirtschaftlichen Zusammenhänge sind also selbst bei einem so "einfachen" Thema durchaus um einiges komplexer, als Pohl zu reflektieren bereit ist.
Einigermaßen pikant - da Prof. Pohl ja Insider ist - sind seine Ausführungen S. 109:
"Viele Vorstände in Unternehmen, wie Banken, Versicherungen usw., die für die Kultur zuständig sind, haben zu wenig Ahnung. Ein Theater zu finanzieren, eine Gemäldesammlung zu eröffnen oder eine Oper zu besuchen, hat noch lange nichts mit Kultur zu tun. Viele verwechseln zudem Kultur mit Oper, Theater und Kunst und verengen den Kulturbegriff derart, dass nur noch ein drittklassiges Sponsoring übrig bleibt und das oft noch dort, wo es wenig bewirkt. Immer noch ist Sponsoring von den Interessenfeldern, den Hobbys, einzelner Vorstandasmitglieder abhängig. ... usw."
Wenn er als Insider das sagt, wird das wohl zutreffen. Es hat nicht direkt mit Sponsoring zu tun, aber seine Kritik an der Verwechselung von Kultur mit (so darf man ihn wohl zusammenfassend interpretieren:) Hochkultur erinnert mich an meinen Blott "Metooston", in welchem ich die fehlende Kreativität der Frankfurter Kulturpolitik kritisiert habe.
[Als die Verwendung der ehemaligen Großmarkthalle im Frankfurter Osten (die demnächst in den Neubau der Europäischen Zentralbank integriert wird) noch diskutiert wurde (lange vor meinem Blog-Eintrag), hatte ich in einem Brief an den damaligen Frankfurter (Hoch-)Kultur-Dezernenten Hilmar Hoffmann vorgeschlagen, dort ein Umwelt-Museum einzurichten. Nicht eine der üblichen Wunder- oder Plunderkammern, wo man kulturelle Zimelien im Original akkumuliert wie einst die Wunder wirkenden Heiligen-Knochen in prunkvoll geschmückten Altaraufsätzen. Vielmehr eine moderne Darstellung, ein Ort nicht für andächtige Bewunderung, sondern für interaktives Infotainment über das, was wichtiger ist als Kunst-Reliquien oder Religions-Relikte: unsere Umwelt, unser Lebensraum. Das wäre (wenn man es in großem Maßstab aufgezogen hätte) weltweit einmalig gewesen (oder irre ich?), es hätte, mit entsprechenden Show-Elementen aufgezogen, eine ganz große Frankfurter Attraktion werden können: für Frankfurt Stadtmarketing mit Hilfe eines Alleinstellungsmerkmals, und zugleich für Deutschland und die Menschheit ein Signal, (auf) das zu achten, was wirklich wichtig ist.
Stattdessen hat man das Main-Ufer mit Museen vollgestellt und wartet nun darauf, dass Unternehmen und Privatleute Geld für das Füllmaterial springen lassen.
Gut ist - Kulturgerede hin und her - in dieser wenig originellen Vorstellung nur, was teuer ist. "Auch haben", heißt es bei den Kindern, und die Frankfurter Verantwortlichen liegen in dieser Hinsicht noch voll in den Windeln. Aber da können sie noch so viel rein...: gegen München und Berlin, oder gar Paris, London, New York, können die südhessischen Handkäsekonsumenten sowieso nicht anstinken.]
Okay, das war ein etwas (zu) langer Exkurs an den Main; kehren wir zurück zu unserem main subject weltweiter Kulturförderung.
Im Hintergrund dieses Diskurses über die sachliche und regionale Gewichtung lauert die Frage nach der Objektivierbarkeit und überhaupt der Vergleichbarkeit. Wie erkenne ich, was wichtiger ist; und ist es überhaupt grundsätzlich richtig, Projekte nach einer objektiven Rangskala (wenn sie denn möglich oder jedenfalls konsensfähig wäre) zu fördern? Während bei uns die Staatsknete in jedes historisches Sch.haus versenkt wird, oder z. B. die Frankfurter Großmarkthalle zum "baukulturell für Deutschland so wichtigen Bauwerk der Moderne" hochgejubelt, gammeln anderen Orts höchstklassige Monumente vergangener Kulturen vor sich hin oder werden archäologische Stätten ausgeräubert. "Richtig" wäre es natürlich, wenn wir dort (mehr) Geld hinschicken würden, uns in armen Ländern (oder auch in einem an erstrangigen Kulturstätten überreichen "reichen" Land wie Italien) massiv(er) an der Sicherung wirklich erstklassiger Monumente beteiligen würden.
Andererseits geht uns [und das dürfte mutatis mutandis auch für das Firmen-Sponsoring gelten!] jeglicher Bezug zu dem aufgebrachten Geld verloren, wenn es irgendwo in der Ferne verschwindet. Auch wenn die Denkmäler unserer Heimat bei einer vergleichenden Betrachtungsweise einen geringeren oder sogar einen geringen künstlerischen und/oder historischen Wert im 'Binnenvergleich' haben, sind sie doch Teile unserer unmittelbaren Umgebung und damit auch unserer Identität. Welche Folgen hat es für uns, wenn wir diese Dinge verkommen lassen oder abreißen? Zugegebenermaßen habe ich selbst erhebliche Zweifel, ob wir es uns -derzeit und mehr noch in der Zukunft- leisten können und sollten, die Verdenkmalung unserer Republik im bisherigen Umfang aufrecht zu erhalten oder gar noch voran zu treiben: vgl. dazu z. B. "Renten sichern - Wehrfriedhofsmauer zerfallen lassen!" Ich persönlich könnte mir auch umgekehrt (dennoch) durchaus vorstellen, in exzeptionellen Fällen eine Verwendung "meiner" Steuergelder zur Erhaltung von Monumenten im Ausland zu billigen. (Stinken würde es mir freilich, wenn meine Gelder im stinkenden Venedig die Immobilienbesitzer noch fetter füttern würden; wie überhaupt die Lastenverteilung diskutiert werden muss, wenn Private einen disproportionalen Nutzen aus staatlichen Kultur- wie auch sonstigen Investitionen ziehen). Aber in größerem Umfang erscheinen staatliche "Transferleistungen" von Deutschland bzw. den reichen Ländern allgemein in die ärmeren Länder weder machbar noch wünschenswert und würden lediglich der Politikverdrossenheit, Staatsferne und Steuervermeidung bei uns weiteren Vorschub leisten. Ohnehin würden die Welt-Spendierhosen unserer Regierung enger (geschneidert) werden, wenn unser politisches System (wie Pohl an anderer Stelle vorschlägt) mehr plebiszitäre Elemente inkorporieren würde.
Eben wegen der recht fragwürdigen Frage nach der 'Priorisierbarkeit' von Kultursponsoring frage ich mich, ob in dem von Pohl kritisierten Beispiel (S. 109; man darf da wohl einen realen Hintergrund unterstellen) nicht die Finanzmittel, die ein industrieller "Regionalfürst" deshalb in ein Krankenhausprojekt in einem Schwellenland steckt, weil seine Frau die Initiatorin ist, im Sinne einer internationalen Völkerverständigung besser investiert sind als wenn das Unternehmen den Schulen Computer spendieren würde?
Denn hinter dem Krankenhausprojekt steht das persönliche Engagement einer Person (Frau, offenbar aus dem Westen), nicht einer relativ anonymen Organisation. Für die Kranken und alle anderen, die sonst von der Sache erfahren oder positiv betroffen sind (Klinikmitarbeiter, Angehörige der Kranken) wird humanitäres Engagement und mitmenschliche Solidarität hier als ein persönliches Anliegen und Handeln "der Weißen" erlebbar, statt als Ziffer auf einem Scheck.
Auch bei diesem Beispiel lassen sich also gut begründbare Einwände gegen Pohls Vorstellungen von einem generalstabsmäßig (nicht Pohls Ausdruck, passt aber z. B. für seine auf S. 110 aufgelistete Strategie für 'Corporate Culture') organisierten Welt-Kultursponsoring der internationalen Unternehmen vorbringen.
Die Demokratie ist ein Lichtblick in der Menschheitsgeschichte (wenn auch vermutlich ein sehr wohlstandsabhängiger). Im vierten Kapitel ("Demokratie - Herrschaft gegen das Volk?" - S. 113 ff.) von Pohls Buch erscheint sie, in ihrer konkreten Form, freilich eher als Höllenschlund für brave Bürgerseelen und die Politiker als Füsten der Finsternis.
Eine Entfremdung zwischen Bürgern und Politik ist mit Sicherheit kein neues Phänomen. Gewiss, das politische Engagement - großenteils allerdings an den ideologischen Außenflügeln - der Bürger mag z. B. in der Zeit der Weimarer Republik größer gewesen sein, d. h. ich kann mir vorstellen, dass sich damals mehr Menschen in politischen Parteien und anderen Organisationen (Rotfront, Stahlhelm, SA, SS usw.) organisiert haben. Damals ging es ja auch tatsächlich um das, wozu die Konservativen heute gern die Wahlen hochstilisieren, sofern sie glauben, mit ihrem lahmen roten Popanz noch irgendwelche alten Mütterchen verschrecken zu können: eine Richtungsentscheidung.
Es ist ganz natürlich, dass politische Alternativen wie "Sozialismus" oder "Kapitalismus", wenn sie als reale und gleich wahrscheinliche Möglichkeiten im Raum stehen, die Menschen an die Wahlurnen locken und in die Säle und ggf. auch auf die Straßen treiben. Aber zum einen war das nicht in allen Fällen diejenige Art von Engagement, die wir uns heute wünschen. Und zum anderen können wir ja doch froh sein, dass man sich heute allenfalls über irgendwelche Prozentpunkte bei Leistungs- oder Steuererhöhungen (in relativ ziviler Form) in die Haare kriegt, und nicht mehr mit Parolen wie "Blutsauger" oder "Rassenschädlinge" gegenseitig die Haare in den Schädel haut.
Bewirken konnte der Einzelne als Einzelner natürlich in der Zeit der Weimarer Republik so wenig wie (bzw. wahrschenlich sogar noch weniger als) heute (wo er immerhin größere Möglichkeiten hat, juristisch für seine -mehr oder weniger legitimen- Interessen zu kämpfen).
Aber Pohls Behauptung (S. 113), dass eine Lücke klafft zwischen dem, was "den Bürgern nützt" und "dem, was die Politiker wollen oder können" ist, wie alle populären Meinungen und Sprüche dieser Art, allein schon deshalb falsch, weil es "den" Bürger nicht gibt. Auch Pohls Annahme, dass "die Bürger ... klare Äußerungen" interessieren, ist blauäugig. Die Bürger - jeder in seiner Interessenposition als Arbeitnehmer, Selbständiger, Aktionär, Kranker, Arzt, Rentner Student usw. sind zuallererst an der Interessenwahrung interessiert. Für diejenigen, die etwas zu ergattern hoffen oder zu verteidigen haben, können die Regeln gar nicht kompliziert genug sein, Hauptsache, sie selbst sind die Nutznießer. Gewiss: nicht jeder Einzelne ist ständig nur auf seinen Vorteil aus und darauf bedacht, sich noch über den kleinsten Krümel mit anderen (Interessengruppen) zu streiten. Aber in dem Moment, wo er den politischen Raum betritt, ist er einfach gezwungen, für seine Interessenposition zu streiten. In alten Zeiten war das relativ einfach: Keule in die Hand genommen und los ging's. Heute hat man dafür Verbände, Lobbyisten, Parteien, Sachverständige, Wissenschaftler ... usw.
Und die Sache wird dadurch noch um einiges komplizierter, dass häufig nicht einmal auf der Ebene der einzelnen Person "das" Interesse sauber zu definieren ist. Eltern wollen Kindergeld haben, aber keine Steuererhöhung (und wenn sie ihre Kinder großgezogen haben, wollen sie kaum viel für die Kinder anderer zahlen, wenn sie selbst relativ wenig bekommen haben). Versicherte wollen niedrige Beiträge, aber hohe Leistungen; Arbeitnehmer wollen billige Arzneimittel; aber wenn sie in der Pharmaindustrie beschäftigt sind, kämpfen sie (d. h. ihre gewerkschaftlichen Vertreter) Seite an Seite mit den Kapital(interessen)vertretern dafür, dass die Krankenkassen auch in Zukunft möglichst viel für ihre und von ihren Pillen und Pülverchen, seien sie auch von fragwürdiger Wirksamkeit, bezahlen. Entsprechend wollen Arbeitgeber die Krankenkassenbeiträge senken, aber wenn sie in der Pharma-Branche tätig sind ... .
Und Beiträge zur Rentenversicherung möchte ich heute auch möglichst wenig einzahlen, aber später möglichst viel dafür bekommen.
Ich möchte heute Auto fahren, aber morgen keine Klimakatastrophe erleben usw.
Mit anderen Worten: das, was der Einzelne als sein Interesse versteht, kann schon in sich selbst widersprüchlich sein, und sich außerdem je nach Zeithorizont völlig konträr darstellen.
"Den" Bürger gibt es nicht, und deswegen auch nicht "den" Nutzen des Bürgers. Eben deshalb emergiert dieses in den Augen des Beobachters in der Tat unappetitlich erscheinende Gezerre und Gewürge auf der politischen Bühne z. B. bei der Gesundheitsreform. Denn hier sind zum einen unterschiedliche Interessengruppen am Werk. Die Einteilung in Beitragszahler (Versicherte und Arbeitgeber) einerseits und Leistungserbringer (Ärzte, Pharmaindustrie und andere 'Gesundheitsanbieter') andererseits ist selbst schon unvollständg, weil auch noch die organisatorischen (auf Landes- und Kommunalebene wahrscheinlich politisch gut verdrahteten) Eigeninteressen der Krankenkassen eine gewisse Rolle spielen.
Dazu kommt aber noch, dass, wie oben dargelegt, selbst die Interessen der Versicherten, bis hinunter zur einzelnen Person, in sich kontradiktorisch sind. Gordische Knoten mit dem Schwert durchhauen, der Hydra der "Lobbyisten" die Köpfe abschlagen, oder gar Regelungen einführen, die allseits als "weise" (diesen Begriff verwendet Pohl, wenn auch in anderem Zusammenhang, allen Ernstes - s. u.) empfunden werden: das ist schon deshalb unmöglich, weil sich Knoten und Köpfe in letzter Konsequenz nicht einmal immer klar identifizieren lassen.
Welche Fragen welcher Bürger sollen die Politiker in der Gesundheitspolitik beantworten (S. 113)? Die bange Frage der Selbständigen und Beamten, ob es eine Einheitsversicherung geben wird? Die angstvolle Frage der Armen, ob zukünftig alle den gleichen (Kopf-)Beitrag zahlen müssen? Die Frage der Industrie, wie die Politik die Lohnnebenkosten zu drücken gedenkt? Die Frage der Versicherten, auf welche Weise die Politik ihnen möglichst umfassende Leistungen spendieren will - oder die subjektiv davon säuberlich getrennte Frage, weshalb man so hohe Beiträge zahlen muss?
Eine Antwort hätten natürlich alle bejubelt: eine Entscheidung der Politiker, mehr Steuermittel für die Krankheitskosten auszuwerfen. Steuern zahlen wir doch sowieso, gelle? Das wäre eine einfache Antwort gewesen - ebenso einfach wie die unvermeidliche "Antwort" des Finanzministers: "Steuern erhöhen"!
Wären wir nicht zu faul oder zu tumb, uns diese Antwort schon antizipatorisch selbst zu geben, müssten wir ihre reale Umsetzung seltener erleiden. Aber wie sollen die Politiker einfache Antworten geben, wenn die Leute schon nicht verstehen, dass sie nichts geschenkt bekommen? Dass sie die Wohltaten der Politik sämtlich selbst bezahlen müssen?
Niklas Luhmann (vgl. dazu auch meinen Eintrag "LUHMANNIA oder ES BLITZT") hat in einem Interview (betitelt "Wahrheit ist nicht zentral", 1996 in dem zwischenzeitlich eingegangenen 'Sonntagsblatt' erschienen und jetzt leider nicht mehr im Internet erreichbar) eine nicht bloß kluge, sondern tatsächlich weise Aussage über den Spielraum gemacht, den Politiker heute haben:
"Die heutige Politik ist ja zwischen Richtern und öffentlicher Meinung eingeklemmt. Ihr Spielraum besteht aus dem, was das Verfassungsgericht zulässt und was die Öffentlichkeit als Resonanz gibt."
Es ist eben nicht die Dummheit, Bosheit oder Eigennützigkeit der Politiker (die zwar bei dieser Berufsgruppe ebenso vorkommen wie anderswo), welche sie daran hindert, die "richtigen" Entscheidungen zu treffen. Es sind die vielfältigen Zwänge, in denen sie lavieren müssen, die unterschiedlichen Zeithorizonte, für welche Maßnahmen durchzukalkulieren sind, und es ist letztlich die Tatsache, dass es "richtige" Entscheidungen einfach nicht gibt.
Ist es richtig, Studiengebühren zu erheben oder nicht? Ist es richtig, den Kohlebergbau auslaufen zu lassen oder (meine Meinung - vgl. Eintrag "Bergbau statt Blackout!") nicht? Ist es richtig, das Rentenalter auf 67 Jahre anzuheben, oder kommen wir mit 66 hin, oder müssen es 68 sein - und zu welchem Zeitpunkt setzen wir welchen Schwellenwert an? Sollen die Unternehmen größere Teile ihrer Gewinne in die Kultur von Entwicklungsländern investieren, statt sie an die Aktionäre auszuschütten? Sollten wir vielleicht gar die Entwicklungshilfe drastisch erhöhen - wo "wir" doch so reich und "die anderen" doch so arm sind?
Da sollte Pohl mal die Aktionäre und die Bürger fragen, wenn er sie wirklich ernsthaft beteiligen wollte: solche Gedanken könnte er von vornherein einstampfen, weil weit überwiegend negative Reaktionen bereits jetzt vorhersehbar sind.
Simpel sind die Überlegungen von Pohl; die Welt freilich ist ein klein wenig komplizierter in der Realität als in der Vorstellungswelt von Fritz und Lieschen Müller oder der Weisheitslehrer an der "Speakers' Corner" im Londoner Hyde Park.
Die Erklärungsmuster, die Pohl seinen Lesern für die Probleme der Politik und das (unbestreitbar vorhandene) Unbehagen vieler (vielleicht sogar der meisten) Bürger an der Politik liefert, haben (um hier einmal die in der anglophonen Umweltdebatte beliebte Invektive gegen die "flat earthers" zu adaptieren) die Qualität von Erdscheiben-Politologie.
Koalitionen behagen nicht nur Pohl wenig (S. 114): auch die Politiker sind sicherlich nicht wild darauf. Mag sein, dass diese das eine oder andere Wahlversprechen in der Tat "leichten Herzens" aufgeben: aber ihre eigenen politischen Positionen ganz gewiss nicht. "Schnellen Fußes" müssen sie schon deshalb handeln, weil die Alternative lange Interregnums-Perioden wären. Die waren schon im Mittelalter Schreckenszeiten; heute wären sie vielleicht sogar tödlich für unsere Demokratie.
Koalitionen werden den Politikern von den Wählern aufgezwungen, nicht den Bürgern von den Politikern (auch wenn vielleicht der Stammtisch Letzteres glaubt). Und schlecht sind sie auch nicht immer, denn ich kenne keine Partei die meinen Vorstellungen so entspricht, dass ich sie frohen Herzens wählen würde.
Berechtigt ist freilich seine Kritik an den Medien (noch S. 114), die "spotten kritisieren [und] heute diese und morgen eine andere Idee" forcieren. Es hat mich in der Tat immer heftig geärgert, wenn beispielsweise im Handelsblatt im Politik- und Wirtschaftsteil der Staat zum Sparen aufgefordert wurde, und im Feuilleton dann (als Übernahme aus der damals ebenfalls zur Holtzbrinck-Gruppe gehörenden Berliner Zeitung "Der Tagesspiegel") die opulenten Besitzstände des Berliner Kulturlebens (speziell die Opern) verteidigt wurden. (Auch dort waren die Autoren natürlich nie gegen das schlechthinnige Sparen an sich - aber wo es um ihre Herzensanliegen geht, wollten sie - wie die meisten anderen Bürger auch - doch lieber "intelligentes" Sparen sehen, oder "Umschichtungen" usw. . Und das sind bekanntlich nichts als Tarnbegriffe für "wasch mich, aber mach mich nicht nass!" oder "spart doch woanders!"
Aber auch Medien müssen sich verkaufen und damit, wie die Politik auch, konträre und kontradiktorische Wünsche verschiedener Gruppen von Bürgern abbilden, sogar im gleichen Blatt. Nicht ohne Grund sind schließlich die Parteiblätter, die konsequent(er) eine Linie halten, geschrumpft oder eingegangen.
Auf S. 114 unten scheint freilich plötzlich eine realistischere Sicht der Dinge durchzubrechen: "Andererseits weiß auch der Wähler, dass Politiker gehetzte und geplagte Menschen sind, die es niemandem recht machen können. Sie haben alle einen 16-Stunden-Tag und klagen, dass sie niemand versteht." Welche argumentative Zielsetzung er mit diesem einsamen Einschub verfolgt bleibt unklar, denn schon in den direkten Folgesätzen (S. 114/115) rollen, ohne dass ein gedanklicher Zusammenhang vermittelt würde, erneut die donnernden Brecher seiner Politikerbeschimpfung auf uns zu: "Sie treten als rechthaberische Erzieher auf, statt als Dienstleister. ... Auf der einen Seite stehen die Politiker und auf der anderen Seite die Bürger. ... Niemand denkt an die Menschen ... " ... usw., usf.
Kein Wunder, dass er bezweifelt "dass das Demokratiesystem in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern und in der EU, heute im Zeitalter der Globalisierung noch funktionsfähig ist." (S. 116)
Sein Rezept, rhetorisch zumindest: "Nicht weniger, sondern mehr Demokratie".
Nun kann freilich nicht jeder Bürger beliebig lange mit Angela plaudern, oder mit Münte oder wem "da oben" auch immer. Wie soll da der Bürger - als Einzelner - "mehr Macht und Einfluss" (S. 117) erhalten?
Das ist alles sehr nebulös. Wenn er von der "Kultur in einer Region" schwärmt, oder der "Eigentümlichkeit und Eigenart kultureller Formationen, die in der Region ihre Wurzeln haben" frage ich mich, ob er Deutschland balkanisieren will. Und leicht unheimlich wird mir bei seiner Forderung nach "Grundstrukturen ..., die eine vollkommene Übereinstimmung zwischen sozialen (ethnischen), politischen und kulturellen Formationen herausbilden" (S. 116). Ich will Pohl nichts Böses unterstellen und halte ihn schon deshalb nicht für hinterhältig, weil ich in dem vorliegenden Buchtext zwar alles Mögliche finde, aber keine bewusste politische Heuchelei oder Gerissenheit. Indes fasse ich mich doch vorsichtig an den Kragen, weil der mir bedenklich eng wird, wenn ich von "vollkommener Übereinstimmung" lese. "Ein Dings, ein Dongs, ein Bums" - im Gleichschritt sind wir schon einmal auf die Nase gefallen, gelle? Das will Pohl sicherlich nicht rekapitulieren (wollte er nicht sogar ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen fördern?), aber welche konkreten Vorstellungen verbindet er mit derartigen Organisationsidyllen? Und, egal was er will, wohin könnten solche romantisierenden Sozialvorstellungen führen? Für mich zählt das (mögliche oder wahrscheinliche) Ergebnis, nicht die gute oder edle Gesinnung (s. a. meinen kleinen Historienroman "Der Deutsche Wald: jenseits von Gut und Böse?" auf meiner Webseite "Drusenreich Teil 1").
Auch wenn es vielleicht nicht bei Goethe nachzulesen ist: es gibt nicht nur Geister, die Böses wollen und Gutes schaffen. Sehr viel öfter funktioniert dieser Mechanismus leider genau umgekehrt. Dass Pohl Gutes will, bezweifle ich gar nicht. Nur schwant mir, wenn ich mir seine Baupläne des Guten anschaue, Böses.
"Durchblick" will er für den Bürger schaffen, gegen den bürokratischen Moloch, speziell den eurokratischen in Brüssel (S. 118; auch an vielen anderen Stellen fordert er Transparenz, verständliche Gesetze usw.).
Es trifft allerdings zu, dass Europa nicht besonders demokratisch verfasst ist. Aber nach meiner Überzeugung war es gerade und nur deshalb in der Vergangenheit möglich, mit diesem merkwürdigen System verkrustete Strukturen (z. B. Wirtschaftsunternehmen in Staatshand) aufzubrechen. Die Politiker konnten auf Brüssel zeigen: 'Die sind Schuld'. Obwohl sie ja selbst die Regeln in Brüssel bestimmen. "Der" Bürger ist träge und strukturkonservativ (selbst wenn er politisch ein Sozi ist). Nur gegen den Bürger ließ sich in der Vergangenheit vieles in Fluss bringen, in einem raffinierten (und vielleicht nicht einmal den Politikern selbst voll bewussten) Billiardspiel über die Brüsseler Bande. Ich glaube nicht, dass Europas Anpassung an die Erfordernisse der Globalisierung ohne 'Brüssel' so weit fortgeschritten wären wie sie es, aller Kritik zum Trotz, wohl doch ist.
Allerdings stimme ich Prof. Pohl darin zu, dass Europa zu schnell wächst und dass sich derzeit keine politische Union der Europäischen Union und schon gar keine Großmachtstellung abzeichnet. Aber das sollte Pohl (im Gegensatz zu mir) eigentlich nicht bekümmern, denn schließlich wollte er doch den Rückzug in eine politische und kulturelle Regionalisierung antreten (d. h. nach meinem Verständnis eine Provinzialisierung Vorschub leisten)?
Dass "die Medien ... den unerschöpflich sich auftürmenden Berg von Gesetzen und Regeln nicht umfassend kommunizieren" können (S. 118), ist auch nicht neu. Schon die Lutherzeit kannte das Unbehagen am neuen (damals römischen) Recht. Das dürfte damals zwar quantitativ überschaubar gewesen sein, war aber inhatlich natürlich ebenfalls nur für die Spezialisten voll verständlich, d. h. für die studierten Juristen. Seit der Lutherzeit hat sich, auch in Deutschland, die Zahl der Menschen um einiges vermehrt, und die Welt ist um einiges komplizierter geworden. Neue Sachverhalte, immer mehr ausdifferenzierte Funktionsbereiche von Gesellschaft und Wirtschaft und mehr und mehr eine vielleicht sich ausbildende "Weltgesellschaft" ziehen naturgemäß einen erhöhten Regelungsbedarf nach sich, und da Juristen wahrscheinlich nicht so langatmig schreiben wollen, wie ich (z. B. meine vorliegende "Rezension" von Pohls Buch), sind sie gezwungen, zumindest teilweise ein eigenständiges Begriffssystem auszubilden - genau so, wie die Medizin, die Finanzwirtschaft, die Theologie, die Philosophie usw. das auch tun und tun müssen.
Selbst wenn die Gesetze in einfacherer Sprache formuliert wären, wäre "das Recht" schon wegen seines unvermeidlichen Regelungsumfangs insgesamt nicht überschaubar. Und diesen "umfassend" zu kommunizieren, war noch nie die Funktion der nicht-spezialisierten Medien.
Wie viele Menschen delektieren sich denn auch am Bundesgesetzblatt? Kann ja jeder kaufen, der so was lesen mag. Ist Pohl Abonnent?
"Medien dürfen mit Politik keine seichte Unterhaltung betreiben" fordert er auf S. 119. Jo mei: liest der Mann die Bild-Zeitung, oder betreibt die FAZ seichte Unterhaltung, oder will er der Bild-Zeitung die Leser vergraulen, indem er ihr FAZ-Niveau vorschreibt? Was die Frankfurter Allgemeine Zeitung angeht, kann ich für diesen Tagesschmöker der Gebildeten aller Schichten und Stände sogar eine linke Hand ins Feuer legen. Es ist zwar schon über dreißig Jahre her, aber damals, in den Post-68ern, beichtete mir mal ein Links-Extremer, dass er die FAZ als Informationsquelle sogar gegenüber der Frankfurter Rundschau präferiere. Mit anderen Worten: er zog das Zentralorgan der bundesdeutschen Bourgeoisie sogar der Frankfurter Prawda vor! Noch mehr Leser bevorzugen indes jenes Blatt mit eindeutig weniger, aber dafür deutlich größeren Buchstaben (und einer vielgepriesenen Sportberichterstattung). Da kann man nichts machen, außer die Schulen möglichst PISA-fest.
Für Pohl ist anscheinend alles einfach; ausdrücklich spricht er von "einfache[n] Reformen, wie in der Gesundheit, im Steuerrecht, in der Entbürokratisierung". Was davon nicht gleich (an der Dummheit der Politiker?) scheitert, ist "für eine Minderheit, z. B. den Lobbyisten" gemacht. Ach so: der Lobbyist vertritt also sich selbst?
Eine mutige Gewichtung nimmt Pohl in S. 120 unten vor, wenn er sagt, dass "viele Bürger nicht einsehen, warum eine Region im Umfeld von 40 Kilometern drei Opern mit 100 Millionen Euro subventioniert, während in den Schulen Musiklehrer fehlen, Deutsch nur ungenügend vermittelt wird und für Zukunftsfächer ... das Anschauungsmaterial fehlt." Mutig ist das insofern, als er hier offenbar ganz konkret die Situation in Südhessen (Opernhäuser in Frankfurt, Darmstadt und Wiesbaden) anvisiert und besonders den Menschen in seinen Kreisen die Opernhäuser vermutlich am Herzen liegen (wenn der Staat dafür bezahlt). Auch ich habe mich darüber geärgert, allerdings mehr über die Situation in Berlin, wo die Stadt pleite ist, mit drei Opernhäusern aber trotzdem weiter auf hohem Pegasus reitet (mit den Bundesbürgern als steuerzahlenden Steigbügelhaltern). Hätte da etwa noch das Bundesverfassungsgericht der Klage Berlins auf mehr Zahlungen aus dem großen Sautrog des Bundeshaushalts stattgegeben, dann hätte mein Justizvertrauen tatsächlich einen deutlichen Knacks bekommen. Aber ganz so blauäugig waren die roten Robenträger in Karlsruhe denn doch nicht, dass sie es den Berliner Politikern erlaubt hätten, ganz Deutschland die Berliner Populismuskosten aufbrummen. (Trotzdem zahlen wir schon genug dafür, wie auch z. B. für die Bremer Misswirtschaft.)
Die Subventionierung des bourgeoisen Opernvergnügens ist auch deshalb fragwürdig, weil die tendenziell vermutlich eher weniger wohlhabenden Besucher von Rock-Konzerten ihre Eintrittskarten teuer bezahlen müssen, während der Staat das Kulturvergnügen der tendenziell besser Betuchten viel Geld auswirft. [Das war meine soziologische Betrachtung der Dinge; privat war ich, als wir noch in Frankfurt wohnten, recht froh, dass der Operneintritt bezahlbar war :-)]
Mindestens drei weitere Male echauffiert sich Pohl über den Opern-Obulus der Kommunalpolitiker, nämlich:
- Auf S. 165, wo er seine Kritik auch auf andere Kultur-Groschen-Gräber ausdehnt ("Dabei muss jede Region für sich überlegen, ob sie drei oder vier Opern [die Zahl 4 dürfte, auf den hiesigen Raum bezogen, Mainz einschließen] oder sechs Theater oder 10 Museen für die zeitgenössische Kunst unterhält").
- Auf S. 166 ("Es grenzt angesichts der genannten Entwicklung [Chancen und Risiken der Globalisierung in einer sich rasch ändernden Welt] an Hybris und Hohn, wenn eine Region über drei oder vier Opern, Theater oder Museen diskutiert, während weltweit nicht einmal ein Prozent der Menschen Zugang zu derartigen Institutionen hat...") Bei "Hybris" muss ich in diesem Zusammenhang unwillkürlich an das berühmte Opernhaus "Teatro Amazonas" in Manaus, erbaut um 1900 zur Hoch-Zeit des Kautschuk-Booms, denken (hier zum -englischen- Wikipedia-Eintrag). Im übrigen fühle ich mich aber beim besten Willen (und aller Kritik am bourgeoisen Kulturspleen) nicht für die ganze Welt zuständig. Dass andere Staaten das westliche Entwicklungsniveau (noch?) nicht erreicht haben, ist für mich kein Grund, zu genießen, was "ich" "mir" erarbeitet habe. Eine gewisse weltweite Solidarität ist sicherlich eine gute Sache, aber es ist, wie ich oben anhand der Denkmäler schon beschrieben habe, einfach nicht möglich, unsere Prioritäten-Liste auf die ganze Welt auszudehen und das Geld dann weltweit nach Kriterien eines "objektiven" Bedarfs zu verteilen. Das gelingt ja nicht einmal in Deutschland (teilt Rüsselsheim seine Gewerbesteuer mit Frankfurt, wenn der Automarkt brummt?) und ein massiver Geldabfluss für irgendwelche dem Einzelnen intransparenten fernen Zwecke würde (berechtigt!) massive Motivationsprobleme und Politikfrust auslösen.
[Sogar mit der werblichen Erregung von Schuldgefühlen (vgl. meinen Blog-Eintrag "Wohltätige Gewissenserpressung?") lassen sich nur wenige Menschen ihr Geld aus der Tasche kitzeln.]
Auch wenn ich selbst gelegentlich gern weltsolidarisch denke: Zunächst einmal ist jeder (jedes Volk usw.) sich selbst der/das Nächste (und gerade Pohl will ja die Kommunen noch einmal in übersichtliche Kuschelgrößen mit ca. 10.000 Einwohnern - Quartiers - aufteilen, und viele kommunale Dienste an diese Basis verlegen).
- Schließlich legt er auf S. 192 noch einmal nach: "Die Frage, ob wir in einer Region im Umkreis von 40 Kilometern drei oder vier Opern brauchen, wird irrelevant". Recht hat er, aber es sind (wie er oben ja auch selbst angedeutet hat) nicht nur die Opern, aber auch nicht nur die Museen. Auch unsere extensive Denkmalpflege ist problematisch. Ganz unabhängig davon, wie viel Kultur wir uns in einer globalisierten und durchkommerzialisierten Welt noch leisten könnten, wird es schon im Hinblick auf unseren Bevölkerungsrückgang unmöglich sein, unsere Aktivitäten auf diesem (wie natürlich auch auf vielen anderen) Gebiet(en) zukünftig im bisherigen Umfang aufrecht zu erhalten. Zum einen fehlen die Arbeitskräfte, zum anderen wäre (oder muss man angesichts der "Rente mit 67" schon sagen: "ist"?) es doch pervers, dass uns (angeblich) das Geld für die Rentnerversorgung fehlt, auf anderen Gebieten aber nach dem Motto "weiter so" gewirtschaftet wird. [Vgl. über die zukünftig notwendige Prioritätenänderung auch den "Exkurs 'Die Alten' und 'Das Alte' " in meinem Papier "Sinn substituiert die Konjunktion: rettet er die Renten durch ökonomische Akzeleration" auf meiner Webseite "Rentenreich" sowie meinen Blog-Eintrag "Renten sichern - Wehrfriedhofsmauer zerfallen lassen!"; wobei es allerdings nicht um Opern, sondern um Museen und Denkmäler geht. Mit etwas anderer Akzentsetzung s. a. "Von wohltemperierten Madonnen und eiskalten Energieverschwendern"]
Mit einer geänderten Prioritätensetzung allein ist es natürlich nicht getan; auch die Finanzverteilung innerhalb der politischen Ebenen muss dann überprüft werden. So arm, wie die Kommunen tun, sind sie nämlich gar nicht; vielmehr haben sie nicht selten ihre Aufgaben inflationiert. Artotheken gehören nicht zur Daseinsvorsorge; Stadtpläne, Reiseführer usw. haben im Grunde in Stadtbibliotheken nichts zu suchen (solche über die eigene Stadt und allenfalls noch die Umgebung ausgenommen), und wieso muss eine Stadtbücherei Unterhaltungsliteratur anbieten? Das alles kann sich kaufen, wer mag. "Lesen" ist, aller Kulturideologie zum Trotz, kein Wert an sich. Konsalik, Simmel und die Bild-Zeitung können die Leute ruhig selbst bezahlen - oder Goethe in der Gutenberg-Bibliothek im Internet lesen, wenn sie kein Geld ausgeben wollen.
Überhaupt ist es eigentlich unglaublich (und da halte ich es nun wirklich für berechtigt, relative Wertungen aufzustellen), dass der Staat Opernhäuser finanziert, aber die Digitalisierung von Literatur großenteils privater Initiative überlässt, dass Brüssel gesundheitsschädlichen Tabak(anbau) subventioniert, und für nicht existente Tomaten Gelder in Mafia-Taschen versenkt, aber nicht gewillt oder in der Lage ist, brauchbare mehrsprachige Wörterbücher der europäischen Sprachen zu erstellen (hier denke ich z. B. an "LEO" als privates Vorbild).
Doch zurück zur Oper: deren Aufführungen sollten, wie vieles andere ja schließlich auch, entweder voll von den Zuschauern oder ganz oder teilweise werbefinanziert werden. Mit ein klein wenig Kreativität sind da ungeheure Möglichkeiten zu erschließen, von denen ich hier nur einige wenige andeuten will:
Freischütz / Jägerchor: Dazu ein Text-Laufband mit "Marlboro. Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer".
Die Konkurrenz von "West" wäre mit der "West Side Story" bestens bedient.
Wenn Gluck seinen Orpheus singen lässt "Ach ich habe sie verloren, all' mein Glück ist nun dahin", dann müsste ein Werbespot den Zuschauern erklären, dass damit er selbstverständlich den Verlust seiner edlen Armbanduhr von der Fa. "A. Lange & Söhne" beklagt.
Lucia di Lammermoor bietet nicht nur der schottischen Fremdenverkehrsvorlage eine prachtvolle Folie. Man könnte auch zur Arie "Die Kerzen leuchten" einen Spot einblenden beispielsweise mit dem Text: "Wahnsinn! Selbst Schotten zünden reine Bienenwachskerzen von Wabella an!"
Kann man sich für ein Bankprodukt eine bessere Werbeumgebung wünschen als die Arie des Rocco in Beethovens Fidelio "Hat man nicht auch Gold beineben"?
Tödliche Konflikte, wo eben einer den Dolch aus dem Gewande zieht, um Held oder Heroine abzumurksen, sind der Moment für deutsches Versicherungsdenken. Der Dirigent könnte kurz die Musik stoppen, sich zum Publikum umdrehen, mahnend den Taktstock erheben und deklamieren: "Hoffentlich Allianz-versichert!"
Überhaupt ließe sich so manche Bühnen-Blessur und mancher Bühnen-Exitus mit Pflastern von Hansaplast, Schmerztabletten wie Aspirin oder Togal usw. sehr viel humaner gestalten - und würde zugleich einen werblichen Zusatznutzen generieren.
Natürlich schwant Ihnen schon, dass ich Lohengrin im Sinne eines intelligenten Product-Placements mit einem Flügeltür-Silberpfeil vorfahren lassen würde, und dazu müsste eine Stimme aus dem Off ertönen: "Mercedes - mein lieber Schwan!"
Brechts 3-Groschen-Oper würden sicherlich die Aldi-Brothers sponsern wollen, aber die wahre werbliche Allzweck-Waffe wäre Gioacchino Rossinis "Wilhelm Tell": Äpfel aus Südtirol, Schweizer Tourismus-Werbung, Dart-Spiele, Hutfabrikanten: nichts, wass dieser Tausendsassa nicht bewerben könnte.
Sie halten mich vielleicht für einen Banausen, aber, wie ich an anderer Stelle nachgewiesen (bzw. leidvoll erfahren) habe, ist die Kultur ohnehin kommerzialisiert. Und dass Sie vermutlich einen durchgehenden Fernsehfilm ohne Pinkelpause für ein Zeichen von hoher Kultur halten, und noch nie von Brechts Verfremdungseffekten gehört haben: was kann ich dafür?
Adesso, torniamo pero zur Seite 121 und lesen und staunen, wenn Pohl fordert: "Das System selbst muss infrage gestellt werden". Klingt wie 68er-Generation, ist er ja auch, aber doch wohl keiner aus der Klar-Truppe gewesen?
Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Es muss nur "das System so angelegt sein, dass es nicht nur die Summe einzelner Teile darstellt, sondern dass die Menschen als soziale Wesen den überwiegenden Teil in Systemen, wie Familie, Schule, Kindergarten, Freundeskreis, Vereinen, Parteien und nicht zuletzt in Unternehmen verbringen" (noch s. 121). Hm, na ja, ich verbringe doch eigentlich meine Zeit im Unternehmen? Und den Rest mit der Lektüre von Büchern, z. B. dem vorliegende rezensierten Buch von Prof. Dr. Pohl. Soll ich das dann nicht mehr dürfen? Oder nur nicht vor dem PC sitzen und rezensieren? Lieber zum Je-Ka-Mi-Abend der Roten-Brigaden gehen?
Ein "gegliedertes Ganzes mit Ordnung und Struktur" will Pohl: ja verdammt, herrscht denn an seiner Uni das nackte Chaos? Oder macht in der Deutschen Bank jeder, was er will? Ich fürchte, da lugt so ein wenig ständisches Denken durch: jeder an seinen Gottgegebenen Platz (d. h. denjenigen Platz, den die herrschenden Götter der Gesellschaft ihm zu lassen bereit sind). Il quale à me non piacerebbe . Wir sind schon genug integriert, von Gesetzen und von sozialer Kontrolle umzingelt: eine soziale Verblockwartung brauchen wir wahrhaftig nicht!
Dass ich beispielsweise im System der Brigate Rosse (die Pohl natürlich nicht im Sinn hat), "ein entscheidender Faktor mit Rechten und Pflichten wäre" (S. 122) (falls es sie noch gäbe und ich mich dort engagiere wollte), dass ich im Taubenzüchter-Verein vielleicht gar zum Schriftführer aufsteigen und im Schachklub mindestens einen Trostpreis gewinnen könnte, will ich gar nicht bezweifeln. Aber damit ist die unvermeidliche Ohnmacht des Einzelnen auf der hochpolitischen Ebene ja nicht beseitigt. Ich schüttele den Kopf (Unverständnis und Ablehnung verbindend) und gehe weiter zum nächsten Ü-Satz (= Überraschungs-Satz): "Jeder Krieg, jede Krise, jede Seuche, jede Verringerung von Lebenschancen weltweit sind von den Nationalstaaten als tragende Elemente des internationalen Systems zu betrachten". Hä? Sollen wir jetzt Kriege führen, um das internationale System tragfähiger zu machen? Meint er zwar sicher nicht, hat sich lediglich etwas "awkward" ausgedrückt. In Wirklichkeit geht es ihm wohl eher darum, dass ich mich um die Luftverschmutzung in Mexiko City kümmern soll, oder in Peking, oder mir Sorgen machen über die Hungernden in Bombay und die Straßenkinder in Brasilien. Um den Konflikt in Darfur müssen wir uns dann wohl auch intensiv kümmern. Vielleicht sogar mit einigen Bataillonen dort 'reingehen'? Sri Lanka ist auch etwas unruhig, legen wir also auch da einige Regimenter auf die Insel!
Ein wenig engagieren wir (Deutschland, Europa, der Westen, die Industrieländer) uns ja schon weltweit. Es wäre auch falsch, einfach gar nichts zu tun. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir uns nicht gewaltig überfordern. Und außerdem nicht zum Spielball fremder Interessen machen lassen: von den einen gehasst und von den anderen begrüßt als nützliche Idioten, aber nicht bedankt. Die Opfer sind oder waren nicht immer Lämmlein; die Angreifer sind nicht immer grundlos aggressiv, und für viele Konflikten gibt es ganz einfach keine gerechte Lösung.
Wir (Europäer) haben ja schließlich schon versucht, an unserem Wesen die Welt genesen zu lassen: doch die anderen wollten einfach nicht! Unsere Kolonialbeamten hätten denen schon den ewigen Frieden gebracht und Lebensschancen eingeimpft! Jetzt sollen die doch machen, was die wollen - Hauptsache, sie liefern mir im Winter Orangen auf den Tisch! Ich müsste mich derweil (nach Einführung von Pohls Polit-System) als entscheidenden Faktor in meinem heimischen Schrebergarten-Verein einordnen, da könnte ich mich um so weniger um den ganzen Rest der Welt kümmern!
Soll doch die Angela das machen, aber die verplempert ja ihre Zeit mit Gesundheitsreformen, die Nicht-Politiker in Nullkommanichts gelöst hätten!
Ja, ja, es ist schon eine böse Welt ... und kompliziert, und widersprüchlich: wenn man zugleich den Blick in die Welt weiten und den Menschen in soziale Zellen einbinden will!
"Gehe vom Häuslichen aus, und verbreite dich, so du kannst, in alle Welt" hat mal ein bekannter Frankfurter gesagt, und nicht etwa: "Verschanze dich in gesellschaftlichen Basiseinheiten und schwätze über die Welt"!
Sehr viel verlangt Pohl von den Politikern, wenn er ihnen vorwirft: "Die Politiker denken in Wahlperioden und nicht in Zukunftsperspektiven, z. B. wie die Region, wie der Nationalstaat ... in 25 oder 50 Jahren aussehen werden" (S. 123) Das ist zum einen nur bedingt richtig, denn zur Frage der Rentenfinanzierung macht sich die Politik durchaus Gedanken darüber, wie die Bevölkungssituation etwa um 2040 usw. aussehen wird. Zum anderen ist es völlig unmöglich, die Lage auch nur in 10 Jahren voraus zu sagen. Wissen wir, ob wir bis dahin den Gipfel der Erdölförderung erreicht haben - und dann katastrophe Verknappungen erleben? Oder ob dann neue Energiequellen erschlossen sein werden? Ob das Klima sich schon bis dahin drastisch verschlechtert? Wie sich die Wirtschaft entwickelt?
Wenn man die demographische Situation in Deutschland von 2040 vor Augen hat, müsste man gleich jeglichen Straßenbau, Wohnungsbau usw. einstellen: was sollen die paar Männeken (und Weiblein) dann mit diesen (für sie) völlig überdimensionierten Baumassen anfangen? Oder werden wir die Population dann durch Importe auffüllen?
Wie auch immer: wir leben in der Gegenwart, und da wollen wir nicht im Stau stehen, nicht wie die Sardinen in der Büchse hausen usw. Außerdem wäre es ja zunächst einmal Sache der Bürger selbst, langfristig zu denken (Stichwort z. B.: 'Ölfördermaximum' ('Peak Oil') oder "Flaschenbürstenbohrung") - aber, wie John Maynard Keynes ironisch-treffend sagte: "Langfristig sind wir alle tot". Und deshalb produziert ja auch die Automobilindustrie auf Teufel komm raus: damit wir leben können. Ein wenig besser, für eine kurze Zeitspanne: danach die Sintflut. Weitsichtig ist das nicht (auch wenn man letztlich die Ressourcen wohl allenfalls strecken könnte und irgendwann dann doch eine Verknappung eintritt). Auch wenn ich nicht der verbreiteten Meinung huldige, dass die Bosse heutzutage nur noch auf die Quartalsergebnisse starren: feste Pläne für die nächsten 10 Jahre haben die wohl kaum - außer dass sie immer mehr produzieren und Marktanteile gewinnen wollen. Auf welche Weise sollte oder könnte sich denn auch eine Automobilfirma heute für eine mögliche Treibstoffknappheit in 10 Jahren vorbereiten? Schon jetzt anfangen, die Produktion langsam herunterzufahren?
Das ist keine realistische Alternative: "die Bosse" hätten, wollten sie das tun, nicht nur ihre Kapitalgeber, sondern noch mehr ihre Arbeitnehmer auf dem Hals. [Deswegen kriege ich auch immer so'nen Hals, wenn Umwelt-Apostel ausschließlich "das Kapital" oder "die Kapitalisten" für die Probleme verantwortlich machen.] Und nebenbei würde unsere ganze Gesellschaft zusammenbrechen, weil wir vermutlich schon biologisch so 'konstruiert' sind, dass wir gar nicht anders können, als wirtschaftliches Wachstum anzustreben, sei es auch im Angesicht einer immer schnelleren Umweltzerstörung.
Sicherlich können sie Gelder in die Erforschung alternativer Antriebe stecken; aber auch hier gibt es Grenzen für sinnvolle Forschungsinvestitionen zu einem bestimmten Zeitpunkt (allgemeiner Forschungsstand, Verfügbarkeit aussichtsreicher Ansätze, personelle Kapazitäten bei Forschern und Entwicklern).
Wir müssen uns einfach daran gewöhnen, dass Probleme (zumal in der Politik) existieren (und vermehrt auftauchen werden), für die es keine technische Lösung gibt.
Der amerikanische Biologe Garrett Hardin hat diese Situation in seinem berühmten Essay "The Tragedy of the Commons" von 1968 so beschrieben:
"I would like to focus your attention not on the subject of the article (national security in a nuclear world) [Hardin nimmt also Bezug auf einen anderen Aufsatz] but on the kind of conclusion they reached, namely that there is no technical solution to the problem. An implicit and almost universal assumption of discussions published in professional and semipopular scientific journals is that the problem under discussion has a technical solution. A technical solution may be defined as one that requires a change only in the techniques of the natural sciences, demanding little or nothing in the way of change in human values or ideas of morality.
In our day (though not in earlier times) technical solutions are always welcome. Because of previous failures in prophecy, it takes courage to assert that a desired technical solution is not possible. Wiesner and York exhibited this courage; publishing in a science journal, they insisted that the solution to the problem was not to be found in the natural sciences." [Hervorhebung von mir]
"Demokratie mit dem Volk, für das Volk" lautet die Zwischenüberschrift auf S. 123. Fragt sich nur, wer "das" Volk sein soll - außer einer rein statistischen Menge aller Staatsangehöriger. Der eine will Abtreibung verbieten, die andere sie zulassen. Die Jungen wollen geringere Rentenbeiträge zahlen, die Alten weiterhin mit 65 in Rente gehen, nicht erst mit 67. Kernkraftwerke wollen nur wenige - aber Strom wollen natürlich alle haben (der kommt ja ohnehin aus der Steckdose - oder aus Frankreich?). Autos wollen auch (fast) alle fahren, und möglichst nicht gerade Polos. Aber das Klima möchten sie auch alle retten, wenigstens erzählen sie das den Meinungsforschern. 5,- Euro für einen Liter Sprit will dennoch niemand bezahlen; Politiker, die das zum Parteiprogramm machen, erleben am Wahltag ein böses Erwachen.
Für welches Volk fordert Pohl welche Politik? Sein Slogan kann leicht zum Populismus verführen: Möglichst niemandem (direkt) weh und allen Gutes tun. Das ist keine zukunftsorientierte Politik, wenn Brot billiger verkauft wird als Getreide, so dass man die Hühner kostengünstiger mit Brot füttert (wie es in der DDR der Fall gewesen sein soll), oder Mieten künstlich niedrig halten (ebenfalls wie in der DDR), und die Bausubstanz zerfallen lassen. Oder die Benzinpreise mit Milliarden subventionieren (wie das z. B. in den Erdölländern Venezuela oder im Iran geschieht). Diese Mittel fehlen natürlich dann für notwendige Infrastrukturinvestitionen.
Aber 'das Volk' jubelt - und schimpft hinterher, jedoch nicht auf diejenigen Politiker, die ihm die Misere durch ihre 'volksnahe' Politik eingebrockt haben, sondern auf die, die die Folgen ausbaden und zu kurieren versuchen müssen. Da wird es auch nichts nützen, ökonomische Zusammenhänge in den Schulen zu lehren; außerdem sind sich die Ökonomen, die nicht einmal den voraussichtlichen Konjunkturverlauf für ein Jahr zuverlässig berechnen können, selbst häufig uneinig, welche Maßnahme richtig wäre, um z. B. die Konjunktur anzukurbeln: Löhne senken, damit die Arbeitgeber höhere Gewinne einfahren und mehr investieren? Doch wer kauft dann die Produkte? Also Löhne rauf - damit die Arbeitgeber mehr verkaufen, mehr Gewinne machen und mehr investieren?
"Der" Bürger artikuliert sich nur selten in der Politik. Von Desinteresse und anderen hemmenden Faktoren ganz abgesehen, wäre er auch hoffnungslos überfordert mit der Vielzahl der konkreten Fragen auf der Vielzahl von Ebenen (Gemeinde, Kreis, Regierungsbezirk, Land, Bund, Europa, UN usw.). Welche Maßnahme nützt, welche schadet ihm? Stehen kurzfristig positiven Wirkungen langfristig negative gegenüber - oder umgekehrt? Steuersenkungen z. B. nützen dem Bürger; wenn allerdings das Geld für Zukunftsinvestitionen fehlt, schaden sie ihm vielleicht längerfristig mehr als sie nützen?
Tatsächlich weiß auch Pohl, dass "in fast allen Gesellschaftssystemen Strukturkonflikte zu lösen sind", dass "das Gleichgewicht in einer Demokratie ... ständig gefährdet" ist, weil "das Demokratiegefüge wie alle Systeme stetig in Bewegung ist" (S. 124).
In besonderem Maße treibt anscheinend die Befürchtung einer massenhaften Immigration nach Deutschland Pohl um (bzw. überhaupt einer Migration von den armen in die wohlhabenden Länder). Die Sorge erscheint berechtigt, wenn man die Realitäten in Ceuta und Melilla oder an den italienischen Küsten betrachtet. Aber dazu brauchen die Migranten weder "neuronale Bedürfnisse" noch "neuronale Erwartungen" (S. 125), und auch keinen Zugang zu den weltweiten Wissensnetzwerken (wer diesen Zugang hat, ist bereits in seinem eigenen Land privilegiert und hat somit kaum einen Grund zur Auswanderung als Wirtschaftflüchtling oder Armutsmigrant).
Ich vermute mal, dass nicht einmal das Fernsehen der Hauptantrieb zur Emigration ist, sondern eher die Berichte von 'Vertrauenspersonen', Verwandten und Bekannten, die ihr 'Glück in der Fremde' gemacht haben. Doch das ist gleichgültig: Antriebe und Vorstellungen werden sicherlich durch die Neuronen vermittelt (oder existieren überhaupt nur in diesen), aber das war früher nicht anders als heute. Und schon früher sind Menschen massenhaft aus- bzw. eingewandert: aus verschiedenen europäischen Ländern in die USA, nach Russland, davor z. B. aus Deutschland in die rumänischen Karpathen, oder innerhalb (des heutigen) Deutschlands vom Westen über die Elbe nach Osten usw. Und schon vor rund 1500 Jahren war kontinentale Wanderschaft angesagt: 'Völkerwanderung' nennt man das heute.
Rom hat es nicht überlebt; wir sollten uns, da gebe ich Pohl Recht (falls er das meint), nicht überrennen lassen. Eine maßvolle und gesteuerte Einwanderung, speziell aus Kulturen, in denen Bildung einen hohen Stellenwert hat, können Deutschland und Europa sicherlich gut gebrauchen. (Ich habe allerdings auch nicht den Eindruck, dass Pohl dagegen ist.)
Weshalb es "für die demografische Entwicklung von unschätzbarem Vorteil" sein soll, wenn "die medizinische Versorgung weltweit die gleiche sein" wird (S. 126), erschließt sich mir nicht. Hält Pohl die Vergreisung der Welt für vorteilhaft?
Interessant ist seine Bemerkung (S. 126), dass sich "vollkommen neue Gesellschaftsstrukturen ergeben, deren politisches System die Demokratie sein muss". (Hervorhebung von mir) Hier zeigt sich, dass er letztlich den anderen Völkern die Demokratie doch mehr oder weniger aufzwingen will. Auch ich sehe keine Alternative dazu; aber sagte Pohl nicht vorher etwas ganz anderes? Dass nämlich die Amerikaner gefälligst aufhören sollen, der ganzen Welt ihren Weg aufzuoktroyieren? Ich glaube nicht, dass die USA den anderen Staaten die Form ihrer Demokratie aufnötigen wollen (S. 129): die Amerikaner wären (ebenso wie wir, und wie natürlich auch viele Bürger in den nicht-demokratischen Staaten selbst) schon froh, wenn alle anderen Staaten überhaupt eine Art von Demokratie hätten.
Ein beliebtes Spiel der Obrigkeit in der frühen Neuzeit war es, den Untertanen das Fluchen zu verbieten. Wahrscheinlich auch ein einnahmeträchtiges. Das Fluchen ist (weil nicht mehr verboten?) ein wenig aus der Mode gekommen; mehr Wert für den Fiskus könnte der Staat heute generieren, wenn er den Ausdruck "nicht mehr" verbieten würde. Der rutscht den meisten Sprechern bzw. Schreibern so gedankenlos raus wie das Hemd aus der Hose. Wenn Pohl schreibt, die Vereinten Nationen seinen "nicht mehr" in der Lage, Konsens zu stiften (S. 127), dann würde das logisch voraussetzen, dass sie früher dazu fähig waren - was aber tatsächlich nie der Fall war.
Schade ist, dass er nur die Lobby als störendes Elemente wahrnimmt ("jede Lobby ihre eigenen Interessen für die wichtigsten hält" - S. 127), und nicht die dahinter stehenden Interessendivergenzen der Bürger. Die Demokratie ist eben keineswegs ein "Deckmäntelchen, unter dem einige Lobbyisten nur ihre Eigeninteressen durchsetzen wollen" (S. 128/129). Was wären denn überhaupt die eigenen Interessen der Lobbyisten? Wer bezahlt sie wofür?
Pohls Feststellung, dass die "Konzerne und mittleren Unternehmen ... mehr Einfluss und Macht (haben), ... als nach außen sichtbar ist" (S. 127), will ich nicht bestreiten: als Insider muss es der Mann schließlich wissen.
China ist die wahre Demokratie. Dort herrscht das Volk, durch den Transmissionsriemen Kommunistische Partei, und die Partei herrscht für das Volk. So, darf man vermuten, sehen dass die chinesischen Kommunisten, aber sicherlich nicht nur die Parteimitglieder. Tatsächlich macht ja die chinesische Regierung eine ökonomisch höchst erfolgreiche Politik, ein stetiger Aufschwung ohne größere Verwerfungen; das werden viele Bürger zu schätzen wissen. Sicher: einige Studenten und andere Intellektuelle fordern vielleicht 'die Freiheit' - aber diese Typen haben bekanntlich an jeder Gesellschaft was auszusetzen. Den Bauern geht's auch ziemlich dreckig, aber erstens hatten die noch nie was zu lachen, und zweitens wird die Partei denen schon helfen.
Pohl hat natürlich Recht, wenn er fordert, für unterschiedliche Länder unterschiedliche Demokratieformen zuzulassen (S. 129, S. 131). Die Frage ist nur, was ist bloß eine andere Form, und was ist keine Demokratie mehr? Wir werden letztlich nicht umhin kommen, überall "die" Demokratie einzufordern, zu drängen, zu schieben: im eigenen Interesse, aber auch im wohl verstandenen Interesse der Bürger der nicht-demokratischen Länder, die das teilweise (die intellektuelle Avantgarde) durchaus schätzen, großenteils aber gleichgültig oder sogar ablehnend reagieren werden.
Jedenfalls fürchte ich, dass Konflikte nicht einfach dadurch zu umgehen sein werden, indem man den anderen andere Ausprägungen von Demokratie zugesteht. Das sollte man zwar tun (und ich glaube auch auch nicht, dass die Amerikaner an den Demokratievarianten in Indien, Taiwan oder Japan Anstoß nehmen). Man muss sich aber dessen bewusst bleiben, dass jene, die eine Demokratisierung ihrer Länder verhindern wollen (und dafür, wie in China, vielleicht sogar gute Gründe haben: schließlich sind die sozialen Spannungen dort groß, und die chinesische Führung möchte sicher nicht dem Beispiel der ehemaligen Sowjetunion nacheifern, bei deren Demokratisierung der Laden in die Luft ging), ihre Staatsform als eine etwas andere Form von Demokratie beschreiben (und in manchen Fällen sogar ehrlich als solche verstehen) werden.
Trotzdem hat Pohl Recht mit seiner Auffassung (S. 131): "Zweifellos fordert die Globalisierung demokratische Systeme, um einen Weltkonsens und eine gemeinsame Interessenbasis zu schaffen".
Dass dabei die Unternehmen "eine entscheidende Rolle" spielen (S. 131), könnte einer Demokratisierung eher hinderlich sein. Allein die Tatsache, dass ausländische Unternehmen für eine Demokratisierung eintreten, würde diese verdächtig machen, weil die Menschen annehmen (bzw. sich leicht einreden lassen) würden, dass sie das aus eigenen Interessen tun. (Und dass wäre ja auch in der Tat der Fall, wenn die Unternehmen auf den Gedanken kommen sollten, etwa Kuba zu demokratisieren, oder die Demokratie in Venezuela gegen Präsident Hugo Chavez zu stärken.)
Verblüfft hat mich die auf S. 130 geäußerte Meinung des Autors, dass "der Einfluss des einzelnen Bürgers auf demokratische Strukturen [deshalb] gestärkt werden muss, um die natürliche Unbeständigkeit der Mitwirkenden an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu stabilisieren" weil dadurch angeblich
"Unbeständigkeiten auf ein Minimum reduziert werden" können.
Bisher hatte ich immer geglaubt, dass die 'Rübe-ab-Fraktion' Spitzenwerte erzielt, wenn gerade mal wieder ein besonders abscheulicher und gut publizierter Mord passiert ist, und dass entsprechend wahrscheinlich die Gegner der Todesstrafe Auftrieb erhalten würden, wenn der Justiz mal ein besonders spektakulärer tödlicher Irrtum unterlaufen würde.
Man könnte Pohl für einen besonders guten Demokraten halten, weil er an die Beständigkeit der Massen glaubt. Schaut man sich allerdings seine konkreten Gestaltungsvorschläge für die politischen Entscheidungsstrukturen an (S. 134/135), dann ist es mit der Bürgerbeteiligung nicht mehr gar so weit her: dazu unten mehr.
Schon oben hatte ich Pohls mehrfach geäußerte Behauptung angezweifelt, wonach die Lobbyisten und Juristen bei jeder Reform nur ihr eigenes Interesse durchsetzen wollen (S. 132). Die Lobbyisten, wenn sie Profis sind, haben keine eigenen Interessen, sondern vertreten diejenigen ihrer Auftraggeber. Und wenn es die Interessierten selbst sind, handeln sie als Betroffene, versuchen also, als Bürger Einfluss auf die Politik zu nehmen.
Auch auf S. 132 flattert das Unwort "nicht ... mehr" usw. wieder fleißig durch die Gegend: Die politische Elite besitzt keine moralische Kraft "mehr"; "es gibt keine Institution 'mehr', die übergeordnet im Interesse der Menschen denkt und handelt". An letzterem Satz stört mich freilich nicht nur die implizite Illusion, als habe es jemals eine solche Institution gegeben. Fragwürdig ist schon ein Weltbild an sich, dass irgend etwas "Übergeordnetes" installieren will, um ein vermeintlich objektiv definierbares Interesse "der" Menschen durchzusetzen. Das ist eine Objektivierbarkeitsillusion, die angesichts der unzähligen kurz-, mittel- und längerfristigen Auswirkungen der jeweiligen staatlichen Maßnahmen weitestgehend illusorisch ist. [Zur Steuerungsproblematik aus systemtheoretischer Sicht vgl. z. B. den Aufsatz "Steuerung ohne Steuermann? Probleme politischer Steuerung aus systemtheoretischer Sicht (nach Niklas Luhmann und Helmut Willke)" von Felix Wassermann. (Auch bei dieser soziologischen Richtung schlägt freilich der von mir so genannte "Olim-Diskurs" eines vermeintlichen "nicht mehr" durch, wenn sie die Unmöglichkeit einer rationalen Steuerung moderner Gesellschaften aus deren Differenzierung in Funktionssysteme ableitet und im Vergleich zu historischen Gesellschaftsformen den angeblichen "Verlust einer – vormals der Religion, später dann der Politik zugesprochenen – gesamtgesellschaftlichen Rationalität" konstatiert.)]
Soweit Pohl Politik "mit den Bürgern für die Bürger" gemacht wissen will (S. 133), steht dahinter die gleiche kontrafaktische Vorstellung der Möglichkeit einer objektiven Interessenbestimmung. Mit welchen Bürgern für welche Bürger will er jeweils welche konkreten Maßnahmen umsetzen? Darüber erfahren wir bei Pohl noch weniger als bei den von ihm so heftig gescholtenen Politikern, die ja immerhin gelegentlich mal Andeutungen darüber machen, wohin die Reise gehen soll.
Pohl dagegen bietet lediglich inhaltsleere Sprüche: "Der Bürger erhält mehr Macht und Einfluss"; er fordert eine politische Struktur, "in der die Menschen der Mittelpunkt sind" und fasst das Ganze abschließend zusammen in dem Satz (noch S. 133): "Was wir brauchen, ist Innerlichkeit und Effizienz".
Was er unter Innerlichkeit in diesem Zusammenhang versteht, und zu welchem Zweck die gut sein soll, verstehe ich nicht; sicher ist aber, dass vermehrte Bürgerbeteiligung der Effizienz eher abträglich ist.
Wir haben bereits sehr große, teilweise vielleicht sogar zu große, Möglichkeiten einer Bürgerbeteiligung, wenn es z. B. um Infrakstrukturmaßnahmen und Wirtschaftsinvestitionen geht: Flughafenbau, Straßen- und Eisenbahnbau, Bau von Müllverbrennungsanlagen, Kraftwerken, Fabriken: überall kann der Bürger mitwirken: theoretisch positiv (man darf schließlich auch für eine nukleare Endlagerstätte demonstrieren, aber dazu ist natürlich niemand motiviert), praktisch aber negativ. Im Kampf gegen solche Maßnahmen hat man zum einen die größeren Möglichkeiten, weil es zahlreiche juristische Hebel gibt, an denen man spielen kann. Zum anderen bringt "der" Bürger in der Regel nur in der Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Beeinträchtigungen die Energie auf, Kämpfe gegen die Politik im Gerichtssaal und manchmal auch auf der Straße auszutragen.
Strom kommt aus der Steckdose: wozu brauchen wir Kraftwerke? Das ist der implizite Standpunkt vieler Bürger: wasch mich, aber mach mich nicht nass. Dagegegen haben die Politiker zu kämpfen (und tun das auch), doch ernten sie dafür weniger Dank, als sie eigentlich verdient hätten. Tatsächlich ist es in aller Regel nicht einmal "der" Bürger, der kämpft, sondern eine kleine oder manchmal auch große, jedenfalls aber lautstarke, Minderheit.
Wie also stellt Pohl sich konkret eine vermehrte Beteiligung "der" Bürger in Fällen vor, bei denen z. B. die Entscheidung über eine Müllverbrennungsanlage, eine Flughafenerweiterung oder den Bau eines (Kern- oder anderen) Kraftwerkes ansteht? Ich vermute mal, dass er seinen Geist ungern in diese schmutzigen Niederungen der Realität entsendet, sondern lieber hoch droben in luftigen Worthülsen schwelgt.
Dass man mit dieser Einstellung eine bessere Politik zu Wege bringt, oder Strukturen ersinnen kann, die zu einer besseren Politik führen, wage ich indes entschieden zu bezweifeln.
Eine neue Bildungs- und Kulturpolitik, die auch Wissen um die politischen Strukturen und die ökonomischen Zusammenhänge vermittelt (S. 133/134) ist sicherlich wünschenswert. Trotzdem wird der Einzelne die Dinge immer von seinem ganz privaten Interessenstandpunkt sehen, und die abstrakte Frage beispielsweise der Versorgungssicherheit mit Benzin wird ihn keinen Deut interssieren, wenn man ihm die Ölraffinerie direkt vor die Haustür setzen will.
Wenn Pohl für Deutschland "in Europa und in der Welt die gebührende Rolle" fordert (S. 134), outet er sich als Patriot, und da kann ich ihm nur zustimmen. Allerdings sollten wir uns über die Möglichkeiten unseres kleinen Landes in der großen Welt, mit den heranwachsenden Mächten in Asien, keinen Illusionen hingeben. Nur wenn wir die politische Einheit Europas voranbringen, haben wir die Chance, als Europäer auch in der Welt noch ein Gewicht (und, wenn es sein muss, auch ein Schwert) in die Waagschale zu werfen. Wobei es zweckmäßig sein dürfte, engere und freundschaftlichere Beziehungen zwischen Europa und Russland herzustellen. Das müsste eigentlich im beiderseitigen Interesse liegen, denn Russland hat den Raum und die Rohstoffe, auf welche von Süden her das volkreiche China zweifellos begierig starrt. Europa hat eine ziemlich dichte Bevölkerung, aber keine Rohstoffe. Ich gehe davon aus, dass die Russen nicht ohne Unbehagen auf China blicken. Da werden sie froh sein, auch wegen der kulturell weitaus engeren Beziehungen zum Westen, ein befreundetes Europa im Rücken und ggf. als Unterstützung zu haben.
Europa-Russland ist nicht als Analogie zur Konstellation Deutschland-Russland in der Bismarckzeit oder in den 20er Jahren zu verstehen; hier geht es für uns nicht (zumindest gegenwärtig nicht) um eine militärische Machtvergrößerung (die etwa gegen die USA gerichtet wäre), sondern um die Sicherung von Rohstoffbezügen, bevor die anderen Rußland befreunden (oder zerschlagen).
Auf S. 134 kommen nun aber sehr konkrete Vorschläge für eine Neuorganisation der deutschen Regierung usw.
In -3- Szenarien breitet Pohl alternative Strukturen aus, um die politische Arbeit in Deutschland zu verbessern. In allen Fällen geht er davon aus, dass der/die Bundespräsident(in) und der/die Bundeskanzler(in) direkt vom Volk gewählt wird.
Gegen diese Form direkter Bürgerbeteiligung ist sicherlich nichts einzuwenden. Zwar wäre es etwas schwierig geworden z. B. für Gerhard Schröder, wenn dieser jetzt mit einer CDU-Mehrheit im Parlament regieren müsste. Aber das funktioniert bei uns auf kommunaler Ebene ja auch, und auf gesamtstaatlicher Ebene z. B. in den USA und Frankreich ebenso. Vielleicht wäre es nützlich, weil eine solche Direktwahl geeignet sein könnte, den Bürgern das Gefühl zu geben, mehr an der Politik beteiligt zu sein. Andererseits glaube ich freilich nicht, dass sich z. B. in den USA die Gegner des Irak-Krieges als Bürger fühlen, die Einfluss auf die Politik nehmen können. Letztlich kommt es doch immer darauf an, welche konkrete Frage zur Entscheidung oder zur Debatte steht, und welche Position der Einzelne dazu einnimmt. Gegner der herrschenden Positionen werden sich immer ausgeschlossen fühlen.
Trotzdem stehe ich persönlich der Idee einer Direktwahl positiv gegenüber; man kann sie durch aus als Element einer vermehrten Bürgerbeteiligung, wie Pohl sie fordert, begreifen.
Der erste Alternativvorschlag ist noch relativ konventionell:
Die Entscheidung über die Reihenfolge der Kandidaten auf den Parteilisten soll den Wählern überlassen werden (S. 134/137).
Die Wahlperiode soll von 4 auf 5 Jahre verlängert werden: Das ist eine - auch von anderen vertretene - Idee, die ich begrüße. Freilich stärkt es nicht gerade die Beteiligung der Bürger, wenn sie nur noch alle 5 statt 4 Jahre zur Wahlurne gehen dürfen.
Beide Vorstellungen - längere Parlamentsperiode insgesamt, trotzdem intensivere Bürgerbeteiligung - ließen sich in der Weise kombinieren, dass jedes Jahr 20% der Abgeordneten neu gewählt werden. Allerdings könnte das, besonders bei knappen Mehrheiten, auch zu häufigeren Regierungswechseln führen. Aber wenn man ehrlich die Bürgerbeteiligung priorisieren will, wäre das eine Möglichkeit.
Volksinitiativen, also plebiszitäre Elemente, will er einführen. Im Sinne einer verstärkten Bürgerbeteiligung ist das zu begrüßen; dass solche Elemente allerdings der Effizienz und Effektivität der Regierungsarbeit förderlich wären, glaube ich eher weniger.
Bei der erstmaligen Lektüren der beiden folgenden Szenarien hatte mein Schutzengel mich fürsorglich in den Fauteuil eines Regionalzuges platziert. Hätte ich auf einem Hocker gesessen, wäre ich vor Schreck glatt runtergekippt: Hier nämlich will Pohl u. a. einen Bundeskonvent mit unabhängigen "weisen" (!!!) Mitgliedern etablieren!
Man soll natürlich nicht von sich auf andere schließen, und dass ich selbst "60 Jahre und kein bischen weise" bin, heißt ja nicht, dass es nicht andere Weise geben könnte. Man liest immer wieder mal von weisen Gurus aus Indien, aber wenn ich mir Porträtphotos von denen anschaue, dann sind die mir alle zu gut genährt, und der Gesichtsausdruck lässt darauf schließen, dass sie eher dem Weißen Mann das Geld aus den Taschen zu ziehen verstehen, als ihn weiser zu machen.
Solon von Athen, ja: der war weise! Wenn ich jedoch lese, dass die gesamte griechische Antike, in welcher es, folgt man den noch heute recht zahlreichen Antikenbegeisterten, von Weisen doch nur so gewimmelt haben müsste, lediglich sieben Weise (give or take a few) hervorgebracht hat: da frage ich mich, woher der Mann in diesem unserem Land 50 Weise hernehmen will? (Ganz abgesehen davon, dass die Zahl von 50 -selbst der weisesten - Männlein und Weiblein kaum ausreichen dürfte, um der Komplexität unserer Gesellschaft angemessen Rechnung zu tragen. Ein klein wenig komplizierter als in Pohls Vorstellung ist Politik halt doch, und zwar nicht -nur- wegen irgendwelcher Parteien-Spielchen, sondern bereits aus objektiven Gründen.)
Bei Friedrich III von Sachsen, "Der Weise" genannt, bezweifle ich, dass auch der Vatikan diesem Ketzer(förderer) Weisheit attestiert.
Für Friedrich dem Weisen von Bayern-Landshut wiederum verrät mir zumindest der Wikipedia-Eintrag nicht einmal, worin dessen Weisheit bestanden haben soll.
Ob die weisen Frauen ausgerottet wurden oder nicht, scheint noch streitig zu sein.
König Salomon, ist endlich mal wieder ein unumstrittener Weiser. Zumindest ist die Geschichte so alt und die Fakten sind derart spärlich überliefert, dass seine Weisheut heutzutage schon mangels einer soliden Informationsbasis konsensfähig ist. Seine Zeitgenossen werden ihn ebenso wenig sämtlich für weise gehalten haben, wie vermutlich die seinen auch den Solon nicht. In beiden Fällen dürfte die Nachwelt die Weisheit herausgefiltert und den Rest als Bodensatz dem Vergessen ausgeliefert haben.
Bismarck haben viele zeitgenössische Deutsche (die Roten naturgemäß ausgenommen) vermutlich für weise gehalten; heutige Historiker sind auch da großenteils anderer Meinung.
Und wenn im Mittelalter nicht einmal ein Kaiser wie Friedrich II. von Hohenstaufen sich das Epitheton ornans "der Weise" verdienen konnte: wer könnte das heute beanspruchen?
Also, ganz ehrlich gesagt: auf "Weisheit" möchte ich mein' politisch' Sach' denn doch nicht stellen: dann schon eher auf die Weisheit der Massen ("Wisdom of the crowds". Oder die "Schwarmintelligenz" oder das "Groupthink" (klar, machen wir in Deutschland auch: "Gruppendenken" heißt das natürlich bei uns). Also, ihr Weisen: "Willkommen im Schwarm"! Vielleicht bringen wir Menschen ja doch noch ein globales Bewusstsein auf?
Diejenigen, welche sich für weise halten, halten die Welt für ein Narrenschiff. Das gilt für Erasmus von Rotterdam wie für Ted Kaczynskis "SHIP OF FOOLS" (beiläufig bemerkt: Mr. Kasczynski ist bekannter unter dem Pseudonym "Unabomber" ).
Auch ich halte die Welt manchmal für ein gefährdetes Schiff, jedoch nicht im Sinne eines Narrenschiffs.
Weise waren die Friedensfreunde zu Zeiten der großen Atomwaffendebatten, z. B. Bertrand Russel. Aber auch der hatte, wenn wir dem rechten (vermutlich: Rechtsanwalt) "Dikigoros" glauben dürfen, früher mal ganz andere Ideen: In dem tabellarischen Lebenslauf lesen wir unter dem Jahr 1948: "Völlig überraschend sagt sich Russell auch von seiner bisher ablehnenden Haltung gegenüber Atomwaffen los und befürwortet in einer öffentlichen Rede in Westminster einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion, da nur die Weltherrschaft der USA den Weltfrieden erhalten könne."
Dennoch dürfte es in den 50er und 60er Jahren keine weisen Menschen gegeben haben, welche nicht für eine nukleare Abrüstung eingetreten sind.
Die Frage ist nur, ob eine Abschaffung der Kernwaffen wirklich weise gewesen wäre, oder ob sich nicht dann der aus dem Kalten ein heißer (konventioneller) Krieg als Dritter Weltkrieg entwickelt hätte? Und auch in der Nachrüstungsdebatte waren die Weisen (wenn man die Intellektuellen für solche halten will) nach meiner Einschätzung auf der falschen Seite.
Im Mittelalter und an den absolutistischen Fürstenhöfen der frühen Neuzeit war die Weisheit dermaßen rar, dass man sich Hofnarren halten musste (s. a. "Jester"), um die anderen wenigstens weise wirken zu lassen. [Hofnarr bei der Angela: das wäre ein Job für mich! Mindestens mit der Besoldung eines Staatssekretärs natürlich!]
Freilich gibt es auch heute noch Menschen, welche Weisheit suchen und an die Möglichkeit ihrer Wirklichkeit glauben. Das hoch geachete Online-Philosophielexikon "Stanford Encyclopedia of Philosophy" z. B. führt auch das Stichwort "Wisdom". Es gibt ein "Wisdom Lexicon Project" und weise Aufsätze zum Thema. Wenn freilich der letztverlinkte seine Kernaussagen am Schluss so zusammenfasst
"Most of us are rushing around so fast that our lives lose significance. Gandhi was correct when he said, 'There is more to life than increasing its speed.' If we slow down, ponder, contemplate, and connect, we can absorb wisdom and create lives of significance. It is a journey that requires less technology and more introspection. Wisdom is a personal quest that must be based on the right perspective. Knowing where wisdom begins is the first step",
dann ist das sicherlich nicht die Art von Weisheit, die Professor Pohl sich für unsere Regierenden wünscht. Denn die sollen nicht die Beschaulichkeit pflegen und einen Gang runterschalten, sondern uns antreiben und fit halten für den globalen Wettbewerb.
Ein gewisser Nicholas Maxwell will sogar eine Revolution anzetteln, um der Weisheit an die Macht zu helfen: "We need a revolution in the aims and methods of academic inquiry, so that the basic aim becomes to promote wisdom by rational means, instead of just to acquire knowledge", sagt er.
Aber sogar in Deutschland erhebt die Weisheit gelegentlich ihr Haupt: in Gestalt des mittlerweile verstorbenen Weisheitsforschers Paul Baltes (hier sein Aufsatz "Das hohe Alter. Mehr Bürde oder Würde?"; dort zahlreiche weitere Informationen über Person und Arbeiten von Prof. Baltes).
Ina Rösing will die Weisheit entgreisen und globalisieren. Über ihr Buch "Weisheit. Meterware, Maßschneiderung, Missbrauch" erfahren wir auf einer Webseite der Uni Ulm:
"Der Stoff 'Weisheit' ist in seiner Fülle und Vielfalt – solange er noch 'Meterware' ist, d. h. unbearbeitet und unbeschnitten von engen Definitionen – kostbar wie Brokat. Sobald sich aber die Wissenschaft der Weisheit annimmt, sie definiert, sie vermisst und erforscht, wird Weisheit zu einer engen 'Maßschneiderung'. Nun erhebt die westliche Wissenschaft ausgerechnet für diesen engen Begriff von Weisheit auch noch den Anspruch, dass er universell – über alle Kulturen hinweg – gültig sei.
Ina Rösing widerlegt diese Universalität. [Selbst also bei der Weisheit haben wir mit dem Kulturenkampf zu kämpfen!] Mit einer Reise zu fremden Kulturen und Kontinenten zeigt sie, dass es Kulturen gibt, die den Begriff Weisheit gar nicht kennen, und andere, die ihn völlig anders verstehen. Es gibt also viele Weisheiten auf dieser Erde, nicht nur die westliche Weisheit.
Was die westliche Weisheit allerdings für sich allein beanspruchen kann, ist ihr Missbrauch in verschiedenen Bereichen der Gerontologie. Wie Ina Rösing zeigt, wird Weisheit dort als leicht erreichbare 'greisige Leistung' erfolgreichen Alterns angepriesen.
Damit wird die gesellschaftliche und biologische Realität, werden Last und Leid des Alters, verschleiert. Ina Rösing lüftet diese Verschleierung und befreit die Weisheit von ihrer Verhaftung mit hohem Alter. Auf diese Weise wird Weisheit 'ent-greist', kann sich verbinden mit Unordnung und Leidenschaft und bleibt dennoch kostbar. Weisheit wird damit zu einem lebbaren Wert für jeden Erwachsenen."
In Ulm, um Ulm, und um Ulm herum ist man weise genug, auch das scheinbare Gegensatzpaar "Intelligenz" und "Dummheit" zu hinterfragen. In ihrem Buch "Intelligenz und Dummheit" zeigt Frau Rösing, dass
"Diese polare Wertung ... in erschreckender Weise das Klima unserer Schulen [bestimmt] und ... entschieden zu eng ist. ... Intelligenz und Dummheit sind keine einander gegenüber stehende Pole. Dummheit ist nicht nur schlecht und lästig, sondern manchmal auch heiter, spielerisch, unbedarft, arglos, kindhaft – und lehrreich!Zum Nachweis behandelt sie in ihrem faszinierend geschriebenen Denk- und Werkbuch ganz anders aussehende Konzepte von Intelligenz und Dummheit in fremden Kulturen (asiatische, afrikanische, indianische Intelligenz), Laienkonzepte von Intelligenz und Dummheit (Intelligenz 'von der Straße') sowie Konzepte unschuldiger Dummheit bzw. Stummheit in unserer Kultur (neurotische Dummheit, autistische Kapsel, Alexithymie)."
Wer sich noch ein wenig weiter in der Weisheitssuche suhlen mag, kann z. B. die einschlägigen Einträge im Wörterbuch der Philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler (1904), im "Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe" von Friedrich Kirchner (1907), oder Zitate aus Schriften von Immanuel Kant im Kant-Lexikon von Rudolf Eisler nachlesen.
Die Weisheit des Ostens könnten wir vielleicht auch gebrauchen, z. B. die Worte des weisen "Gu Hongming" oder "Ku Hung Ming" über "Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen", wo man schon um 1900 etwas zum Thema "Kampf der Kulturen" (aber aus der Sicht der anderen!) lesen konnte.
Auf einer ebenfalls von Diana Ehrenwirth gestalteten Webseite [Hut ab vor so viel Arbeitskraft und Engagement!] über chinesische Philosophen kommen wir auch der Regierungsweisheit näher, wenn wir dort über den Philosophen Han Fei lesen:
"In der Regierung müssen vor allem diese drei Aspekte richtig gehandhabt werden:
shi (Macht, Position). Selbst die mythischen Kaiser konnten das Volk erst zur Nachfolge bewegen, nachdem sie den Thron bestiegen hatten. Andererseits folgte das Volk auch den wertlosesten Regierenden. Macht und Position sind also wesentlich wirksamer als Tugend und Weisheit.
shu (Methoden): Regierung verlangt Verfahren. Tugend allein genügt nicht.
fa (Gesetz): Regierung benötigt Gesetze -- den [recte: "denn"?] Konfuzianern [recte: Konfuzianer?] plädierten dafür, die Jurisdiktion in die Hände tugendhafter, weiser Männer zu legen." [Hervorhebung von mir]
Gefährlich ist es, der Weisheit im Wortschatz der Uni Leipzig nachzspüren: da wird man mit linken und rechten Nachbarn der Weisheit konfrontiert: pfui! Auch diesen Begriff noch parteipolitisch zu verhunzen! Wundern tut uns nicht, dass das Ding irgendwie mit einer gewissen Dornseiff-Bedeutungsgruppe 2.17 für 'Hohes Alter' zusammenhängt:
"Greisenalter, Lebensabend, Weisheit, Zahn der Zeit, biblisches Alter, hohes Alter"; also: Mumien an die Macht?
Nein, nicht verzagen, J. G. Krünitz fragen. Der verrät uns im 237. Band seiner "Oekonomische[n] Encyclopädie", was es mit der Sache auf sich hat:
"Weisheit (Sapientia) verhält sich zur Klugheit, wie Vernunft zum Verstand, und besteht in der dauernden Richtung des Sinnens und Strebens auf das, was nicht nur zur eigenen Wohlfahrt, sondern zur Befriedigung aller Anforderungen dient, welche zur Vollendung des eigenen Selbst, so weit diese in der Sphäre der Freiheit liegt, gemacht werden können. Sie umfaßt daher das ganze geistige Wesen des Menschen und auch das Körperleben, in so weit es von dem Geist und seiner freien Thätigkeit beherrscht wird; strebt nicht nur nach Erweiterung von Kenntnissen, sondern auch nach Ausbildung und Veredelung der Gefühle, am meisten aber nach Entwickelung der vollen geistigen Kraft. Dann leitet die höhere Einsicht nicht nur den Willen zur Auffassung eines des Strebens würdigen Zieles, sondern auch zur Wahl der geeignetsten Mittel für vorgefaßte Zwecke, und das veredelte Gefühl unterhält immer ein lebendiges Interesse an dem, wonach der durch freie Entwickelung seiner Kräfte zur Besiegung von Hindernissen erstarkte Geist strebt. In sofern die Weisheit der Sinn für das Höchste, für ein von der Vernunft dargebotenes Ideal ist, stellt sie sich als ideelle Weisheit, in fofern sie als Streben nach dem Höchsten mit Anerkennung der Beschränkung des individuellen Lebens und richtiger Würdigung des eigenen Vermögens, nur das zu erreichen sucht, was wirklich erreichbar ist, als reelle Weisheit dar. Weise Mäßigung der Strebungen im Leben und daraus entspringenden, auf Harmonie der inneren und äußeren Welt gegründete Zufriedenheit ist daher der erste Gewinn der Weisheit selbst. Jene Harmonie kann nur dann erlangt und erhalten werden, wenn der moralisch-religiöse Sinn die Höhepunkte des Lebens erfaßt, wodurch allein das individuelle Leben zu einem Abschluß mit sich und der Welt gelangen kann. Nur ein moralischreligiöser Mensch kann ein Weiser sein. -- 2) In der Sittengeschichte, Ew. Weisheit, Ew. Wohlweisheit, Ehrentitel für vornehme obrigkeitliche Personen, besonders städtische Beamte." [Ich assoziiere spontan den Bürgermeister in Albert Lortzings Oper "Zar und Zimmermann": "O, ich bin klug und weise, und mich betrügt man nicht".]
Meyers Konversations-Lexikon bringt uns die Weisheit vom Ende des 19. Jahrhunderts näher, dagegen Johann Heinrich Zedlers "Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste" diejenige aus der Mitte des 18. Jahrhunderts.
Johann Samuel Ersch (1766-1828) und Johann Gottfried Gruber (1774-1851), bzw. deren Nachfolger, haben leider das Handtuch geworfen, bevor sie in ihrer "Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste" zur Weisheit vordrangen.
Jacob und Wilhelm Grimm erforschen in ihrem fundamentalen Werk "Deutsches Wörterbuch" die sprachgeschichtliche Entwicklung des Weisheitsbegriffs und stellen fest:
"Weisheit erscheint erst, nachdem weise und weistum den übergang vom gebiet sachlichen wissens (vgl. weise, adj. A) in den von christlich-antiker bildung beeinflußten bereich vernunftmäßigen und ethisch - religiösen wissens bereits vollzogen haben. von ihnen übernimmt es bei seinem auftreten alle bedeutungsmöglichkeiten, die diese entwickelt haben. es läßt sich bei weisheit keine grundstufe, etwa 'wissen von einer sache' wie bei weise, adj., als ausgangspunkt einer bedeutungsentwicklung feststellen." (Dort auch eine endlose Zitatenlatte von Goethe & Co.)
Schillers Weisheitsverständnis, wie es sich in seinem Gedicht "Weisheit und Klugheit" präsentiert, möchten wir unsere Politik vielleicht doch nicht ausliefern; wir wollen lieber vorher wissen, wo uns die Weisen anlanden werden:
"Willst du, Freund, die erhabensten Höhn der Weisheit erfliegen,
Wag es auf die Gefahr, daß dich die Klugheit verlacht.
Die kurzsichtige sieht nur das Ufer, das dir zurückflieht,
Jenes nicht, wo dereinst landet dein mutiger Flug."
Das ist eine eher ungewöhnliche Interpretation des Begriffs "Weisheit".
Für mich verbindet er sich, außer mit Alter, besonders auch mit Ruhe, Beschaulichkeit, Kontemplation ("vita contemplativa" eher als "vita activa"). Die Vorstellung der Möglichkeit von "Weisheit" passt zu einer (relativ) statischen Agrargesellschaft: Abendfrieden, in den letzten Strahlen der goldrot versinkenden Sonne schmökt der Großbauer behaglich sein Pfeifchen und ist mit sich, der Welt und dem Lieben Gott zufrieden. Oder auch, auf einer intellektuelleren Ebene, Niccolò Machiavelli auf seinem Landgut: weltwandelnde Werke wirkend zwischen wogenden Weizenähren.
Vielleicht war die Idee der Weisheit sogar schon bei ihrer Konzipierung in den agrarischen Hochkulturen Ausdruck eines städtischen Gefühls der Entfremdung vom 'wahren' Leben, vom Landleben, von einem imaginierten Goldenen Zeitalter?
Wie auch immer: ich habe meinen Lesern nunmehro genügend Material an die Hand gegeben, um daraus ein Anforderungsprofil für die weisen Persönlichkeiten zu konstruieren, die im Bundeskonvent weise Gesetze machen sollen.
Denjenigen Lesern jedenfalls, die nach der Lektüre meiner o. a. Zeilen immer noch glauben, dass Weisheit eine notwendige und zureichende Bedingung für einen solchen Job ist.
Ich für meinen Teil würde mich mit intelligenten, tatkräftigen und ehrenhaften Politikern begnügen; die Weisheit überlasse ich gern den Forschern, Lexikographen, den Chinesen und dem Lieben Gott.
"Integere, dynamische Persönlichkeit mit überragender Intelligenz und einem vernetzten Denkstil gesucht": damit könnte ich deutlich mehr anfangen als mit "weise Persönlichkeit gesucht".
Aber auch meine Formulierung ist kein Zaubersieb, das uns automatisch "die Richtigen" herausfiltert.
Kehren wir nach diesem exzessiven Exkurs ins Reich der Weisheit wieder in irdische Niederungen zurück, finden wir es keineswegs unmittelbar einsichtig, weshalb Pohl, der seine Änderungsvorschläge doch offenbar als radikal versteht, das Bundesverfassungsgericht (in Szenario 3 wohl irrtümlich "Bundesgerichtshof") unverändert davonkommen lassen will. Das ist ja nun eine ausgesprochen undemokratische Institution, auch wenn sie eine Schutzfunktion für die Demokratie ausübt und in politischen Raum schon manche Verkrustung aufgebrochen (andere allerdings selbst geschaffen hat; beim "Halbteilungsgrundsatz" war es aber immerhin weise genug, sich selbst später wieder zu korrigieren). Allzu weit und auf Dauer kann sich allerdings auch das Bundesverfassungsgericht nicht von der öffentlichen Meinung abweichen, sonst setzt es, trotz aller Tabus mit denen es umgeben ist, irgendwann erst seine Legitimation und dann seine Existenz aufs Spiel.
Trotzdem könne ich mir durchaus vorstellen, dass man die Senate paritätisch mit Juristen und Bürgern (nach Möglichkeit mehr oder weniger weisen) besetzt, oder dass man im politischen Raum dem Parlament die letzte Entscheidungskompetenz einräumt, indem man z. B. die Aufhebung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit einer Parlamentsmehrheit von 75% der Stimmen zulässt.
Zwar nicht neue, aber unbedingt diskutable Ideen trägt Pohl auf S. 135 vor: "Neustrukturierung des föderalen Systems durch eine Neuordnung des Finanzausgleichs und die Neustrukturierung der Bundesländer, z. B. Reduktion der 16 Länder auf 8."
[Es waren, nebenbei bemerkt, gerade die Bürger, und nicht die von Pohl vielfach als unfähig gescholtenen Politiker, welche die unbedingt sinnvolle Verschmelzung von Berlin und Brandenburg zu einem einzigen Bundesland verhindert haben!]
Auch eine Neuordnung des Finanzausgleichs wäre sicherlich erstrebenswert: Leistung muss sich, auch für die Länder, wieder lohnen. Man könnte die Spreizung erhöhen, bei der die Länder zu Transfers verpflichtet sind, z. B. auf einen Bereich von 80 - 120%.
Entbürokratisierung ist immer gut, aber mit der Abschaffung des Beamtenstatus ist dieses Ziel keineswegs erreicht; auch in anderen großen Organisationen (Konzernen etwa) hat sich eine Bürokratie etabliert - ganz ohne die bösen Beamten!
Überhaupt dürfte nicht nur die Parlaments-, Regierungs- und Verwaltungstätigkeit zur Bürokratisierung beitragen, sondern in nicht geringem Maße auch die Justiz, die in ihrer gelegentlich überzogenen Suche nach (vermeintlicher) Einzelfallgerechtigkeit zum bürokratischen Kautelismus des Staates und seiner Bediensteten beiträgt. (Z. B. dürften -in meinen Augen absolut überflüssige- Hinweisschilder vom Typ "Dieser Weg wird bei Schnee und Eis nicht geräumt und gestreut" ein Ausfluß von Rechtsprechung zum Thema Schadenersatz sein. Das sind Zusammenhänge, die man ebenfalls ins Visier nehmen muss, wenn man entbürokratisieren will).
Neustrukturierung des Haushalts? Kann ich mir nichts Konkretes drunter vorstellen. Wichtig wäre zweifellos die von Pohl immer wieder eingeforderte Transparenz. In diesem Zusammenhang also, dass die Bürger sehen, was mit ihrem Geld geschieht und vor allem auch selbst (ein-)sehen (lernen), dass sie mit ständig neuen Forderungen an den Staat letztlich sich das Geld aus der eigenen Tasche ziehen. Dem könnten plebiszitäre Elemente entgegenwirken, sowie auch ein "Steuerbonus", wenn die Gemeinde / das Land / der Bund Geld gespart hat. Wenn es gelingt, wirksame Rückkoppelungs-Mechanismen zu installieren, würde sich mancher Bürger überlegen, ober der Staat 100 Mio. für die Oper ausgibt oder ob er nicht selbst das Geld besser gebrauchen könnte. Andererseits dürfte ein solches System allerdings keine Fehlanreize zur Einsparung an notwendigen Ausgaben (Verteidigung, Bildung, Forschung usw.) setzen; auch das wäre nicht ohne Mühe (und letztlich vielleicht erst in einem längeren politischen Prozess von Versuch und Irrtum) auszutarieren.
Dass im Wesentlichen die Parteien und die Medien die politische Willensbildung in Deutschland bestimmen (S. 136) ist wohl zutreffend (für die öffentliche Bühne; den Einfluss der Lobbyisten in den Kulissen beschreibt ja auch Pohl). Will man freilich die Parteien entmachten, stärkt man wahrscheinlich die Macht der Medien nur noch mehr. Man sollte schon sehr genau durchdenken, ob man nicht im Ergebnis alle Macht dem Springer gibt, wenn man die Parteien-Läufer vom Feld entfernt.
(Entsprechend riskiert man mit Plebisziten die Macht der Besitzenden zu stärken, wenn diese für ihre Interessenverteidigung nur genug 'springen lassen'.)
Mit seiner Behauptung, dass sich Politik in Deutschland zu einem Insider-Game "entwickelt" habe, zeiht Pohl erneut einen Pfeil aus dem alten Nostalgie-Köcher: Politik war in Wahrheit schon immer eine Arbeit für Fachleute (und außerdem eine Arbeit, für welche nur die wenigsten Bürger neben ihrer Brot-Arbeit zusätzliche Zeit opfern wollen - ich auch nicht!).
Auch seine Auffassung, wonach die "Wahlen zum Bundestag alle vier Jahre ... nur eine Farce" sind, weil "letzten Endes nicht die Bürger [entscheiden], wer in den Bundestag einzieht, sondern einzig und allein die Parteien", kann ich nicht nachvollziehen. Immerhin entscheidet ja der Bürger, welche Parteien mit wie vielen Mitgliedern im Parlament vertreten ist. Ob er mehr Einfluss hätte, wenn er Personen direkt wählt, halte ich für zweifelhaft. Pohl verkennt, dass die Parteien auch eine selektive Funktion für die Personalauswahl haben: manche Talente werden dabei vielleicht einen Kopf kürzer gemacht, aber im Gegenzug werden auch Ungeeignete bei der Ochsentour durch die Gremien ausgesiebt. Wer da Standfestigkeit zeigt, wird auch in nächtelangen Verhandlung (z. B.:) in Brüssel seinen Mann stehen.
Was weiß ich oder was weiß er schon über jene Leute, die wir in einem geänderten Wahlsystem direkt wählen dürften? Glaubt er allen Ernstes, durch die Direktwahl qualifizierteres Personal für die politische Bühne zu bekommen?
So lange der Parteifilter vorgeschaltet bleibt (nach Pohls Vorstellung soll die Kandidatenaufstellung immerhin noch Sache der Parteien bleiben, lediglich die Reihenfolge können, wie jetzt schon vielfach bei Kommunalwahlen, die Bürger bestimmen - s. u.), werden wir wohl auch kein schlechteres haben, aber große Hoffnungen setze ich weder für das subjektive Empfinden einer gesteigerten Beteiligungsmöglichkeit an Politik noch für eine objektive Qualitätssteigerung in die Einführung von Persönlichkeitswahlen auf Bundesebene.
Auf S. 137 packt Pohl dann endlich die Pferdefüße seiner Reformvorschläge aus, welche der aufmerksame Leser schon immer im Hintergrund gewittert hatte.
Der oder die Bundeskanzler(in) soll, da ja direkt gewählt, nun "erhebliche Kompetenzen bei der Zusammenstellung ihres Kabinetts haben" (bekräftigt auf S. 139). Das raubt zwar den Parteien Macht, ist aber keineswegs ein Empowerment der Bürger, welche sich derzeit durch die Parteien immerhin noch partiell vertreten fühlen können. [Die Recherche nach dem Stichwort "Empowerment" in der Wikipedia führt übrigens weiter zu dem Eintrag "Bürgerschaftliches Engagement", das im Zusammenhang mit einigen Ideen in Pohls Buch von ganz besonderem Interesse ist.]
Schleierhaft ist mir, wie Pohl gleichzeitig die Entscheidung über die Kabinettszusammensetzung bei dem/der Kanzler(in) ansiedeln und trotzdem sicherstellen will, dass die Kabinettsposten "unabhängig von der Parteizugehörigkeit besetzt werden".
Ist der/die Kanzler(in) von der Partei nominiert und im Wahlkampf unterstützt worden, und will sie sich die spätere parlamentarische Unterstützung der Partei sichern, muss er/sie die Genossen oder Seelenbrüder schon an der Postenbeute beteiligen. Und wer käme sonst z. B. für die Wahlkampfkosten auf, wenn nicht die Parteien (wenn auch letztlich auf Staatskosten)? Die Heuschrecken? Dann gnade uns Gott!
Das will allerdings auch Pohl nicht: Auf S. 140 stellt er klar, dass die Parteien den/die Kanzlerkandidaten/-datin nominieren sollen. [Ich kann also nicht kandidieren? Schade - ich hätte mich doch so gern beteiligt!]
Gut: die Bestimmung der Reihenfolge der Kandidaten auf den Parteilisten will er dem Bürger überlassen, und ihm darüber hinaus (wie in der Schweiz, aber auch gegenwärtig z. T. schon in Deutschland) das Recht geben, über eigene Initiativen direkt in demokratische Entscheidungsverfahren einzugreifen.
[Für weitere Informationen und Links vgl. die Wikipedia-Artikel zu den Stichworten "Volksabstimmung", Bürgerbegehren, "Bürgerbegehren" und "Bürgerentscheid".]
Auf S. 138 wird es kompliziert: Mitglieder eines Bundeskonvents sollen direkt durch das Volk gewählt werden, aus den Reihen der "weisen Persönlichkeiten" [ich saß zum Glück immer noch im Zugfauteuil!]: so weit, so - nicht unbedingt gut, aber immerhin klar. Unklar ist freilich deren Rolle, denn zum einen sollen sie die Interessen der einzelnen Länder "mit"vertreten (also nicht so richtig, sondern nur so nebenbei? Wird den Ländern kaum gefallen!), zum anderen aber auch als "Kontrollorgan des Bundestages" fungieren. Die Mitglieder des Bundestages werden -nicht gerade bürgerfreundlich- nur von den Parteimitgliedern gewählt.
Wie sich Pohl das Zusammenwirken dieser beiden Bundesorgane mit der Regierung vorstellt, ist auf S. 139 nachzulesen: Der Bundestag (bzw. Pohl schreibt: "die im Bundestag vertretenen Parteien") darf (dürfen?) "Vorschläge zu Reformen, Initiativen Strategien usw. bei der Bundesregierung einbringen, die diese dann berät, verändert [!] und z. B. in einen Gesetzesentwurf bringt, der dann vom Bundeskonvent verabschiedet wird."
Das dürfte des Pudels Kern sein, und dieser Kern scheint mir doch genau so finster wie eines schwarzen Pudels Oberfläche. Dass Pohl dann noch eine Analogie (S. 139) bildet zwischen der Staats- und der Unternehmensführung (Bundeskabinett = Vorstand, Bundeskonvent = Aufsichtsrat) und darin der Bundestag gar nicht mehr vorkommt, macht mir die Sache nicht sympathischer. Zumal dem Volk die Rolle einer Hauptversammlung zugeschrieben wird, und die Aktionäre, in der Masse jedenfalls, bekanntlich sowieso nichts zu sagen haben.
Nebulös ist die gedachte Rolle der Parteien (S. 140). Deren Aufgabe soll es sein, unterschiedliche politische Programme aufzustellen und diese im Kabinett einzubringen (die Parteien direkt? Weshalb sollten dann die Parteimitglieder überhaupt noch einen Bundestag wählen?). Hauptsächlich sollen sie die Bürger "in den Kommunen und Reglionen politisch ... motivieren und ... bilden ...". Ich kann mir vorstellen, dass die Parteien und ihre Mitglieder in einer solchen Konstellation selbst eher demotiviert wären. Zu welchen Aktivitäten sollen bzw. könnten sie die Bürger in Pohls Polit-System überhaupt noch motivieren? Würde dann nicht letztlich das "Agenda Setting" den Massenmedien allein überlassen bleiben?
Weitgehend zutreffend stellt Pohl fest, dass bei Einführung eines seiner drei Szenarien "die politischen Eliten ... mit einem erheblichen Machtverlust rechnen müssen". Nur konzentriert sich dann alle Macht weitgehend bei dem/der Kanzler(in); der Bürger bleibt (von der Möglichkeit eines Plebiszits abgesehen, das aber zum einen komplexere Probleme nicht lösen kann, weil es seiner Natur nach im Wesentlichen nur eine ja/nein-Entscheidung sein kann, und das zum anderen auch nicht sehr häufig einsetzbar ist, weil die Mobilisierung der Bürger ein zeit- und kostenaufwändiger Vorgang ist und bei häufiger Wiederholung abstumpft) bis zur nächsten Wahl weiterhin außen vor bleibt (wie auch gar nicht anders möglich - siehe oben).
[Mit dem Einsatz des Internets als Abstimmungsinstrument würden zwar häufigere Abstimmungen möglich. Ich glaube aber nicht, dass die Politik dadurch besser oder gar konstanter würde. Außerdem wäre auf diesem Wege gleichfalls keine differenzierte Einflussnahme möglich, sondern nur ein 'Ja' oder 'Nein' zu Alternativen, die andere vielleicht schon mit dem Blick auf eigene Sonderinteressen ausgesucht oder formuliert haben.]
Auf S. 141 vermehren sich die Pferdefüße der Pohlschen Ideen zur Bürgerbeteiligung zu einer wahren Kavalkade. Das Demokatiesystem in Deutschland ist ihm zu schwerfällig (da ist natürlich was dran). Akzelerieren will er es, das "Tempo auf allen Gebieten steigern". Das scheint der Trend unserer Zeit zu sein (vgl. dazu auch meine Analyse der Rentenfinanzierungsvorschläge von Prof. Werner Sinn & Co., die ich unter den (teilweise) interpretierenden Titel gestellt habe "Sinn substituiert die Konjunktion: rettet er die Renten durch ökonomische Akzeleration?"). Diesem Trend können wir uns nicht entziehen, auch wenn er uns nicht gefällt. Bei genauerem Hinsehen wird man freilich feststellen, dass uns die ständige Beschleunigung nur teilweise missfällt; die Vorteile nehmen wir nämlich gern mit und betrachten sie als selbstverständlich; nur die Nachteile - die aber nichts als die andere Seite der Münze sind - glauben wir ausschließen zu können.
Ich persönlich habe in einer beschleunigten Welt wohl noch schlechtere Karten, aber das will ich nicht zum Beurteilungskriterium machen.
Die wesentliche Frage bei einer zusammenhängenden Beurteilung von Pohls teilweise (muss ich leider sagen:) zusammengewürfelten Vorschlägen ist die nach der Kompatibilität von Entscheidungsakzeleration und Bürgerbeteiligung.
Ich hatte bereits oben darauf hingewiesen, dass Bürgerbeteiligung in aller Regel ein retardierendes Element darstellt.
Aber "Bürgerbeteiligung" erschöpft sich nicht in mehr oder weniger direkten Formen wie z. B. dem Kampf gegen einen Flughafenausbau (für einen Flughafen hat wohl noch nie jemand demonstriert - ausgenommen allenfalls die Beschäftigten). Vielmehr gibt es indirekte -und durchaus leistungsfähige- Formen der Bürgerbeteiligung: auf dem Weg über die Parteien einerseits und andererseits über "Interessenkollektive". [Mir fiel dieser Begriff spontan ein, jedoch haben ihn schon andere, bislang freilich selten, verwendet: Google spendiert uns derzeit im Singular 6 bzw., wenn man den anders zu verstehenden Begriff des "mathematikbezogenen Interessenkollektivs" ausklammert, 5 Treffer, im Plural sogar nur insgesamt 4. Er hätte eine weitere Verbreitung in der Soziologie und Politologie verdient, auch wenn der Begriff "Kollektiv" durch den Gebrauch im Kommunismus diskreditiert ist.]
Was ein "Interessenkollektiv" (im Sinne der Durchsetzung sozialer "special interests", nicht im Sinne einer subjektiven themenbezogenen Interessiertheit) ist, können wir z. B. einem kuriosen Dokument entnehmen: dem "Gutachten
zum Musikstandort St. Pauli". [Das übrigens durch seine bloße Existenz dokumentiert, wohin und wofür die uns aus den Taschen gezogene Staatsknete gelegentlich abfließt ... .] Dort ist von " Interessenkollektiv (Club, Repräsentanz/IG, Behörde, Bezirksamt, Fraktion/Koalition usw.)" die Rede; zu ergänzen wäre "Gewerkschaft", "Arbeitgeberverband", "Berufsverband" "Kirche" bzw. "Religionsgemeinschaft" usw.
Diese Organisationen nehmen, gelegentlich durch spektakuläre Demonstrationen oder andere Aktionen, tagtäglich aber durch ihre Lobbyisten in Berlin (und vielleicht wirken in Bonn auch noch einige; schließlich sitzen ja, "dank" unserem inneffizienten 2-Regierungs-Städte-System, auch in Bonn noch zahlreiche Regierungsbeamte) Einfluss auf die Staatsmaschine. Die Effektivität des Lobbyismus unterliegt freilich selbst gewissen systemimmanenten Beschränkungen; vgl. im Wikipedia-Eintrag die zutreffende Feststellung (zur "Situation in Deutschland", tatsächlich aber allgemein gültig): "Gerade Spitzenverbände können wegen der vielen unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen oftmals nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner agieren. Die Notwendigkeit der meist schwierigen Kompromissfindung zwischen den oft unvereinbar erscheinenden Einzelinteressen innerhalb der Verbände kann die effiziente Interessenvertretung bereits in den frühen Phasen hemmen". Beispiele sind etwa die Ladenschlussdebatte, wo verschiedene Handelsorganisationen unterschiedliche Standpunkte hatten; aber auch die Gesundheitsdebatte, wo der klare Einsatz etwa der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände z. B. gegen die Interessen von Pillendrehern und Pülverchen-Produzenten wahrscheinlich durch die U-Boote -Pharmaindustrie und deren Arbeitnehmer- in den jeweils eigenen Reihen gebremst wird, während die sogenannten "alternativen" Heilmethoden der Handaufleger und Kräuterheiler ihre politischen Heiligen in den Reihen der Grünen haben).
Die Wirkung von Lobby-Arbeit auf politische Entscheidungen ist keineswegs immer erfolglos und schon gar nicht immer segensreich. Es wäre indes nicht nur naiv, sondern nachgerade gefährlich, wollte man diese "Transmissionsriemen" von Bürgerwillen (das Wort hier als Plural gedacht, weil es "den" Bürgerwillen nicht oder allenfalls selten gibt; s. o.) in toto verteufeln. Niemand ist so weise, das sie oder er alles überblickt; die Lobbyisten sind nicht nur Heckenschützen einer demokratischen Willensbildung auf dem offenen Meinungsmarkt (das zwar mehr oder weniger häufig auch), sondern in einer ersten Phase des Entscheidungsprozesses wohl primär Informationslieferanten. Sie liefern Daten, vermitteln die Meinungen, die in dem von ihnen vertretenen Interessenkollektiv vorherrschen oder sich durchgesetzt haben, und entwickeln (vermute ich mal) vor allen Dingen Szenarien (die sie natürlich nicht in allen Fällen den Politikern und der Öffentlichkeit auf die Nase binden werden) über die Auswirkungen beabsichtigter gesetzlicher und sonstiger Maßnahmen auf die Mitglieder ihres Interessenkollektivs.
Das ist weder unwichtig noch durchgängig negativ zu sehen: es ist eine Form von mittelbarer Bürgerbeteiligung, die, wenn man sie gesetzlich untersagen würde, in anderer Form weiterleben würde, dann allerdings nicht mehr auf dem offenen Markt, sondern im Untergrund, was den Gemeinschaftsinteressen insgesamt sehr viel abträglicher wäre. Unter den gegenwärtigen Bedingungen können diejenigen, welche sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen (oder zumindest ihrer eigenen Einschätzung nach diesem dienen, was externe Beobachter nicht unbedingt ebenso sehen müssen), immerhin Gegenminen legen. Insoweit vgl. z. B. für Deutschland den Blog "LobbyControl", die "NachDenkSeiten.de" oder den Stern-Artikel "Die Revolution von oben" von 2003, wo auch der "Konvent für Deutschland" erwähnt wird, dem u. a. Pohl angehört; allerdings konnte mich meine sorgfältige Analyse von Pohls Buch nicht davon überzeugen, dass wir es hier mit einer besonders raffiniert reflektierten Variante der Durchsetzung von ökonomischen Partikularinteressen zu tun hätten.
[Aber vielleicht bin ich ja selbst das bedauernswerte Opfer einer geschickten Meinungskampagne der Arbeitgeber geworden. Ich war nämlich, faute de mieux, in meiner Kindheit und Jugend begeisterter Leser der Zeitschrift "Heim und Werk", was mich - je nach Beurteilungsstandpunkt - für ökonomische Zusammenhänge sensibilisiert oder zu einem lumpenproletarischen Interessenvertreter des Kapitals? (Wie auch immer; während ich dieses schreibe, hat mir der Teufel die Bach-Arie "Schafe können sicher weiden",gesungen von Magdalena Kozena, auf den Disk-Teller gelegt. Charakteristisch stammt diese Arie aus der Jagdkantate; nur weil und wenn die Schäflein Wolle geben, weiden sie sicher - sofern bzw. solange sie nicht für Speisezwecke benötigt werden :-).]
[In der Anzahl der jeweiligen Links der beiden deutsch- bzw. englischsprachigen Wikipedia-Einträge kommt es nicht zum Ausdruck, dass in den USA die Bürger-Bemühungen um Lobbykontrolle weit ausgeprägter sind als bei uns (vielleicht auch als Ausdruck oder Folge des "Paranoid Style in American Politics"). Es existieren dort eine Reihe von Webseiten (die nicht immer jenen linken Hintergrund haben, der ihre Entsprechungen bei uns -mir zumindest- wiederum suspekt macht, selbst eine Form von lobbyistischer Anti-Lobby zu sein), die Informationen zur Lobby-Arbeit geben. Besonders diejenigen, die eine bestimmte Politik für falsch halten, sind natürlich motiviert, nach den Hintergründen dieser Politik zu forschen und das Wirken von Lobby-Einflüssen zu decouvrieren und zu attackieren - wofür sie dann u. U. wiederum selbst Prügel von der Lobby beziehen. Ein spektakulärer Fall dieser Art war kürzlich die Studie "The Israel Lobby and US Foreign Policy" vom März 2006, der renommierten Politologie-Professoren John J. Mearsheimer and Stephen M. Walt (vgl. dazu auch meine Ausführungen u. d. T. "IN THE MACCHIA OF SPECIAL INTERESTS – A WELL OF CLEAR-CUT ANALYSIS?").]
Greifen wir, den Exkurs zum Thema "Lobbyismus" abschließend, noch ein konkretes Beispiel aus dem Bereich Umweltschutz heraus, wie es in dem Zeit-Artikel "Profitcenter Regenwald" von Urs Willmann beschrieben ist. Er hat vielleicht keinen unmittelbaren Bezug zum Thema, wie es gemeinhin in der öffentlichen Debatte verstanden bzw. behandelt wird. Der Nutzen einer Lektüre liegt in der hier beispielhaft dargestellten Tatsache, dass "gut" nicht immer "gut" ist, dass Gesinnungsethik unerwünschte Ergebnisse produzieren kann (wie vergleichbar auch eine allzu rigide staatliche Mietbegrenzung eine verfallende Bausubstanz), und dass Lobbyismus im Einzelfall durchaus Realismus in eine Debatte bringen kann, die sonst durch Abstraktion die Realitäten verfehlen könnte.
Doch zurück zu Pohl. "Bisher müssen die Parteien, die Lobbyisten, die betroffenen Institutionen usw. alle in den Entscheidungsprozess mit ihren Vorschlägen einbezogen werden" schreibt er, und das erschreckt mich um so mehr, als der damit (wie sich aus dem Wort "bisher" sprachlogisch zwingend ergibt) in Zukunft offenbar nicht einmal mehr "die betroffenen Institutionen" in den Entscheidungsprozess einbeziehen will. Das alles betrachtet er vielmehr "unternehmensstrategisch [als] eine Katastrophe". Nun haben wir freilich in den deutschen Unternehmen bereits eine sehr ausgeprägte Mitbestimmung der Arbeitnehmer; dem Exporterfolg hat es bislang nicht geschadet. Mit den Details der Debatte pro und kontra Mitbestimmung bin ich nicht vertraut und habe mir darüber keine abschließende Meinung gebildet; wesentlich für den vorliegenden Kontext ist lediglich, dass eine negative Korrelation von Mitbestimmung und ökonomischem Unternehmenserfolg jedenfalls für Deutschland zumindest nicht unmittelbar evident ist.
Was schon auf Unternehmensebene zwar auf dem Papier als Nachteil erscheint, in der Realität aber (nach Meinung vieler) sogar ein Vorteil ist, darf auf der staatlichen Ebene erst recht nicht nach einer reduktionistischen Papierform beurteilt werden, sondern unter Beiziehung einer größtmöglichen Zahl von Überlegungen über die Bedingungen und besonders die direkten und indirekten Folgewirkungen.
Zunächst einmal haben wir es auf der Staatsebene mit einer um Potenzen größeren Komplexität zu tun, als selbst in den größten Weltkonzernen. Weisheit und guter Wille, aber sogar auch eine überragende Intelligenz der Führungsperson(en), reichen keineswegs aus, um einen solchen gesellschaftlichen Organismus zu steuern. Vielmehr brauchen wir in erhöhtem Maße Rückkopplungsmechanismen, und genau diese Funktionen erfüllen ja (neben anderen Funktionen) Parteien, Interessenkollektive und die Lobbyisten als deren konkrete Vertretungspersonen.
Genug geschwätzt von der Lobby (deren negative Auswirkungen ich natürlich auch sehe, aber im Kontext der vorliegenden Buchbesprechung nicht zu thematisieren brauche) und weiter zum nächsten Gravamen Pohls.
"Feigheit und Angst der Politiker" macht er als Feinde einer guten Politik dingfest. Auf einer ersten Beschreibungsebene kann man das durchaus so sehen. Nur darf man dann nicht übersehen oder verschweigen, dass "mutige" Politiker dank demokratischer Bürgerbeteiligung häufig ganz schnell weg vom Fenster sind. Oskar Lafontaine hatte vor der Bundestagswahl 1998 die Reformaversion breiter Bevölkerungsschichten geschickt instrumentalisiert, und wenn der Zauderkanzler (diese Bezeichnung trifft natürlich nicht seine außerordentliche Leistung bei der Wiedervereinigung) Kohl schon früher mehr innenpolitische Innovationsfreude gezeigt hätte, wäre er vielleicht ganz einfach schon entsprechend früher 'weg vom Fenster' gewesen.
Auf Pohls Forderung, das "Tempo auf allen Gebieten [zu] steigern" (noch S. 141, ebenso S. 142) war ich oben schon in anderer Weise eingegangen. Hier sei ergänzt (nicht so sehr gegen Pohl, als vielmehr gewissermaßen 'gegen uns alle'), dass damit, auf wirtschaftlichem Gebiet, zwangsläufig auch der Ressourcenverbrauch gesteigert wird (näher extemporiert an einem konkreten Sachzusammenhang z. B. in meinem op. cit. "Rentenreich"). Auf dem Feld der Gesetzgebung müssen wir außerdem aufpassen, dass nicht eine allzu hektische Gesetzgebung allzu viel organisatorischen Mist produziert (Stichwort "Hartz IV").
Dass "Die Gründung eines Unternehmens ... an einem Tag erledigt sein" muss (S. 142) ist, für sich genommen, sicher ein erstrebenswertes Ziel. Wenn man es dann aber im Einzelfall konkretisiert, z. B. "Genehmigung für die Umwandlung der Grube Messel zur Mülldeponie muss in einem Tag erteilt werden" oder "Genehmigung zur Errichtung einer Feuerwerksfabrik in Ihrer Nachbarschaft muss in einem Tag erteilt werden", erscheint es schon erheblich weniger sympathisch und vernünftig.
(Nicht nur) an dieser Stelle hätte sich der Rezensent deutlich mehr an szenarieller Phantsie und intellektueller Penetrationstiefe gewünscht, als dieses Buch sie bietet. Es mag schon sein, dass "in Deutschland ... dreimal so viele Prozeduren notwendig sind, wie in Finnland und die Gründer ... fünfmal so viel Zeit [brauchen], wie in den USA". Aber dafür ist uns auch noch keine Feuerwerksfabrik um die Ohren geflogen, wie das gelegentlich in China geschieht und sogar im benachbarten Holland (in Enschede) im Jahre 2000 [Gott, wie die Zeit vergeht: 6 Jahre ist das nun schon her - und immer noch plastisch im Gedächtnis!] passiert ist. Was würde Pohl selbst sagen, wenn man ein solches Ding (oder andere schmutzige oder geräuschreiche Betriebe) in der Nähe seiner eigenen Wohnung hochziehen wollte, und wenn er sich vielleicht nicht einmal mehr dagegen wehren könnte (denn, auch wenn er es nicht ausdrücklich erwähnt, gehört insoweit zur "Abschaffung von Bürokratie" natürlich auch die Abschaffung oder weitgehende Einschränkung gerichtlicher Klagemöglichkeiten der Bürger).
Was die USA angeht, ist der "Sarbanes-Oxley-Act" nicht gerade ein Muster an Bürokratieabbau, und 'schmutzige' Industrien bekämpfen 'die Bürger' dort noch wirkungsvoller als bei uns:
"Den USA mangelt es nicht nur an Öl, sondern auch an Benzin. Die letzte Raffinerie ist im Land der unbegrenzten Möglichkeiten vor 30 Jahren errichtet worden; seitdem ist jedes Neubauvorhaben gescheitert, oft am Widerstand der jeweils örtlichen Bevölkerung. »Nimby« – not in my backyard – hieß deren Schlachtruf", berichtet etwa Fritz Vorholz in dem Zeit-Artikel »Träumt weiter« vom 08.09.2005 über die energiewirtschaftlichen Folgen des Hurrikans Katrina (s. a. "USA und Europa rangeln um besten Platz an der Zapfsäule" von Torsten Riecke im Handelsblatt vom 23.06.2005). Und neue AKWs haben die USA, aus dem gleichen Grunde, auch schon seit langem nicht mehr gebaut.
[Im übrigen bin ich überzeugt, dass, auf den ersten Blick paradox, schmutzige Industrien auch bei uns in ihrer Ansiedlung deutlich mehr behindert würden, wenn man sie weniger besteuern würde: vgl. dazu meinen Eintrag "KIRCHHOF oder ÖLRAFFINERIE?" über diesen unbeabsichtigten Nebeneffekt der den Gemeinden in Deutschland zustehenden Gewerbesteuer; zugleich ein Beispiel dafür, welch weit reichende Zusammenhänge die Politik im Auge haben muss oder sollte.]
Eine wesentliche Dimension eines auf Veränderung in unserem politisch-gesellschaftlichen Raum gerichteten Denkens vermisse ich bei Pohl total (falls sie sich nicht hinter Pohls Forderung nach "Transparenz" versteckt): Überlegungen zu der Frage nämlich, inwieweit man gesellschaftliche Strukturen so gestalten könnte, dass die Bürger nicht durch moralische Appelle oder juristische Strafen, sondern durch "Reiz-Reaktions"-Mechanismen zu Akteuren statt partiell zu Hindernissen einer Weiterentwicklung unseres Staates in Richtung auf eine größere Effizienz werden.
Ein Hebel zur Durchsetzung von Modernisierungen, der in (nicht nur:) meinen Augen besonders Erfolg versprechend ist, wäre die Etablierung von Feedback-Mechanismen in größtmöglichem Umfang. Verhalten muss so direkt wie möglich belohnt (ggf. natürlich auch bestraft) werden. Ein Schlagwort, das den Sachverhalt (für bestimmte Zusammenhänge) erfasst, ist z. B. "Leistung muss sich lohnen", d. h. Arbeitseinkommen sollte nicht so hoch besteuert werden, dass der tätige Mensch die Lust am Schaffen verliert.
Ein anderes Feld ist die Gesundheitspolitik. Durch entsprechende Anreize (Tarife mit Eigenbeteiligung, Prämien oder Rückerstattungen) könnte man vermutlich die Inanspruchnahme von Leistungen der Gesundheitsanbieter und damit auch von Kassenleistungen deutlich reduzieren. Genau das will die Gesundheitsreform ja auch erreichen; tatsächlich scheint sich nun allerdings (ich weiß nicht, ob aufgrund verfehlter gesetzlicher Vorgaben oder der Durchsetzung von Organisationsinteressen der gesetzlichen Krankenkassen) ein Tarifschungel zu entwickeln, wie ihn ja auch private Firmen gern anpflanzen, um ihre Kunden über die Kosten ihrer Leistungen zu täuschen.
Im Detail kann das allerdings zwiespältig sein. Die Kopfpauschale ist einerseits auf den ersten Blick gerecht, denn wer mehr Geld verdient, ist ja nicht dadurch ein größerer Kostenfaktor für die Krankenkasse (vom Krankengeld einmal abgesehen). Andererseits können aber die Geringverdiener die Kosten für ihre eigene Krankenversicherung nicht in vollem Umfang tragen. Die Lösung, Zuschüsse aus Steuermitteln zu finanzieren, dürfte wiederum die gefühlte Intransparenz staatlicher Mittelverwendung vermehren.
[Der Bürger könnte zwar die Ausgabeposten auf dem Papier nachlesen, aber 1) tut er es nicht, 2) sagen ihm Zahlen, die er etwa aus Zeitungsartikeln doch mitbekommt, nichts und 3) kann er die Ausgaben in ihren Proportionen und hinsichtlich ihrer Dimension nicht richtig einordnen (so dass er glaubt, die Hautshaltsprobleme seien dadurch begründet, dass die Politiker 'sich die Taschen vollmachen'). Viele Menschen haben für Zahlen, die eine Million übersteigen lediglich die Kategorie "viel" im Kopf; Milliarden oder gar Billiarden liegen einfach außerhalb des Vorstellungsvermögens der breiten Masse. (Und wenn ich mich selbst anschaue, geht mir das auf einem anderen Gebiet im Prinzip nicht anders: ich muss häufig noch Preise von Euro in DM umrechnen, um mir eine handlungsrelevante Vorstellung davon zu machen, wieviel etwas 'wirklich' kostet.)]
Im derzeitigen System der Krankheitskostenfinanzierung weiß der Besserverdienende immerhin, dass er den Geringverdiener mit seinen eigenen höheren Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung subventioniert. Mir scheint, dass das auch weitgehend akzeptiert wird. Dieses System von Solidarität (oder Umverteilung) ist jedenfalls einigermaßen transparent. Subventioniert man die Beiträge der Geringverdiener aus Steuermitteln, 'verschwindet' in den Augen des Steuerzahlers noch mehr Geld beim Moloch Staat, und er wird sich berechtigt fühlen, noch mehr andere Leistungen 'für sein Geld' zu fordern - obwohl dieses ja schon ausgegeben ist. Aber da ist für den Bürger der Zusammenhang nicht mehr ersichtlich; deswegen stehe ich z. B. der Kopfpauschale sehr kritisch gegenüber. (Die kostenlose Mitversicherung von Ehegatten, jedenfalls soweit sie keine zu betreuenden Kinder haben, könnte man allerdings zur Debatte stellen. Und ebenso wäre es natürlich sachgerecht, die Krankenversicherungsleistungen für die Kinder gesamtgesellschaftlich, also über Steuern, zu finanzieren. Schließlich profitiert ja auch die gesamte Gesellschaft - nicht zuletzt die Realkapitalbesitzer - von "Investitionen" in "Humankapital".
Aber jedenfalls vom Grundsatz her wäre die Gesundheitspolitik ein Feld, wo man wahrscheinlich mit Rückkoplungsmechanismen Kosten sparen könnte.
Nur darf bei den Bürgern nicht der Eindruck entstehen, dass die jeweilige Maßnahme als Raubzug in ihre Besitzstände gedacht ist.
Die Einführung z. B. von Karenztagen oder von Abschlägen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wäre in keinem Falle populär. Man könnte aber den Widerstand mindern, wenn man die rechnerischen Einsparungen wiederum den Arbeitnehmern zukommen ließe (z. B. 3 Karenztage, dafür aber eine allgemeine gesetzliche Lohnerhöhung um 1%; wobei man eine solche Vorgabe durch eine weitere (widerstandsmindernde und deshalb politisch "weise") Strategie, nämlich eine gleitende Einführung (z. B. begrenzt auf neue Arbeitsverhältnisse) oder auf andere Weise (z. B. freiwillige Vereinbarungen) für die Bürger akzeptabler machen könnte. Das ist natürlich nicht das Hau-Ruck-Verfahren, wie es Pohl aus den Unternehmen kennt. Nur ist eben auch der Staat kein Unternehmen, und wer ihn als solches führen und betreiben will, wird früher oder später Schiffbruch erleiden.
In Unternehmen geht es weitestgehend nur um Zahlen; die Politik hat wesentlich auch mit Werten zu tun; die kann kein noch so weiser Aufsichtsrat einer ganzen Gesellschaft vorgeben oder aufoktroyieren, die müssen im gesamtgesellschaftlichen Dialog auf allen Ebenen - institutionellen wie individuellen - gepflegt, gestärkt und weiter entwickelt werden. Auch dabei dürften Interessenkollektive, Parteien, Justiz usw. wichtige Funktionen haben.
Bereits die Kommunisten haben bekanntlich vergeblich versucht, eine Kommandowirtschaft zu etablieren. Bei uns dagegen müsste eine kluge Politik versuchen, allgemeine Methoden der "Sozialkonstruktion" (engl. "Social engineering", mit dem unterscheidenden Zusatz "political science"; ohne diesen besteht Verwechslungsgefahr mit dem gleich lautenden Begriff für das Ausspionieren von Computer-Passwörtern usw.), auf konkrete Sachzusammenhänge anzuwenden.
Das folgende Kapitel (S. 145 ff.) ist "Die demografische Herausforderung" überschrieben.
Bemerkenswert (wenn man bedenkt, dass Pohl vorher von den Politikern eine weite Voraussicht gefordert hatte) ist seine Meinung (die ich teile) "dass alle Berechnungen unter den heutigen Gesichtspunkten und aus dem Blickwinkel der heute vorliegenden Zahlen Makulatur sind" und dass es "erhebliche Unsicherheitsfaktoren [gibt], die Zukunftsprognosen trotz Hochleistungsrechner nicht wirklich erlauben" (S. 145). Er räumt ein, dass niemand (also auch nicht die Politiker) heute wisse, wie sich die Migrationsströme entwickeln, wie der "Kampf um die Weltherrschaft" zwischen den europäischen, US-amerikanischen und asiatischen oder südamerikanischen Interessen ausgehen wird", wobei er "Kampf um die Weltherrschaft" mit "Weltkrieg um Wohlstand" gleichsetzt, was mich sachlich und terminologisch einigermaßen irritiert. Lesern, die mehr Zeit haben als ich, sei die Lektüre der Spiegel-Artikel von Gabriel Steingart empfohlen, aber mehr noch die Kritik an Steingarts Buch, z. B. in der Kurzübersicht im "Perlentaucher" oder den "Verriss" von Dieter Wermuth in dem -auch sonst interessanten- Zeit-Blog "Herdentrieb", der mit folgendem Text schließt: "Ich will es dabei bewenden lassen. Das Buch zeigt vor allem eins: dass es um den ökonomischen Sachverstand der gebildeten Stände in diesem Land schlecht bestellt sein muss, wenn schon die Meinungsführer so krausen Unsinn in die Welt setzen und dafür auch noch meist freundlich rezensiert werden". (Hervorhebung von mir)
Auch ich glaube nicht an einen Weltkrieg um Wohlstand; eher an einen Kampf aller gegen alle um die letzten Ressourcen; von "Wohlstand" wird nach meiner Einschätzung nicht mehr allzu lange die Rede sein.
Und dass Europa (oder Südamerika) in einem Kampf um die Weltherrschaft mitmischen könnte - das ist wohl ziemlich illusorisch.
[Im übrigen (und nicht gegen Pohl gesagt): Wenn uns, so oder so, weltweite Auseinandersetzungen bevorstehen, wäre es wichtig, dass Europa sich formiert. Wir Deutschen hätten dabei zwar eine wichtige Rolle, allein können wir es jedoch nicht "reißen". Andererseits könnten wir aber auch in eventuellen weltweiten Konflikten, wie kalt oder heiß auch immer, nicht allein bestehen.]
Natürlich thematisiert Pohl auch die Verschiebung im Altersklassenaufbau der Bevölkerung. Widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang seine Darstellung betreffend die zukünftige Produktivitätsentwicklung. Auf S. 147 heißt es: "... Ökonomen ... gehen ... davon aus, dass sich die Produktivität und das Pro-Kopf-Einkommen der Erwerbstätigen bis 2050 noch einmal verdoppeln wird". Fast unmittelbar anschließend (S. 148) konstruiert er einen Gegensatz, der aus seinen vorhergegangenen Ausführungen nicht verständlich ist: "Andere [gemeint sind ebenfalls Ökonomen; vgl. den Folgesatz "Diese Ökonomen ..."] glauben, dass die Überalterung unserer Gesellschaft kein Schreckensszenario sein wird, da trotz sinkender Zahl der Erwerbstätigen ein wesentlicher Produktionsfaktor vergessen wird, nämlich der Produktivitätsfortschritt."
Inhaltlich ist es zutreffend, dass ein steilerer Wachstumspfad (hohe Produktivitätssteigerungsrate) Verteilungskonflikte wahrscheinlich entschärfen würde. Pohl will "Verteilungsstress" vermeiden, indem "Die Konzentration [ergänze: "der Aufmerksamkeit"?] ... nicht den ökonomischen Daten gelten [sollte], sondern eher dem Problem, wie die Menschen in der Kommune, in ihrer Region ... Nationalstaat, im supranationalen Gebilde, aber auch in der globalisierten Welt zusammenleben." (S. 148) Die Art des Zusammenlebens wird freilich ganz wesentlich durch die ökonomischen Daten mitbestimmt, wenn nicht gar weitestgehend vorgegeben. Und wer die Menschen davon ablenken will, gerät schnell in den Verdacht, "Opium für das Volk" zu fordern.
Realistisch ist immerhin die Einschätzung von Pohl, dass auch Anreize, welche die Politik zu setzen versucht, die Menschen nicht in größerem Umfang zu verstärkter Reproduktion bewegen werden.
[Angesichts der schon bestehenden Überbevölkerung auf unserem Planeten wäre das wahrscheinlich auch ausgesprochen unvernünftig, denn eine noch größere Zahl von Erwerbstätigen würde entsprechend mehr Ressourcen verbrauchen. Wie ich in meinem "Rentenreich" (speziell in dem Kapitel "Die ökologische Dimension von Produktionssteigerungen im In- und/oder Ausland: Sparen durch Plünderung der Naturspardose?") näher ausgeführt habe, könnten unsere Versuche, die Renten zu retten -durch Reproduktionsförderung oder durch verstärkte Investitionen zur Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums- absolut kontraproduktiv wirken, weil beide Wege die Ressourcenverknappung beschleunigen. Am Ende haben wir dann zahlreiche Arbeitskräfte oder Maschinen, können aber weniger produzieren, weil wir die knappen Rohstoffe bereits auf dem Weg zu dieser Produktivitäts- bzw. Produktionssteigerung verfrüstückt haben. Vielleicht sollte deshalb eine "weise", zumindest aber vorausschauende, Politik sich bei der Geburtenförderung eher zurück halten?]
Eine wesentliche Sorge in diesem Zusammenhang ist bei Pohl wohl die Pflege der älteren Menschen, wenn sie erkrankt sind. Möglich, dass sein Vorschlag, in den Städten organisatorische Unter-Gliederungen von ca. 10.000 Personen zu schaffen (vgl. unten), hauptsächlich von der Vorstellung einer solidarischen Alten- und Krankenpflege her konzipiert ist. Denn auf S. 151 sagt er: "Es müssen Strukturen gefunden werden, die das gesellschaftliche Miteinander auf einer gesunden finanziellen Basis, gepaart mit Gemeinsinn, ermöglichen, ohne dass es zu einem Verteilungskampf zwischen den Generationen kommt". Von einer 'Balkanisierung' der Städte halte ich trotzdem nichts (s. u.); was die finanziellen Probleme des Staates angeht, ist es auch nicht überzeugend, diese einfach zu konstatieren oder auf einen Verteilungskampf zwischen den Generationen einzuengen. Es scheint, dass unser Wirtschafts- und Finanzsystem zwangsläufig dazu führt, dass immer mehr Kapital bei einer kleinen Schicht akkumuliert wird. Solange die Gesellschaft gewachsen ist, und die Wirtschaft noch schneller, und solange Rohstoffe, insbesondere billige Energie (Erdöl) in ausreichender Menge verfügbar waren, hat das noch nicht zu schwer wiegenden Problemen geführt. Wenn sich das zukünftig ändern sollte (und ich gehe davon aus, dass sich dass irgendwann innerhalb den nächsten 30 Jahre -vielleicht sogar schon sehr bald- ändern wird), verliert die (ohnehin problematische) Kapitalakkumulation jegliche ökonomische und damit auch gesellschaftliche Legitimation. Sie dient dann nicht mehr dazu, das Kapital bei einem prozentual kleinen Personenkreis zu konzentrieren, der den allergrößten Teil davon wiederum für neue Investitionen einsetzt, sondern würde (soweit nicht die dann noch verfügbaren Konsumgüter rationiert und zugeteilt werden) dieser Schicht ein Absaugen knapper Güter ermöglichen und dem Rest nichts mehr übrig lassen. Zu investieren gäbe es in einer solchen Situation ohnehin nichts mehr.
Es bleibt abzuwarten, ob dieses Szenario eintreten und wie die Gesellschaft reagieren wird; auf jeden Fall sollten wir unseren Blickwinkel in der Frage der Vermögensverteilung nicht auf die Generationenfrage einengen lassen, sondern im gesellschaftlichen Diskurs schon jetzt darauf beharren, dass massive Verteilungsdiefferenzen nicht gottgegeben (und in vielen Fällen auch nicht dem Verdienst und Würdigkeit der so beglückten Personen zuzuschreiben) sind.
Im Eigentums- wie im Strafrecht kultivieren wir derzeit eine Schönwetter-Ethik, die unter den gegebenen Bedingungen im Großen und Ganzen auch richtig sein mag. Indem wir jedoch diese Ethik verabsolutieren laufen wir Gefahr, dass unsere (westlichen) Gesellschaften bei Eintritt einer dauerhaften (und sich sogar ständig verschärfenden) Ressourcenverknappung gegen die dann sehr viel gefährlicheren Partikular- und Individualinteressen nicht hinreichend wehrhaft sind. (Konkretes Beispiel: wie gehen wir bei extremer Rohstoffverknappung z. B. mit Diebstählen von -verlegten- Telefonkabeln, Eisenbahnschienen usw. um? Man wird dann Überwachungsmechanismen einführen müssen, die uns jetzt unvorstellbar erscheinen (oder allenfalls im Kampf gegen Terrorismus akzeptiert werden). Außerdem wird man sehr viel schräfere Strafen -bis hin zur Todesstrafe- einführen (müssen), allein um die Infrakstruktur der Gesellschaft halbwegs funktionsfähig zu halten.
[Von anderer Warte aus betrachtet sollte das für uns schon jetzt ein Grund zur Zurückhaltung mit Kritik etwa an der chinesischen Führung sein, welche durch den Kampf gegen die Korruption, auch mit der Todesstrafe, ja ebenfalls die Funktionsfähigkeit ihrer Gesellschaft zu erhalten und zu stärken sucht.]
Sympathisch bei Pohl ist sein Mut, auch die eigenen Prognosen immer wieder in Frage zu stellen und darauf hinzuweisen, dass seine eigenen Vorschläge vom Eintritt eines bestimmten [noch relativ positiven] Szenarios abhängig sind. So stellt er z. B. auf S. 152 fest: "Niemand weiß, ob nicht andere Faktoren, wie z. B. Seuchen oder wirtschaftliche Krisen, eine positive Zukunftsentwicklung verhindern".
Dieser Satz findet sich im Abschnitt "Der medizinische Fortschritt", wo er u. a. auch darauf hinweist, dass "die gestaltete Evolution, d. h. Gesundheitsverbesserungen durch Anwendung des Genoms, ... von den jeweiligen Kulturen und Religionen unterschiedlich beurteilt, gutgeheißen oder abgelehnt wird". Wahrscheinlich hatte er hier den insoweit wohl besonders rückständigen Islam im Hinterkopf; ich hätte mir jedoch Überlegungen auch darüber gewünscht, wie wir mit den christlichen Forschungsblockaden z. B. in der Genomforschung umgehen bzw. wie, und zunächst einmal dass, wir sie überwinden können bzw. müssen.
[Nicht nur Christen sind -manchmal bzw. manche- Obskurantisten: Die Tierschützer sind vielleicht sogar noch größere Forschungshemmnisse - vgl. als Beispiel den Bericht "Faule Tricks im Affentheater. Bremer Wahlkämpfer profilieren sich als Tierschützer. Und missachten dabei die Freiheit der Forschung" in der "Zeit" vom 19.04.07.]
Soweit ich früher von Vorschlägen Pohls zur 'Balkanisierung' der Städte gesprochen habe, bezieht sich das auf Ideen, welche der Autor unter dem Titel "Das zweite Arbeitsleben - Kommune und Region, der Inbegriff des Gemeinsinns" (S. 154 ff.) vorträgt. (Den Begriff "Balkanisierung" verwendet er nicht und den dahinter stehenden Sachverhalt intendiert er zweifellos auch nicht; das ist meine Interpretation bzw. Antizipation von Resultaten, wie sie sich m. E. bei einer Umsetzung seiner Vorschläge in die Praxis ergeben würden.)
Pohl fordert (S. 156)
1) eine "Aufteilung der Kommunen in Quartiers auf der Basis von Selbstverwaltung und Gemeinsinn";
2) die "Integration der Ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und [die] Aufläsung von Parallelgesellschaften" sowie
3) "Strukturelle Veränderungen in der Kommunalverwaltung."
zu 1): Nach seinen Vorstellungen soll die Kommune in Quartiers mit maximal 10.000 Personen, aber ggf. auch deutlich weniger eingeteilt werden.
Meine Stadt Wächtersbach mit ihren ca. 12.000 Einwohnern müsste nach seinem Schema zweigeteilt werden; allerdings wäre das von der Geographie her eine ausgesprochene Missgeburt. Die Kernstadt liegt in der Mitte und zählt ca. 6.000 Einwohner; das ergäbe ein "Quartier". Die anderen Ortsteile sind ziemlich weit voneinander entfernt: Aufenau im Südosten, der zweitgrößte Stadtteil mit ca. 3.000 Einwohnern, ist von dem winzigen OT Leisenwald im Norden ca. 14 km entfernt. Man müsste also entweder auf eine Unterteilung verzichten, oder jedes geographische Dorf verwaltungsmäßig zum "Quartier" machen, oder das, was sich jetzt administrativ als Stadt Wächtersbach darstellt, wieder zerschlagen und (teilweise) anderen Gemeinden zuordnen: schon dieses einfache Beispiel zeigt, welch eine Vielzahl von theoretischen und auch praktischen Kombinationsmöglichkeiten dann zu durchdenken wäre - und politisch abzuarbeiten. Meine Leser können sich hoffentlich vorstellen, welch ein Tohuwabohu entstehen würde. Die Politik hat uns vor nicht langer Zeit bei den Arbeitsgemeinschaften für Arbeitslosengeld II (Alg II / "Hartz IV") vorgemacht, welche bürokratischen Monster sie gebären kann, um (angeblich oder vermeintlich) "Bürgernähe" herzustellen.
In einer größeren Stadt wird das alles noch sehr viel dramatischer; es wird "gute" und "schlechte" "Quartiers" geben (z. B. solche mit einer großen Zahl alter Menschen und andere mit relativ mehr jungen Menschen). Schon bei der Entscheidung über die Abgrenzungen ist ein Hauen und Stechen zu erwarten. Bei der Verwaltung wird die Bürokratie, die Pohl doch eigentlich bekämpfen wollte, fröhliche Urständ feiern, zumal er "übergreifende Einrichtungen ... von zwei, drei oder vier Quartiers" mitbetreuen lassen will (S. 159). Großartig: das sind dann (wenn man eine Einbettung der Quartiers in unterschiedliche Quartiersverbände für verschiedene gemeinschaftlich zu organisierende Funktionen - z. B. Krankenhäuser, Gymnasien - unterstellt) allein schon innerhalb von Frankfurt a. M. ein paar hundert 'Umlandverbände in Potenz'? Und dann ginge es zwischen den Quartiers richtig zur Sache: Verteilung von Finanzmitteln, Lastenverteilung, nicht zuletzt auch Zugangsberechtigung ("Wenn du unser Krankenhaus / unser Gymnasium besuchen willst, obwohl du nicht in unserem Quartier/Quartiersverband wohnst, musst du bzw. muss dein Quartier uns dafür extra vergüten") ... usw.
Die Ausländer in Kreuzberg würden sich noch eigenständiger entwickeln als jetzt, weil sie nämlich auch organisatorisch über ihre eigenen Quartiers / Quartiersverbände abgesichert wären: na großartig! So schafft man wahrhaftig keine Parallelgesellschaften ab. Dabei sieht doch Pohl die "Eingliederung von Bürgerinnen und Bürgern[n] mit Migrationshintergrund" als ein "wichtiges und zentrales Problem" an (S. 161).
Pohl hat mit Anarcho-Kapitalismus gewiss nichts 'am Hut', aber vom Ergebnis her könnte eine Verwirklichung seiner Quartiers-Ideen sehr schnell eine Realität produzieren, welche den Vorstellungen des (aus Deutschland stammenden) intellektuellen US-Abenteurers und/oder Provokateurs Hans-Hermann Hoppe entspricht, nämlich gegen "forced integration" und für das Recht auf "spatial exclusion", die räumliche Ausschließung verschiedener nach ethnischen und/oder sonstigen Kriterien definierter Gruppen gegeneinander. "Free association and spatial exclusion must be recognized as not bad but good things that facilitate peaceful cooperation between different ethnic and racial groups" [Hervorhebung von mir] schreibt Hoppe in seinem Buch "Democracy, the God that failed" ("Demokratie - Der Gott, der keiner ist"), und zwar in dem auch online verfügbaren Kapitel "The Rise and Fall of the City".
Lorenz Jäger diagnostiziert in einer FAZ-Buchbesprechung , dass das Buch Hoppes "die reine Lehre des reinen, ultraliberalen Kapitalismus mit dem Gesellschaftsbild der hartgesottenen Konservativen" verbinde und sieht als Ergebnis einer fiktiven Umsetzung Hoppescher Ideen eine Entsprechung zu dem, was ich bei Pohl konstatiere:
"Hoppes Utopie des staatsfreien Kapitalismus läuft auf Sezessionen hinaus, auf eine Welt der Kleingebilde nach dem Muster von Singapur, Liechtenstein und Monaco."
[Weitere Rezensionen z. B. hier sehr ausführlich), oder im Deutschlandradio die Analyse von Florian Felix Weyh, der Hoppes Buch griffig als "ein Stück politischer Pornographie" charakterisiert. Hoppe hat, wie (oder als?) ein historischer Hofnarr, jedoch genügend Selbstironie, um sogar die eigene Rolle -wenn auch in einer geschichtlichen Mirage oder Fata Morgana- kritisch zu reflektieren, indem er über die Intellektuellen sagt: "... the members of the natural elite were only rarely intellectuals themselves (i.e., people spending all of their time on scholarly pursuits,) but were instead people concerned with the conduct of earthly enterprises, they were typically at least as bright as their intellectual employees, so the esteem for the achievements of ‘their' intellectuals was only modest." (Hervorhebung von mir) ]
Bei Pohl vermute ich, dass linke Kritiker sein Projekt einer Distriktifizierung der Städte als einen hinterhältigen Versuch ansehen würden, die Städte in Wehrdörfer für die Wohlhabenden und Lager für den Rest aufzusplittern. Ich selbst bin mir zwar sicher, dass Pohl das nicht will; ebenso bin ich mir in Kenntnis der Menschennatur aber sicher, dass genau derartige Tendenzen sich einstellen würden. (Auch) aus diesem Grunde spricht sich etwa der Soziologe Richard Sennett dafür aus, sogar schon das visuelle Design der Städte so zu gestalten, dass sich Ethnien und Schichten möglichst mischen (vgl. z. B. den Artikel "Tolerieren ist nicht genug. Richard Sennett über Megastädte, Ghettos und die Möglichkeiten des neuen Bürgersinns" in der "Welt Online" vom 30.04.05). Dass eine administrative Zersplitterung tendenziell auch zu einer sozialen Aufsplitterung und Abkapselung (natürlich längerfristig auch mit städtebaulichen Repräsentationen) führen bzw. bereits bestehende gesellschaftliche Trennlinien verfestigen würde, liegt auf der Hand.
Noch deutlicher sind Sennetts Ausführungen in seiner Dankesrede zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart, die (verkürzt) unter dem Titel "Der falsche Trost der kleinen Welten" in der Frankfurter Rundschau vom 28.03.2007 veröffentlicht wurde. Sennett sagte dort u. a.:
"Wir haben ein materielles Bewusstsein von Menschen, die wir kennen. Dieses Bewusstsein kann geprüft und analysiert werden. Vom Fremden haben wir ein immaterielles Bewusstsein. Es ist rein kategorial und symbolisch. Es kann durch Erfahrung nicht geprüft werden. Der Fremde wird zu einem Wesen, auf das wir unsere eigenen Verstörungen und Ängste projizieren. Das ist der Grund, warum ich in der Diskussion um den Städtebau für die Tugenden des öffentlichen Raumes eintrete und den Lokalpatriotismus, den Kleingemeinde-Geist und die 'Gemeinschaft' als Gegensatz zur Gesellschaft kritisiere. Um eine komplexe Gesellschaft lebenswert zu machen, müssen wir die kleine Gemeinschaft geringer und den unpersönlichen öffentlichen Bereich höher bewerten." ... Im modernen Kapitalismus verbinden sich ökonomische Innovation und kultureller Fundamentalismus. In Büchern wie Der flexible Mensch und 'Respekt im Zeitalter der Ungleichheit' habe ich diese verfluchte Kombination zu verstehen versucht so wie sie die, die in der neuen Ökonomie arbeiten sie mir gegenüber ausdrückten. Amerikanische Ingenieure, die die Tröstungen der Religion suchen, ohne an die Bibel zu glauben. Britische Krankenschwestern, die die Dörfer verklären, aus denen sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit flohen. In London lebende islamische Immigranten der zweiten Generation, die das Leben ihrer Großeltern idealisieren, ohne auch nur im geringsten daran zu denken, 'zurück'zukehren. Für sie alle gibt es einen Bruch zwischen dem, was kulturell sein sollte und der gegenwärtigen Gesellschaft."(Hervorhebungen von mir)
Die Kokonisierung oder das Einspinnen der Städter in administrative Blisterpackungen wird aber keine Ersatzheimaten schaffen, und schon gar keine individuellen Denkhorizonte, welche den Herausforderungen der Globalisierung gewachsen wären.
Als Historiker müsste Pohl, selbst wenn er nicht auf die Renaissance oder Italien spezialisiert ist, doch zumindest am Rand z. B. Einzelheiten aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alltagsgeschichte italienischer Städte mitbekommen haben, über die dort mit geradezu feindseliger Erbitterung ausgetragenen Kämpfe zwischen den verschiedenen Stadtvierteln. Da gab es nicht nur Wettstreite in Gestalt von Pferderennen, wie heute noch in Siena das weltberühmte "Palio" (auch zahlreiche andere italienische Städte zelebrieren aber ihre Palii). Es fanden sogar regelrechte Kämpfe statt, z. B. Faustkämpfe oder sogar Steinwurfschlachten, da floss Blut zwischen den "Contrade" oder "Rioni". Ganz so schlimm wird es heute nicht wieder kommen, aber dass unser Land durch eine Verdorfung, eine Wabifizierung der Städte fit für die Globalisierung gemacht werden könne, ist für mich absolut unvorstellbar (wobei jedoch anders als bei den Bienen die einzelnen Waben für bestimmte Funktionen noch in jeweils unterschiedliche Meta-Waben eingegliedert wären).
[Im 18./19. Jahrhundert hat man sich über die "Pfahlbürger" vergangener Zeiten lächerlich gemacht, Zeiten, in denen z. B. eine Stadt wie Prag in 5 Städte (Altstadt, Neustadt, Kleinseite und Hradschin sowie die selbstverwaltete Judenstadt) aufgeteilt war, die auch gegenseitig (also nicht nur alle zusammen nach außen hin) durch Mauern getrennt waren. Das war kostspielig und ineffizient; dennoch wurden die Stadtteile erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zusammengelegt (bzw. das Ghetto wurde erst im 19. Jh. aufgelöst). (Es war wohl weniger die Dummheit und der Kirchturmshorizont der Bürger, der im Fall von Prag eine Vereinigung der Städte verhindert hat, sondern das Interesse des Landesherren, die Stadt politisch nicht zu stark werden zu lassen.) Welches historische Wissen mich wiederum aktuell die Frage assoziieren lässt, ob und ggf. welche gesellschaftlichen Partikularinteressen heute eine Balkanisierung betreiben oder begrüßen könnten.]
Im Detail entwickelt Pohl seine Vorstellungen einer gemeinnützigen Nachbarschaftsarbeit insbesondere auf S. 158. Aber selbst eine für sich genommen vernünftige Lösung, dass nämlich Personen, die sich "nicht direkt an den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Aufgabenbereichen in ihrem Quartier oder der Kommune beteiligen wollen", einen entsprechenden Ausgleich zahlen wollen, zeigt einerseits (bei ein wenig weiterem Nachdenken) die Problematik auf und wäre andererseits Gift an den Wurzeln seiner Solidargemeinschaften. Es müssten nämlich einerseits Rechte und Pflichten völlig neu (und natürlich sehr genau) definiert werden, wobei auch den individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten Rechnung getragen werden müsste (schon um die "Freikaufsumme" zu definieren). Zum anderen würde es darauf hinaus laufen, dass die "Nachbarschaftshilfe" in den wohlhabenden Stadtteilen mehr professionalisiert wäre, in den armen Gebieten (wo ja auch nicht unbedingt die fähigsten Persönlichkeiten residieren) dilettantisiert. Und es würde Neid und Haß gesät werden zwischen jenen Menschen, welche 'fronen' müssten, und den anderen, die sich loskaufen könnten. Eine solche Konstruktion wäre natürlich auch der Arbeitsmotivation nicht förderlich.
Für mich ist dieses ganze Ideengebäude der Horror in Potenz, und wenn ich auf S. 160 lese, dass die Gesamtkommune die Universität betreiben soll, dann können wir uns von Exzellenzinititiativen gleich verabschieden, dann haben wir nur noch Hinterwäldler-Unis in Deutschland.
Ach ja: die Quartiers sollen auch für "Kultur und Religion" zuständig sein (S. 158): was die Religion angeht, werden die Kirchen wohl dankend ablehnen; bei der Kultur würde dieses unser Land noch weitaus tiefer unter das Weltniveau absacken, als ohnehin schon der Fall. Kultur im Quartier? Heimatabend und Jekami - oh je!(Mein Aufschrei gilt nicht diesen Formen kultureller Aktivitäten an sich, sondern der Befürchtung, dass es dann nichts oder nur noch wenig darüber Hinausgehendes geben könnte.)
"Die Kommunen sind nicht in der Lage, vernünftig regiert zu werden", erklärt uns Pohl (S. 161). Mit dieser etwas ungewöhnlichen Formulierung will Pohl wohl sagen, dass die meisten Kommunen nicht vernünftig regiert werden. Frage: Was tun? "Die Kommune muss genau wie der Staat überlegen, wie sie in der Globalisierung neue Verwaltungsstrukturen schafft ...", antwortet Pohl. Die Verwaltungsstrukturen der Kommunen werden diesen freilich vom Landes- (und, zumindest indirekt, vermutlich auch vom Bundes-) Gesetzgeber vorgegeben; dieser müsste also überlegen, ob die derzeitigen Strukturen noch zweckmäßig sind oder nicht.
Ziel ist für Pohl, dass die Kommune "politische, ökonomische, soziale und kulturelle Entscheidungen schnell und nachhaltig fällen kann" (S. 161/162). Schnelligkeit und Nachhaltigkeit sind allerdings nicht immer einfach zu vereinbaren; das italienische Sprichwort will sogar wissen, dass "pronto e bene non vanno insieme" (schnell und gut gehen nicht zusammen). Und wenn erst die Städte in Quartiers zersplittert sind, und die Quartiers wiederum in Quartiersverbände (wobei ein Quartier je nach Aufgabenstellung u. U. sogar in unterschiedlichen Quartiersverbänden mitarbeiten müsste, so dass man am Ende vielleicht sogar mehr Quartierskollektive als Quartiers in einer Stadt hätte), scheint mir der Schneckengang des Verwaltungshandelns vorprogrammiert. Pohls Wunsch, dass "kein Konkurrenzkampf zwischen Kommune und Quartier oder separatistische Tendenzen innerhalb der einzelnen Quartiers [gemeint wohl: der Quartiers gegeneinander] aufkommen darf" ist ein frommer, und würde gewiss ein unerfüllter bleiben, wollten wir uns daran machen, die Städte (welche die Politiker, häufig gegen den Widerstand der Bürger, gerade vor einigen Jahrzehnten teilweise erst mühsam aus vorher selbständigen Dörfern und kleineren Städten zusammengefügt haben), nun wiederum administrativ in Quartiers zu zerlegen. Immerhin hat er die Möglichkeit einer solchen Entwicklung im Augenwinkel; erschreckend ist jedoch die Leichtigkeit, mit der er sich über organisationssoziologische Grunderkenntnisse hinwegsetzt.
[Überhaupt sind "muss / müssen" und "darf / darf nicht" Lieblingsverben von Pohl. Leider haben diese Verben häufig die Eigenschaft, dass sie zwar den Verwender überzeugen, aber die Realität nicht ändern können. Die Politiker, nicht gar so tumbe Toren wie sie in Pohls Ver-Zeichnung erscheinen, sind da schon etwas weiter, indem sie sich fragen a) "Welche Maßnahmen oder Ziele erscheinen mir wünschenswert?" und b) "Was kann ich davon durchsetzen, oder wenigstens der Tendenz nach 'auf die Schiene bringen', auf welche Weise und in welchem Zeitrahmen?".]
Die 'Stadtregierung' will Pohl in Anlehnung an sein Muster der gesamtstaatlichen Leitung organisieren, ebenfalls mit einer Wahlperiode von 5 Jahren. Ich nehme an, dass er auch hier die Möglichkeit von Volksentscheiden vorsieht; eine darüber hinaus gehende Bürgerbeteiligung auf der kommunalen Ebene ist allerdings nicht vorgesehen (und wäre ja auch ein retardierendes Moment im Entscheidungsprozess).
Wie "das kulturelle Leben ... aus dem Quartier heraus und aus der Kommune heraus neu belebt werden" kann, ist mir schleierhaft. Originäre und originelle Kultur entsteht nicht auf dem Dorf, und selbst eine Stadt wie Frankfurt ist mit ihren müden poshistoristischen Gebäuden und dem mit unoriginellen Museen zugepflasterten (südlichen) Mainufer eine kulturelle Mitläuferstadt, ein "Metooston" (Me-too-town), die Arrièregarde des kulturellen Fortschritts in einem Land, dessen gebührengefütterten Kulturproduzenten ohnehin nichts Besseres einfällt, als das "General Hospital" in den Schwarzwald zu verlegen (wozu unsere Landskünstler aber erst noch einer tschechischen Vermittlung bedürfen). (Auch zum "Traumschiff" standen, wie man dem Wikipedia-Eintrag entnehmen kann, natürlich amerikanische Vorbilder, aber sogar auch kommunistische Unterhaltungskunst Pate.)
Details zu einer wünschenswerten Entwicklung im kulturellen Leben, die für meine Vorstellungskraft allerdings weitaus zu abstrakt und vage sind, breitet Pohl auf S. 163 ff. aus und gibt dort, indem er die Frage aufwirft "Aber reicht diese Vielfalt aus, um in der gloabalisierten Welt eine Top-Position einzunehmen?" diese Spitzenposition indirekt sogar als Zielvorstellung aus.
Spitzenkultur, mit weltweiter Strahlkraft, kommt aber nicht aus Käffern. Die Pfeiffen, nach welchen die Kulturwelt tanzt, werden weder in Hameln noch in jenen hamlets gepfiffen, in welche Pohl unsere Städte zerlegen will. Das gilt für die Zeit der Medici und für die Entwicklung des Barock im päpstlichen Rom ebenso wie für die europaweit ausstrahlende französische Kultur (noch heute ein enormes 'Asset' für Frankreich, weil außenpolitische Irritationen etwa im Verhältnis zu den USA wahrscheinlich durch die Bewunderung der Amerikaner für den Impressionismus usw. an Schärfe verlieren bzw. auf die Sache begrenzt bleiben und somit nicht das Klima zwischen diesen Völker insgesamt vergiften) im Zeitalter des "Sonnenkönigs" Ludwigs des Vierzehnten.
Weimar und Königsberg waren absolute Ausnahmefälle, ermöglicht durch die Kommunikationsform des Drucks; der Bezugsrahmen für die dortigen Dichter und Denker war Deutschland und die Welt, nicht ihre jeweilige Kleinstadt. Soweit sich später das Kulturleben in Nebenzentren dank fokussierter Förderung noch einmal über den Durchschnitt erhoben hat (wie z. B. der Jugendstil in der Kleinresidenz Darmstadt, oder auch Weimar im "Silbernen Zeitalter", welches die Stadt hauptsächlich einer russischen Großherzogin verdankt), hat es achtbare Leistungen, aber keine weltweite Dauerwirkung mehr erzielt. Das Bauhaus haben die Weimarer Kulturbürger zuletzt aus eigener Kraft - vertrieben: Schicksal von Avantgarde-Kultur, wenn ihre Existenz von der Entscheidung der Volksmassen abhängt.
Sehr ausführlich, aber, mit Ausnahme einiger kritischer (und berechtigter!) Seitenhiebe auf ein Kulturverständnis, welches die einschlägigen Leistungen der Kommunen großenteils nach den Ausgaben für die jeweiligen Opernhäuser bewertet, wiederum recht abstrakt äußert sich Pohl über Kultur auf den S. 165 - 167. Auf der regionalen Ebene will er Kultur verankert sehen; das ist dann nicht grundsätzlich falsch, wenn man den Menschen anspruchsvolle Kunst nahe bringen will. Aber schaffen, oder z. B. Orte finanzieren, die Anspruch auf Spitzenstellungen im weltweiten Wettbewerb erheben, kann sie (jedenfalls dort, wo privates Mäzenatentum weniger ausgeprägt ist oder etwa durch steuerliche Regelungen weniger begünstigt wird als in den USA) nur der Staat, und zwar nicht die Kommune, sondern das Land bzw. der Nationalstaat insgesamt. Stuttgart, München, Düsseldorf, Berlin: überall buttert das jeweilige Bundesland und/oder der Bund selbst kräftig rein, um z. B. die Gebäude auf der Berliner Museumsinsel zu errichten. Und auch Hessen könnte seine Wettbewerbsfähigkeit auf diesem Gebiet wahrscheinlich stärken, wenn die Mittel fokussierter (für die Frankfurter Museen oder Ausstellungen in der Schirn) eingesetzt würden, statt sie für die 'Hauptstadt' Wiesbaden und die ehemalige Residenzstadt Darmstadt (und viele andere dazu) zu verkleckern. Andererseits hätten aber dann die Bürger der kleineren Städte das Gefühl, nur die Lastesel für Frankfurter Begehrlichkeiten zu sein und die breite Fläche würde kulturell verarmen: auch keine gute Politik. Es ist eben nicht leicht, einen sinnvollen Ausgleich zu finden, insbesondere in den kleineren Bundesländern. Eine Zusammenlegung unserer besatzungsgenerierten Kunst-Länder würde auch hier eine verstärkte Fokussierung sowie Einsparungen durch sinnvolle Kooperationen erlauben (z. B. der Bühnen in Mainz und Wiesbaden, wenn diese beiden Duodez-Kapitalen nicht mehr durch eine Ländergrenze getrennt wären und nicht in ihrem lächerlichen (Landes-)Hauptstadt-Ehrgeiz Anspruch auf das 'volle Programm' von 'großem' und 'kleinem' Haus erheben könnten). (Das alles sage ich natürlich nicht gegen, sondern, wie ich vermute, durchaus im Sinne auch von Prof. Pohl.)
Von s. 169 - 179 treibt das Geschlechterverhältnis Pohl um; "Frau und Mann - eine endlose Geschichte" ist dieses Kapitel überschrieben.
Über den mutmaßlichen gesellschaftlichen 'Zweck' der Emanzipation, d. h. über die Funktion dieser Entwicklung im Rahmen der sonstigen sozialen Tendenzen, habe ich in meinem Blog-Eintrag "Von der Atombombe zur Frauenemanzipation ..." spekuliert. Die Emanzipation verstehe ich dort als Karotte, welche man (nicht "Mann"!) den Frauen hinhält (jetzt bitte keine phallische Symbolik assoziieren!), um sie im Hasenrennen einer nicht-rationalen (aber nicht: irrationalen!) kapitalgetriebenen Wirtschaftsweise auf die Rennbahn zu schicken. Das mag nun zutreffen oder nicht; auf jeden Fall bin ich überzeugt, dass die historische 'Rationale' (die nicht mit subjektiver Ratio verwechselt werden darf!) eine ganz andere ist als die (scheinbare oder tatsächliche, das kann dahin gestellt bleiben, aber jedenfalls von den Frauen unserer Kultur -bei den Muslima scheint das großenteils anders zu sein- subjektiv als positiv empfundene) sichtbare Oberfläche der 'Befreiung' suggeriert. Es ist offenbar im Wesen unserer Kultur verankert, uns quasi vorherbestimmt, dass wir auch die Frauen in die 'Produktionsschlacht' 'werfen' müssen.
Pohls Meinung bzw. Mahnung (S. 171) "Frauen können und sollten nie dafür kämpfen, wie Männer zu sein ..." krankt jedenfalls an einem intrinsischen logischen Widerspruch. Wenn die Frauen nicht für ... kämpfen können, werden sie es nicht tun; und wenn sie es aber tun, dann können sie es offenkundig auch. Worum es ihm geht, kommt unverblümt auf S. 172 zur Sprache, wo von der "eigentliche[n] Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau" die Rede ist. Andererseits erwägt Pohl aber auch die Möglichkeit, dass der Mann aufgrund der genetischen Entwicklung eines Tages verschwunden sein wird (S. 174), dass "die Männer auf der ganzen Linie versagen" und "etwas falsch [läuft] mit dem starken Geschlecht".
Ein fragwürdiger Trost für uns Männer ist es, "dass die großen Philosophen in der Antike Männer waren" und bis in unserer Zeit die Wissenschaften von Männern dominiert werden (S. 176/177). Ob daran freilich eine den Frauen früher durch die Umstände verwehrte neuronale Progression schuld war (S. 178), kann zweifelhaft erscheinen. Vielleicht wurden ja die Frauen, trotz gleicher intellektueller Kapazität, einfach durch gesellschaftliche Zwänge am Herd gehalten?
Dunkel ist für mich, welche Sachverhalte bzw. Befürchtungen Pohl am Schluss des Kapitels (S. 179) an- bzw. ausspricht, wenn er hofft, dass die Frauen "verhindern, dass der intimste Kern unserer Identität [in einer Zukunft mit einer totalen neuronalen Entschlüsselung] jedem zugänglich ist" bzw. "uns Männer vor der totalen Offenlegung unseres Inneren bewahren".
Das Schlusskapitel ist als "Fazit" dem Thema "Erziehung und Bildung" gewidmet und fasst im Wesentlichen seine vorangegangenen Ausführungen noch einmal zusammen.
Protest muss ich freilich gegen seine Forderung anmelden, dass "Wichtigstes Schulfach und Erziehungsziel für die Zukunft ... Religion und Kultur" sein werde (S. 189). Auch wenn ich dem nicht-gläubigen Ökonomen und Wahrscheinlichkeitsforscher Nassim Nicholas Taleb (vgl. "THE OPIATES OF THE MIDDLE CLASSES") darin zustimme, dass es heute gefährlichere Glaubensformen gibt als die Religion, hieße es den Teufel mit Beelzebub austreiben, wenn wir uns als Rüstung im Kampf (hauptsächlich) gegen die Islamisten deren historisch rückständige Denkweisen 'überziehen' würden. Das wäre ein erster Einbruch des religiösen Obskurantismus in unsere Lebensform. Bislang war unsere Kultur eine solche des Fortschritts (nicht unbedingt zum ethisch Guten, aber zu höherer Komplexität und weiter entwickelter Naturbeherrschung). Ich glaube nicht, dass der Westen dem Islam moralisch überlegen ist; wohl aber sind 'wir' zivilisatorisch die 'Besseren', weil komplexer Entwickelten. Darauf müssen wir beharren, und uns nicht aus Angst vor der Auseinandersetzung in einem grenzenlosen Relativismus verkriechen! Schon gar nicht dürfen wir uns die Form der Auseinandersetzung von antiquierten Denkweisen und Partisanen gesellschaftlicher Rückständigkeit (wie es sie sicherlich auch in unserer Kultur versteckt noch gibt und wie sie einst auch hier offen aufgetreten sind: z. B. in Gestalt der Bauernaufstände in der französischen Vendée oder der legalistischen Briganten Süditaliens) aufzwingen lassen.
Schmunzeln muss ich über Pohls Verdikt (S. 190) "Wer die Sprache eines Gastlandes nicht lernt, hat keine Berechtigung in Deutschland oder anderen Ländern zu bleiben, zu leben, zu arbeiten usw.": wenn ich nämlich an die Verbindung Pohls zur Deutschen Bank und die dort -wie auch in anderen großen 'deutschen' Firmen- teilweise im Vorstand sitzenden Anglophoniker denke, deren Sprache auf Vorstandssitzungen die Geschäftssprache ist und die sich ganz bestimmt nicht der Mühe unterziehen (und auch gar keine Veranlassung haben), unseres schwäres Sprach (ch..., ch..., ch..., - bei solchen Barbarenlauten wird ja der ganze Rachen rau!) zu learnen. Trotzdem gebe ich ihm aber Recht, dass wir in der breiten Immigranten Masse die Beherrschung und Verwendung der deutschen Sprache voraussetzen sollten und durchsetzen dürfen.
Auch seine Forderung nach einer Aufnahme ökonomischer Zusammenhänge in den Lehrplan (noch S. 190) ist berechtigt; allerdings sollte man nicht allzu optimistisch sein, was das auf diese Weise zu erzielende Verständnis der breiten Massen angeht. Auch eine Differenzierung nach Begabungen und eine verstärkte Förderung der Hochbegabten (S. 190/191) liegt in unser aller Interesse, wobei natürlich sichergestellt werden muss, dass schichtspezifische Behinderungen möglichst ausgeglichen werden und nicht ein Selektionssystem etabliert wird, in dem sich ein institutioneller "bias" zu Gunsten der Oberklassen versteckt, sondern tatsächlich eine objektive Auswahl erfolgt.
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Genug der Pohl-Rezension, wenn es denn überhaupt eine war. Eher werden meine Leserinnen und Leser den Fluss meiner Worte wohl als endlose Causerien empfunden (oder gar weniger freundliche Bezeichnungen gefunden) haben, aber damit muss (und kann) ich leben.
Welche geistige Beute aber trage ich selbst heim? Insoweit habe ich eher ein Gefühl von "hier steh' ich nun, noch immer armer Tor, und bin nach der Lektüre so klug wie zuvor". Mir scheint, dass ich aus dem Buch selbst wenig Erkenntnisgewinn gezogen habe; immerhin war aber die Beschäftigung damit stimulierend.
Welche Art von Lesern will bzw. kann aber ansonsten ein Buch ansprechen, in dem historische Abläufe in mythischer Nebelhaftigkeit erscheinen, begriffliche oder sachliche Schärfe selten ist und vieles, was das Feuilleton zu bieten hat, zu einem Blümchen-Kaffee wieder aufgegossen wird? Nach Tonfall und intellektueller Durchdringung ist es als eine Art Volksbuch gedacht; 'das Volk' wird es jedoch nicht lesen. Für Gebildete (und selbst für Halbgebildete wie mich) ist es zu anspruchslos.
Das hat Altbundespräsident Roman Herzog doch sicher nicht gemeint, wenn er sagt "Die Zeit des 'Klein-Klein' ist vorbei": dass wir uns die peinlichen und kleinlichen Bemühungen um geistige und sprachliche Disziplin zukünftig ersparen und im Reiche des ungefähren Irgendwie lustwandeln dürften? In trüben Teichen treibt kein klares Wasser. Wenn wir klare Handlungsanweisungen gewinnen wollen, brauchen wir klare, extrem scharfe, Vorstellungen zunächst von der Vergangenheit, dann von der Gegenwart und schließlich - von der Zukunft?
Nein, das zu sagen, wäre eine gedankliche Schlamperei meinerseits. Ein klares Bild von "'der Zukunft' können wir uns unmöglich machen. Was wir jedoch zukunftsbezogen tun können, ist die Entwicklung klarer modellhafter Annahmen, von 'Wenn-Dann-Denkmodellen': Wenn uns z. B.die Rohstoffe ausgehen, und wenn wir bis dahin nicht ganz gewaltige Innovationssprünge gemacht haben, dann sitzen wir ganz tief in der Tinte. Und dann werden die Menschen, die jetzt so unmenschlich gut und lieb und zivilisiert sind, wieder mal richtig 'menschlich' (im biologischen, nicht im ethischen Sinne) werden. Dann müssen wir uns z. B. entscheiden, ob wir weiterhin die Leier unserer Schönwetter-Ethik spielen wollen, oder uns mit bösem Bum-Bum verteidigen - oder gar (wieder) von anderen gewaltsam holen, was wir brauchen?
[Nachtrag 30.05.08: In den USA werden schon jetzt Bronzeskulpturen geklaut - wegen ihres Kupfergehalts! S. Handelsblatt vom 28.05.08 "Rohstoffdiebstahl. Versilberte Bronze".]
Andere mögen andere Szenarien entwickeln, aber nachvollziehbar begründet und so detailliert wie möglich konstruiert sollten sie schon sein. Welche konkrete Situation wann eintreten wird, können wir nicht wissen. Was wir aber versuchen können ist die gedankliche Konstruktion möglicher Zukünfte: durch Extrapolation bestehender Trends, oder unter der Annahme dramatischer Trendbrüche.
In jedem Falle sollten wir die Voraussetzungen unserer Modelle ebenso transparent machen wie die Modelle selbst.
[Randbemerkung: Versuche, die Zukunft der Menschheit in relativ konkreten Szenarien zu erfassen und deren mögliche Weiterentwicklung zu durchdenken, hat neben anderen auch die sogenannte "Global scenario group" unternommen. In der Selbstbeschreibung heißt es u. a.: "A scenario is a story, told in words and numbers, concerning the manner in which events might unfold. It must be constructed with detail, rigor, and imagination." (Hervorhebung von mir) Während diese Gruppe noch von -drei- Szenarien ausgegangen war, die keineswegs alle optimistisch waren ("Conventional Worlds", "Barbarization" und "Great Transitions"), scheint die Nachfolgeorganisation "Great Transition Initiative" eher einen sonnigen Optimismus zu kultivieren.]
Pohl bietet an Stelle von Organisationsmodellen, die auf konkret durchkonstruierte Szenarien abgestellt sind, Begriffe unter denen ich mir entweder nichts vorstellen kann, oder die mir keinen Erkenntnisgewinn bringen. Was soll ich mit dem immer wieder eingehämmerten Begriff "Neuronaler Multiplikator-Effekt (NME)" anfangen? Welche Hypothesen kann ich mit diesem Begriff aufstellen, verzifizieren oder falsifizieren, die ich sonst nicht adäquat bearbeiten könnte?
Dass sich das Wissen der Menschheit exponential vermehrt, weiß jeder; ebenso ist allgemein bekannt, dass zahlreiche Forscher versuchen, die Funktionsweise des Gehirns und der Gene zu entschlüsseln. Die spannende Frage ist, ob wir sie überhaupt unbegrenzt forschen lassen. Oder ob am Ende unser christlicher Rest-Fundamentalismus Forschungsverbote, die er schon aufgestellt hat (Embryonenforschung) nicht doch auf Dauer durchsetzen oder gar erweitern kann.
Dann wird es kritisch: werden 'die anderen' uns schon deshalb überholen, weil sie solche Skrupel nicht kennen?
Aber mit einer Kritik an den forschungsunterdrückenden Aspekten unserer herrschenden Ethik kann man sich die Finger verbrennen. Wer im Establishment gut positioniert und verdrahtet ist und bleiben will, verwolke besser seinen Diskurs in Luftschlössern von Typ NME oder GME "Genetischer Multiplikator-Effekt": verbales Dosenfutter für jene Gassen-Gaffer, die mit staunend aufgerissenen Mündern vor Wortkulissen wie "CR (Corporate Responsibility = Unternehmensverantwortung)", "CC (Corporate Culture = Unternehmenskultur)" und "CSR (Corporate Social Resposibility = Gesellschaftspolitische Verantwortung der Unternehmer)" verharren. (Nicht, dass ich diesen auf S. 65 auftauchenden Begriffen einen Realitätsgehalt absprechen würde. Nur sehe ich nicht, was Pohl hier konkret einfordert, und ebenso wenig, in welcher Relation er sich die hinter diesen Begriffen stehenden Realien zur Kapitelüberschrift -S. 64- "Die Globalökonomie - ein neuronaler Verschaltungsprozess" denkt. Was sollen die Unternehmen wie wo schalten?
Wer weiterhin dunglich warm in der deutschen Konsens-K.cke leben will, sage besser nichts Genaues über gar nichts!
Selbst ein Peter Sloterdijk, der in seiner Elmauer Rede ("Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus") versucht hatte, unsere Lebens-Geheimnis-Bewahrungs-Fetischismen kritisch zu hinterfragen, hat ja schließlich den Schwanz eingezogen: 'War ja alles gar nicht so gemeint'.
Mehr dazu kann wer mag in meinem Blog-Eintrag "EINE PHILIPPIKA GEGEN DEN NIEDERGANG DER DEUTSCHEN PHILOSOPHIE ALS DOKUMENT DES NIEDERGANGS DER DEUTSCHEN PHILOSOPHIE" lesen.
Mutatis mutandis hätte ich übrigens auch die vorliegende Buchbesprechung mit "EINE PHILIPPIKA GEGEN DEN NIEDERGANG DES WEISSEN MANNES ALS DOKUMENT DES NIEDERGANGS DES WEISSEN MANNES" überschreiben können. Zumindest dokumentiert es einen Niedergang deutschen Denkens.
Ob die Akzeleration der Informationsakkumulation von Dauer sein wird, können wir nicht wissen. Die Produktion von Wissenschaft hängt u. a. wahrscheinlich auch von der Zahl der Wissenschaftler ab. Wenn die Population stagniert oder sinkt, oder wenn es die Ressourcenverknappung unmöglich machen sollte, weiterhin im bisherigen Umfang Menschen vom Produktionsprozess freizustellen, wird sich die Wissensproduktion verlangsamen, möglicherweise sogar der Wissenshorizont der Menschheit wieder schrumpfen. Dann ist Schluss mit Multiplikator-Effekten. Dass diese Situation eintritt, fürchte ich.
Manchmal scheint solche Angst auch bei Pohl auf: im ersten Satz der Einleitung (S. 11 - s. o.), oder auf S. 181: "Die Rohstoffe werden schneller zu Ende gehen, als wir heute berechnen, zumal vor allem China und Indien, aber auch andere aufstrebende Staaten, den Ölverbrauch z. B. in den nächsten Jahren auf das Niveau von europäischen Ländern steigern werden. Die Versorgung mit Energie wird zu einem Verteilungskampf, in dem Corporate Governance oder Corporate Culture nicht gefragt sind." Genau so sehe ich das auch; aber wie man sich auf diese Situation vorbereiten muss, sollte oder kann, und ob wir uns darauf überhaupt vorbereiten können: darüber erfahren seine Leser nichts. Schnell, schnell schnell ändert sich die Welt, sagt er uns wieder und wieder. Aber das hat sich mittlerweile bis in die letzte Lehmhütte herumgesprochen.
Was könnte es konkret bedeuten, ohne "Corporate Governance" und "Corporate Culture" um die Rohstoffe zu kämpfen? Dass wir unsere Unternehmen nicht mehr dafür bestrafen, afrikanischen Diktatoren Bakschisch zu zahlen? Nein, so hat er das nun auch wieder nicht gemeint; so was tun allenfalls die bösen Chinesen:
"Die Aufkäufer von Rohstoffen aus China sind in allen rohstoffreichen Entwicklungsländern unterwegs und schließen Verträge ab. Ob die Partner Diktatoren sind und die Menschenrechte mit Füßen treten, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Dieses Verhalten verhindert Demokratie. Demokratie aber ist die einzige Basis für ein friedliches Zusammenleben" fährt Pohl im Anschluss an den vorher zitierten Text fort. Also müssen wir, bei allem Respekt vor anderen Kulturen, wohl doch unsere Demokratie weltweit durchsetzen, den Rest der Welt befrieden, ganz in der Kontinuität der antiken Pax Romana? Merkwürdig nur, dass er dann nicht spricht von einem 'Verteilungskampf, in dem Corporate Governance ... nicht gefragt sein werden, wenn es uns nicht gelingt, weltweit ...'. Nein: vergebens suchen wir hier einen Relativsatz bei ihm: sie sind nicht gefragt!
Was ich bei Pohl vermisse, ist nicht die Leidenschaft des Wollens, sondern der Wille zu leidenschaftlicher kritischer Reflexion. 'Kritisch' ist in meiner Terminologie kein Tarnbegriff für irgend eine Form von Neo-Marxismus. Vielmehr geht es um das Hinterfragen gesellschaftlicher Entwicklungen und Vorstellungen, nicht zuletzt aber auch des eigenen Standpunktes. Das funktioniert in der Regel am besten, indem man abstrakte Überlegungen konkretisiert. Dann nämlich stellt sich heraus, welchen Gehalt - und ob überhaupt einen - sie haben. Konkrete Modelle lassen sich im Gedankenexperiment testen, unscharfe Begriffe nicht. Wir können natürlich nicht an alles denken, aber zumindest können wir das, was schon vor uns gedacht wurde, auf unsere Modelle anzuwenden versuchen. Und wir können etwas Phantasie investieren um die Funktionsfähigkeit unserer Modelle dadurch zu testen, dass wir ihre Wirkungsweise einerseits gedanklich in veränderten Zusammenhängen untersuchen und uns andererseits ihre zeitlich und räumlich weiter gefassten Nebenwirkungen vorzustellen suchen. Wer vor diesen Arbeitsschritten in die Wattebäusche wolkiger Beliebigkeit retiriert, muss sich die Frage nach seinen (ggf. unbewussten) Gründen für ein solches Verhalten gefallen lassen. Zu einem Erfolg unserer Kultur wird er jedenfalls schwerlich beitragen können.
Leidenschaftliches Denken - mit oder ohne Verwendung von Modellen - schafft Leiden und/oder ist Leidensgeneriert. Es leidet am Bewusstsein seiner eigenen Unzulänglichkeit - und gibt dennoch nicht auf.
Diese Art von intellektueller Leidenschaft vermisse ich jedenfalls in diesem Buch von Pohl; seine anderen Arbeiten kenne ich nicht. Einen gewissen persönlichen Gewinn habe ich, wie oben schon angedeutet, trotz aller Irritationen über die unzulängliche Tiefe der Fahrrinne aus der Prahm-Fahrt durch Pohls 200 Seiten gezogen.
Zum einen und zuerst natürlich durch die erneute Reflexion meiner eigenen kulturphilosophischen Vorstellungen und entwicklungsgeschichtlichen Erwartungen.
Der andere große Gewinn war indirekter Art und lag in der Begegnung mit dem bereits eingangs gelobten Essay "Weißer Mann, was nun" von Matthias Politycki. Nicht, dass seine Botschaft im Kern neu für mich wäre. Auch ohne dass ich Polityckis Reiseerfahrungen habe, überrascht mich seine Darstellung menschlichen Verhaltens in Notsituationen kaum. Die Lektüre von Büchern Danilo Dolcis über Sizilien, der Reportage "Die zehn Todesqualen. Ein Bericht aus Sizilien" von Gavin Maxwell, oder von Norman Lewis' erschütternden Berichten über das Nachkriegs-Neapel in seinem Buch "Neapel 44. Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth" (Originaltitel: "Naples '44. An Intelligence Officer in the Italian Labyrinth") sind nicht spurlos an mir vorüber gegangen (vgl. dazu auch meine Webseite "Das Land der Sehnsucht mit der Lesebrille suchen"). Was dort nicht in gleicher Weise zu Tage tritt (vorhanden ist?) wie bei Politycki ist die Vitalität, die ein Leben selbst im Elend (oder gerade dort?) hat bzw. haben kann. Aber um das zu erkennen, braucht man lediglich Demonstrationen palästinensischer Jugendlicher im Fernsehen gesehen zu haben. Trotzdem: Politycki bestätigt meine Vermutungen aus eigenem Erleben. Gern würde ich hier einige Zeilen zitieren: aber was auswählen? Ich müsste den gesamten, sehr informationsdichten Artikel 'übernehmen', was mich indes mit dem Urheberrecht in Konflikt bringen würde. Also: anklicken und selber lesen!
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Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass ich meine recht scharfe Kritik an dem Buch "Das Ende des Weißen Mannes. Eine Handlungsaufforderung" von Prof. Dr. Manfred Pohl nicht ohne gewisse Skrupel äußere. Der Autor war nämlich so freundlich, mir auf meine Bitte hin ein Rezensionsexemplar zu übersenden.
Andererseits: Wenn wir keine intellektuelle Schärfe (inhaltlicher, nicht persönlicher Natur) kultivieren, können wir den 'Weißen Mann', zumindest aber die deutsche, ggf. auch die europäische Kultur ohne Weiteres abschreiben.
Das ist einer der faszinierenden Aspekte an den USA: mit welcher sachlichen Leidenschaft dort Debatten ausgetragen werden (im Internet lässt sich das spannend verfolgen). Bei uns hat es so etwas wohl in der Weimarer Republik gegeben. In der damaligen Form können wir uns das zwar nicht zurück wünschen, aber deutlich mehr Leidenschaft (und Tiefe) kann nicht schaden.
Und deshalb halte ich es für nötig, Welterklärungen für Lieschen Müller, die hauptsächlich aus der Lieschen-Müller-Perspektive erfolgen und diese Sicht bestärken würden (aber zum Glück von diesem Personenkreis bestimmt nicht gelesen werden), meinen, wenn auch schwachen, mentalen Röntgenstrahlen auszusetzen.
Wir brauchen zu einen eine möglichst realitätsnahe Weltsicht, zum anderen ein leidenschaftliches Ringen um den richtigen Weg: zuerst mit uns selbst, unseren eigenen Wissens- und Verständnisdefiziten, sodann im gesellschaftlichen Diskurs mit jenen anderen Menschen, die sich publizierend in die Debatte einschalten.
[Nachtrag 14.06.07: Nun kann ich sogar eine akademische Autorität für meine Forderung nach einer neuen Streitkultur anführen: Heinrich August Winkler, Historiker, meint ebenfalls: "Der Westen braucht den Streit".]
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Weiterführend lasse ich hier, to whom it may concern, or to whoever feels concerned, oder einfach auch als Datenspeicher für meine eigene zukünftige Verwendung, unter dem Titel
"Mit dem Weltnetz auf der Jagd nach den Weltkulturen"
oder auch
"Capturing Culture on the Internet"
eine unsystematische Linksammlung zum behandelten Themenkreis folgen.
Als Ausgangspunkt dürfte die Wikipedia zweckmäßig, zumindest aber bequem sein. Allerdings stellt man schon dort fest, dass man eine Expedition in einen wahren Begriffsdschungel gewagt hat:
"Kultur", "Hochkultur" (bzw. hier der Begriff im historischen Sinne), "Zivilisation".
In (dem oder der?) "Wiktionary, dem freien Wörterbuch", findet sich eine ausführliche lexikalische Erörterung des Wortes "Kultur".
Direkt einschlägig ist "Kulturkritik", denn auch in diese Sparte ist, wenngleich die Thematik bei Pohl nicht zentral ist, auch sein Buch einzureihen.
Weitaus fruchtbarer ist allerdings ein Fischzug in der englischsprachigen Wikipedia. Nicht nur sind dort die Artikel zu "Culture", "High culture" und "Civilization" selbst länger, sondern auch die weiterführenden Links zahlreicher und vermutlich ergiebiger (ich selbst konnte aus Zeitmangel die Artikel - deutsch oder englisch - nicht lesen, allenfalls hier und da mal reinschauen, und auch die meisten Links habe ich nicht weiterverfolgt).
Auch das Stichwort "Culture war" gehört in unseren Themenkreis.
Norbert Elias' Buch "Über den Prozeß der Zivilisation" kenne ich nicht. Wenn der Inhalt in dem (per 25.3.07 verhältnismäßig kurzen) deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag korrekt dargestellt ist, dürfte es allerdings ein interessantes und wichtiges Werk sein.
Michael Tomasello: "Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition" Aus dem Englischen von Jürgen Schröder, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, behandelt zwar anscheinend mehr die Ursprünge von Kultur, liefert aber, wenn ich mir die Buchbesprechung von Christoph Demmerling, "Intentionale Wesen. FISCHE IM WASSER DER KULTUR. Michael Tomasellos Band »Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens«" ansehe, möglicher Weise auch Werkzeuge zum Verständnis des weiteren kulturellen und zivilisatorischen Entwicklungsprozesses.
Einen ersten Blick in die Vielfalt der Perspektiven ermöglicht diese (natürlich amerikanische) Webseite für Studenten.
Den Aufsatz "Reflections on the Politics of Culture" von Michael Parenti (hier seine Homepage) wird, wer Zeit hat, wahrscheinlich mit Gewinn lesen (auch bei Pohl geht es ja um Kulturpolitik, bzw. um die kulturpolitische Sicherung des Überlebens unserer Kultur).
Was ist, auf dem höchstmöglichen Abstraktionsniveau, Kultur? Kultur ist, auf dieser Ebene betrachtet, ein System. Daher wird man heutzutage kaum Substantielles über "Kultur" sagen können, wenn man nicht einiges über die Systemtheorie(n) weiß (engl.: "Systems theory"): wieder und wieder werde ich schmerzlich mit meinem scio nescio konfrontiert ;-).
Das hervorragende "Dictionary of the History of Ideas", von dem ich schon einiges gelesen (und vieles wieder vergessen) habe, war mir ein wenig aus den Augen geraten. Die Wikipedia hat mich wieder hingeführt, zum Stichwort "CULTURE AND CIVILIZATION IN MODERN TIMES", von dem man dann zu anderen damit im Zusammenhang stehenden Begriffen verzweigen kann.
Den Text "DEFINING CULTURE" setze ich gleichfalls mal auf meine Leseliste. Es handelt sich um eine Zitatensammlung, die Eric Margolis, Assistant Professor in the Division of Educational Leadership & Policy Studies in the College of Education at Arizona State University, für seine Studenten gesammelt hat und an der, dank Internet, auch wir partizipieren können.
Um Appetit zum Lesen zu machen bzw. um schon hier zum Nachdenken anzuregen gebe ich nachfolgend die Zwischentitel wieder:
Sociology
How do sociologists define culture?
What is the dominant or common culture?
What is a subculture?
What does culture of poverty mean?
What is cultural lag?
What is culture shock?
What is cultural a definition of the situation?
Anthropology
How do Anthropologists define culture?
What is traditional (or folk) culture?
What methods do they use to study culture?
What is material culture?
What is cultural diffusion?
Humanities
How do humanities scholars define culture?
What is American Culture?
I. American Culture is a melting pot:
II American culture is Pluralistic:
III American Culture is Multicultural:
What is the canon?
Cultural studies
What is "multiculturalism?"
Wäre schön, so etwas auch in deutscher Sprache, und mit zahlreichen Zitaten von Denkern aus dem deutschen Kulturkreis, verfügbar zu haben!
Einführende Texte bietet eine andere universitäre Webseite, von Dr. Dennis O'Neil, Behavioral Sciences Department, Palomar College, San Marcos, California "HUMAN CULTURE: An Introduction to the Characteristics of Culture and the Methods used by Anthropologists to Study It."
Ein gewisser Sam Vaknin hat Überlegungen zu einer Klassifikation verschiedener Kultur(kreis)typen angestellt: "The Classification of Cultures", die ich mir aber noch nicht angesehen habe. So weiß ich auch nicht, unter welchem Gesichspunkt er klassifiziert hat. Wenn ich vom Begriff (und der Vorstellung) von "Hochkulturen" in Sinne von Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee ausgehe, scheint es mir für weiter gehende Analysen auf jeden Fall geboten, das jetzt zunächst im 'Westen' und mehr und mehr von der ganzen Menschenheit erreichte Stadium einer 'technisch-wissenschaftlichen Kultur' davon abzugrenzen und sie als etwas qualitativ Neues zu begreifen (was Pohl wohl auch tut).
"Kritische Bemerkungen zum Kulturbegriff" verspricht Hakan Gürses uns von seinem Aufsatz "Der andere Schauspieler". Gürses ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien, Chefredakteur der in Wien/Innsbruck/Klagenfurt erscheinenden Zeitschrift STIMME von und für Minderheiten und seit 2006 Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung. Für den vorliegenden Zusammenhang sind seine Erörterungen, die sich auf den Kulturbegriff in der interkulturellen Philosophie (was immer das sein mag) beziehen, nicht so recht fruchtbar. Immerhin ist sein Diskurs noch nicht ganz so weit von jeglicher Lebenswirklichkeit abgehoben wie z. B. die Dissertation "Umkämpfte Bedeutungen. Natur im Zeitalter der Technoscience" von einer gewissen Jutta Weber, über die ich mich näher in meinem Blog-Eintrag "EINE NATUR GIBT ES NICHT. EINE UMWELT(PROBLEMATIK) AUCH NICHT" ausgelassen habe. Vielmehr stimulieren die residualen Realitätsbezüge zu (weiteren) eigenen Gedanken über den Kulturbegriff.
Ich halte nichts davon, "den Sinn" oder "die Bedeutung" aus einem Begriff heraus zu holen. Lieber lege ich selbst eine rein - in Übereinstimmung (ganz oder teilweise) mit dem oder auch im Gegensatz zum herrschenden Bedeutungsverständnis.
Denn wozu brauchen wir Begriffe, wenn nicht als Werkzeuge für den Erkenntnisgewinn?
Also müssen wir für den jeweiligen Kontext das passende Begriffswerkzeug finden oder herstellen oder uns zurechtbiegen. Vor allem dürfen wir auch nicht allzu ängstlich auf die Gefahren starren, die vermeintlich oder tatsächlich in den Begriffen lauern. Sicherlich haben wir keine Begriffshoheit, sondern müssen sehen, dass uns die anderen verstehen. Aber den Adressaten muss in einem anspruchsvollen Dialog auch zugemutet werden, dass sie die jeweils gemeinte Begriffsbedeutung aus dem Kontext erschließen, wenn wir diesen hinreichend eindeutig bestimmt haben.
Hämmer gibt es für die verschiedensten Zwecke in den unterschiedlichsten Ausführungen: Vorschlaghammer, Geologenhammer, Zimmermannshammer, Schusterhammer ... . Und Hämmer sind auch nicht ungefährlich: sie können einem auf den Fuß fallen, man kann Leute damit erschlagen usw.
Alles das ist kein Grund, Hämmer nur noch in Einheitsausführung zuzulassen, oder, was die Gefahren betrifft, sie vielleicht ganz zu verbieten.
Brrr ...., auch das ist noch ein ziemlich abstraktes Gerede. Was könnten wir mit dem Begriff "Kultur" anfangen wollen? Von "Differenz" spricht Gürses, und tatsächlich grenzt der Begriff ein, ab und auch aus.
Wir können ihn zur Verteidigung unserer vermeintlichen oder tatsächlichen Interessen nutzen. Wenn wir z. B. Fremde von den Fleischtöpfen unserer Sozialleistungen fern halten wollen, ist allerdings der Kulturbegriff denkbar ungeeignet. Denn dort wären uns kulturverwandte Osteuropäer nicht weniger unsympathisch als die unserer Kultur weitaus ferner stehenden Türken usw.
Anders, wenn wir z. B. ein Einwanderungskontingent für 100.000 Gastarbeiter vergeben wollten. Polen z. B. sind in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zahlreich ins Ruhrgebiet eingewandert und haben sich dort in relativ kurzer Zeit völlig integriert. Bei Türken usw. dürfte das erheblich länger dauern, und vielleicht würden sie sich überhaupt nicht in einer uns ausreichend erscheinenden Weise integrieren. Klar, dass ich in einem solchen Fall für die Vergabe des Kontingents an kulturnähere Völker plädieren würde. Wer das nicht mag, möge a) sich daran erinnern, dass sogar Firmenfusionen (gar nicht selten) an unterschiedlichen "Firmenkulturen" scheitern (bzw. nicht die erhofften Synergieeffekte generieren) und muss sich b) die Frage gefallen lassen, welche Art von Demokratieverständnis sie oder er hat (wobei ich von der wohl realistischen Annahme ausgehe, dass meine Option in dem o. a. Beispielmodell diejenige einer großen Mehrzahl der Bürger wäre).
Abgesehen von den eigenen Interessen geht es aber auch darum, unsere (hier meine ich nicht die spezifisch deutsche, sondern allgemein die westliche) Kultur "im Gleis" zu halten. Ich gehe durchaus von einer Ungleichwertigkeit der Kulturen aus. Der Westen hat den Durchbruch von der Hochkultur im klassischen Sinn zu einer neuen Form von Kultur, zur Techno-Zivilisation oder wie auch immer man das nennen will, gebracht. Das ist ein Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Zwar mögen alle Kulturen und Zivilisationen "gleich nah zu Gott" sein (andere Version des Ranke-Zitats: »Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott«); aber nicht jede ist auf der Komplexitätsleiter der Evolution gleich weit fortgeschritten.
Wir haben sowohl das Recht als auch - und zwar gegenüber der gesamten Menschheit! - die Pflicht, Tendenzen zu bekämpfen, die insoweit Stillstand oder gar Rückschritt bringen könnten. Es ist also nicht nur unmittelbare materielle Interessenverteidigung, wenn wir unsere Kultur gegen eine Aushöhlung sichern wollen, sondern solches Handeln steht (potentiell zumindest) in einer welthistorischen Dimension. In der Praxis stellen sich natürlich immer zahlreiche Fragen und Zweifel:
- Was an unserer Kultur ist wesentlich, um die wissenschaftlich-technische Weiterentwicklung der Menschheit [sofern sie nicht abrupt von den Umweltbedingungen abgebrochen wird] zu gewährleisten? Was ist entbehrlich, oder gar hinderlich?
- 'Bringen' wir es überhaupt noch, oder sind andere (Inder und/oder Ostasiaten) nicht mittlerweile oder in naher Zukunft besser? Sind sie vielleicht sogar kulturell für jetzige/künftige Entwicklungsstadien besser gerüstet (indem sie z. B. bestimmte ethische Skrupel, die uns wissenschaftliche Forschungs- oder gar Frageverbote auferlegen, nicht kennen)?
- Schädigen wir unsere Weiterentwicklung selbst, indem wir uns allzu sehr abschotten? Wie viel Offenheit ist nötig, ab wann wird Offenheit schädlich?
Gewissheiten wird es dabei ebenso wenig geben, wie bei der doch relativ simpel erscheinenden Frage, ob zwei "Firmenkulturen" (ggf. gar noch von Firmen aus dem gleichen Land) miteinander harmonieren werden.
Wir müssen unseren Weg gehen, aber ohne unser konsequentes Denken vom Starren auf vergangene Gespenster wie Holocaust-Rassismus oder kolonialistischen Untaten deflektieren zu lassen. Der Westen ist den Weg gegangen, den er offenbar gehen musste; die Ausbreitung jedenfalls unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation auf die ganze Welt war offenbar in unserer Kultur angelegt. Wir müssen uns bei niemandem dafür entschuldigen, dass wir diese evolutionäre Mission durchgeführt haben. Im übrigen könnte es sein (und so sehen es vielleicht viele amerikanische Intellektuelle), dass unsere Mission noch nicht abgeschlossen ist. Darüber habe ich mir allerdings noch keine fundierte Meinung gebildet und stelle es lediglich als Hypothese in den Raum.
Das Buch "Kulturgeschichte. Fragestellungen - Konzepte - Annäherungen." Herausgegeben von Christina Lutter / Margit Szöllösi-Janze / Heidemarie Uhl dürfte ebenfalls einschlägig sein, und das hier vermutlich besonders interessante 1. Kapitel "Kulturwissenschaften. Fragen und Theorien. Erste Annäherung" von Reinhard Sieder ist sogar online verfügbar - für die wo Zeit zur Lektüre haben (oder deren neuronale Verschaltungen für höhere Lesegeschwindigkeiten bzw. ein effizienteres Data Processing ausgelegt sind als meine/s).
Diese Multikulti-Debatte im "Perlentaucher" speichere ich (mir pro memoriam, Ihnen vielleicht zum Lesen?) hier ebenfalls ab.
Im Frankfurter Zeil-Antiquariat von Norbert Heinze fiel mir das Buch "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien" von Michael Giesecke in die Hände (in der 4. Auflage von 2006 im Suhrkamp-Verlag).
Giesecke erläutert dort im "Nachwort zur Taschenbuchausgabe 1998" (mehr habe ich noch nicht gelesen, allerdings wird es hier von Antonia Lichtenstein heftig -und anscheinend auch sachkundig- verrissen; hier u. a. Links zu weiteren Rezensionen) seinen Forschungsansatz. Unabhängig davon, ob er selbst in seinem Werk sein Ideal erreicht hat, erscheinen mir seine Ansätze auch für jegliches heutiges Denken über Kultur/Zivilisation fruchtbar.
[Vielleicht sollte ich den Begriff "KuZi" - engl. "CuCi" - einführen, um mit einem bequemen Kürzel darstellen zu können, wenn ich den Begriff "Kultur" umfassend i. S. von Hochkultur bzw. Zivilisation benutze, also über "Kultur" im Spenglerschen oder Toynbeschen Sinne rede. (Womit ich mich hier aber nicht auf Diskussionen über unser aktuelles kulturelles Reifestadium einlassen möchte.)]
Zitate:
"... Verlust der Zentralen Perspektive ..." (S. 950). "... habe ich mich am technischen Modell elektronischer Datenverarbeitung orientiert" (S. 950): Das ist exakt meine Vorstellung darüber, wie man "KuZi" (zu diesem Begriff s.o.) heute analysieren kann: mit Hilfe der Computermetaphorik (welche mir das funktionale Äquaivalent zu der von Oswald Spengler u. a. verwendeten und seinerzeit aktuellen Organismusmetaphorik zu sein scheint). "... wollte ich einer Psychologisierung sozialer Prozesse entgegenarbeiten" (S. 950): Falls sich diese Bemerkung z. B. gegen Versuche der Psychoanalytiker richtet, auch das Denken über Gesellschaft zu usurpieren, kann ich Giesecke nur beipflichten.
"Eine Kritik der Fernsehkultur und sozialwissenschaftliche Analysen de rEinführung von Computern sind notwendig, aber sie zielen zu kurz. Wirklich tiefgreifender sozialer Wandel lässt sich nur aus einer Makroperspektive begreifen." (S. 952)
"In der Tat steht hinter allem meine Voraussetzung einer strukturellen Homologie organischer, neuronaler und technischer Prozesse": Diese Vorstellungen erschenen mir als der reinste Spengler-Update; exakt so würde ich (wenn ich könnte) unsere KuZi analysieren.
"Um die Wahl eines Bezugssystems - psychische, soziale, biogene, technische usw. Informationssysteme - kommen wir nicht herum. Einen Standpunkt jenseits des Kosmos können wir nicht einnehmen. Als Ausweg bleibt m. E. nur, in einem geordneten Wechsel verschiedene Kommunikatins- und Informationsmodelle als Vergleichsmaßstab anzulegen." (S. 953/954): Genau! (Lugt hier auch Luhmann durch? Scheint so; überhaupt hatte ich schon immer den Eindruck, dass auch Luhmann nicht ganz unbeeinflusst geblieben ist von Oswald Spengler. Konnte allerdings im Netz keine Hinweise dafür finden - und jetzt können wir ihn darüber leider nicht mehr befragen.)
Dafür nehmen wir bei Giesecke zwei weitere Mahnungen mit, die jeder, der über Kultur spricht, permanent im Hinterkopf haben sollte: "... ambivalent belastbar" müsse der Leser sein, sagt Giesecke. Das setzt natürlich implizit voraus, dass der Autor seine Ausführungen ambivalent [oder vielleicht gar polyvalent?] anlegen sollte, weil "... die Welt multidimensional, polyzentrisch und ohne Hierarchie vernetzt ist ..." und "sich unser ganzes Denken und Wirtschaften von linearen, logischen und monokausalen Idealen wegbewegt".
[Über die Richtigkeit der Behauptung und/oder die zutreffende Reichweite einer solchen Aussage kann man wahrscheinlich streiten; als Denkansatz dürfte sie aber derzeit unverzichtbar sein. Aufpassen müssen wir gleichwohl, dass wir uns durch solche mitreissenden Reden nicht zu einer intellektuellen Form von Neuer-Markt-Hype verführen lassen. An der Logik z. B., dass man einem nackten Mann nicht in die Tasche fassen kann, ändert auch die Postmoderne nichts. Eher im Gegenteil erwecken die gut Gekleideten den Eindruck, dass sie den Kehricht aus den Taschen von uns Lumpenträgern gänzlich auf ihren Haufen fegen wollen.]
Deshalb (wg. Relativismus, nicht wg. Kehricht) sollte "man" [das meint offenbar Leser wie Autoren], fährt Giesecke fort, "in die kommunikative Welt mit ihren Spiegelungsprozessen überhaupt nur einsteigen, wenn man Freude an Ambivalenzen, Paradoxien und individueller und sozialer Selbstreflexion hat". [Hervorhebung von mir]
Wichtig auch sein Hinweis auf die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" und (nicht zuletzt im Kontext des Pohl-Buches über den Untergang des Weißen Mannes), seine Schlussbemerkung (Fettschrift von mir):
"Historisches Denken bzw. eine Form von Bildung, die permanent mit Erfahrungen kultureller Differenzen konfrontiert ist, vermag den Umgang mit den eigenen kulturellen Prägungen zu flexibilisieren. Wer die mentale Beweglichkeit, die durch die kulturwissenschaftliche Gymnastik des Geistes gefördert wird, nicht hat, wird es in den mobilisierten und globalisierten Gesellschaften der Moderne zunehmend schwer haben."
Na gut, außer dem Nachwort habe ich auch noch die Vorworte gelesen. Das "Vorwort zur Neuauflage 2006" spricht von einer "Einführung des Buchdrucks in Japan und seinem Scheitern in der Konkurrenz mit alternativen graphischen Kommunikationsmedien". Davon war mir bisher nichts bekannt (und ohne das Buch selbst zu lesen, werde ich wohl auch nichts Genaueres erfahren). Völlig überraschend ist es für mich aber nicht, dass die Japaner der frühen Neuzeit zwar Kontakt mit der westlichen Technologie hatten und diese auch vorzüglich kopieren und sogar verbessern konnten, sie aber trotzdem letztlich nicht in größerem Umfang einsetzten und natürlich auch nicht weiter entwickelten. Leser von Jared Diamonds Vortrag "HOW TO GET RICH" (gehalten am 06.07.1999 vor dem Reality Club (für die Club-Beschreibung nach unten scrollen!) haben (und Noch-nicht-Leser können) in diesem Textteil erfahren, dass Japan auch in der Waffentechnik schon früh Beachtliches erreicht hatte und dennoch diese Technologie später (aus Gründen, die Diamond in der aristokratischen Gesellschaftsstruktur und deren Kampfformen sieht) wieder aufgegeben haben:
"To understand these losses in extreme isolation, the easiest case to understand is Japan, because the loss of firearms in Japan was witnessed and described. It took place in a literate society. Guns arrived in Japan around 1543 with two Portuguese adventurers who stepped ashore, pulled out a gun, and shot a duck on the wings. A Japanese nobleman happened to be there, was very impressed, bought these two guns for $10,000, and had his sword-maker imitate them. Within a decade, Japan had more guns per capita than any other country in the world, and by the year 1600 Japan had the best guns of any country in the world. And then, over the course of the next century, Japan gradually abandoned guns."
Diamond erzählt uns das nicht wegen des spezifischen Japan-Bezuges, sondern als Warnung davor, dass eine Gesellschaft technische Errungenschaften (und das zugehörige Wissen) unter bestimmten Umständen auch wieder verlieren kann. (Ähnliches behauptet er von Tasmanien, aber die primitive Kultur ist von unserem Kulturstadium zu weit entfernt, um daraus sinnvolle Analogien abzuleiten; außerdem scheint der Sachverhalt auch nicht unstreitig zu sein.)
Die Wiedergabe dieser beiden Informationen von Giesecke und Diamond über den Technologieverlust im feudalen Japan hat bei mir aber auch, und sogar vorrangig, eine ganz andere Funktion: ich möchte damit vor Forschungsverboten warnen, die von der Politik oder selbst von irgend welchen "Ethikräten" verhängt, beschlossen oder gebilligt werden. (Insoweit ist übrigens auch die von Pohl geforderte Förderung der Religiosität nicht unproblematisch, weil sie durchaus zu einer massiven Behinderung der -biologischen- Forschungen führen könnte, wobei der "Kreationismus" nur ein besonders extremes Beispiel ist. Die Behinderung muss auch nicht unbedingt bzw. ausschließlich durch Gesetze gewissermaßen 'von außen' kommen. Ebenso kann sie z. B. durch mangelndes Interesse oder soziale Ächtung 'unerwünschter' Forschungsrichtungen quasi 'von innen' wirksam werden.)
Im Vorwort von 1989 outet sich Giesecke sogar als Patriot (was Pohl ebenfalls ist und wozu auch ich mich bekenne); das ist noch heute keineswegs selbstverständlich und dürfte damals bei einigen für hochgezogene Augenbrauen gesorgt haben.
In gewisser Weise ähnlich wie Oswald Spengler, welcher sich einerseits der innovativen Kraft seines Buches bewusst war und andererseits die Hoffnung äußerte, dass sein "Untergang des Abendlandes" nicht ganz unwürdig neben den Waffentaten der deutschen Soldaten stehen möge (der 1. Band war 1917 fertig gestellt und Spengler glaubte damals noch zuversichtlich an einen deutschen Sieg), schreibt Giesecke:
"Hie wöll ich ein klein feuerle anzünden" (ein Zitat aus dem Vorwort Albrecht Dürers zu einem seiner -gleichfalls innovativen- Bücher). Und Giesecke fährt fort und schließt sein Vorwort ab mit dem Satz:
"Dieser Sinngebung schließe ich mich ebenso gerne an wie einer anderen, die vielen Autoren jener Zeit ganz geläufig war: 'Zum Nutzen des teutschen Vaterlands' oder der 'teutschen Nation' heißt es in zahlreichen Druckvorreden des 16. Jahrhunderts, mögen die Erzeugnisse der Druckkunst dienen."
Nicht erst seit gestern bin ich allerdings der Meinung, dass wir Deutschen nur dann und in der Weise in der heutigen Welt eine größere Rolle spielen können, wenn wir uns als Teil Europas verstehen und bewusst als solcher agieren. Um den inneren Kreis des nationalen Patriotismus müssen wir den weiteren Kreis eines europäischen Patriotismus legen (und wesentliche Inhalte des ersten auf den zweiten Kreis übertragen), und das nicht nur im Bewusstsein, sondern in unseren politischen Aktivitäten (vgl. auch den Handelsblatt-Aufsatz "Patrioten für Europa" von Lydia Moland). Wir sollten zu einer nicht nur wirtschaftlichen und monetären, sondern vor allem auch politischen (und militärpolitischen) Vereinigung Europas oder wenigstens eines Kern-Europa beitragen und gemeinsam mit den weitsichtig denkenden Politikern und Bürgern der anderen Länder beharrlich und intensiv auf ein solches Ziel hinarbeiten.
Seit dem Erscheinen der "Prophetenkarikaturen" in einer dänischen Tageszeitung Anfang 2006 (vgl. dazu meine Blog-Einträge "BÄRENGALLE; PROPHETEN; PROFESSORENPOSSE" und "Propheten-Karikaturen und Palästinenserfrage" sowie "PARALIPOMENA ZU DEN PROPHETEN-KARIKATUREN") und durch die Reaktionen auf die Karikaturen ist mir bewusst geworden, dass wir auch einen über Europa hinaus gehenden "Kulturkreispatriotismus" pflegen sollten. (Der Blick in meinen entsprechenden Blog-Eintrag erinnert mich zugleich an den Essay "Zivilisationspatriotismus. Moderne Zivilisation versus Exklusivität der Kulturen?" von Gerd Held, über den ich schrieb: "Der Aufsatz von Held ist definitiv sehr interessant. Held trennt quasi die Zivilisation von der Kultur ab und meint im Kern, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen auf dem gemeinsamen Boden der modernen Zivilisation zusammenleben können müssten. Sollte man meinen; nur scheinen nicht alle Kulturen einen gleich fruchtbaren Nährboden für die Zivilisation abzugeben. Während die Ostasiaten - nach einer Periode der Verweigerung in Japan und der Irrungen und Wirrungen in China sich anschicken, den Westen ein- oder gar zu überholen, fällt das den islamischen Staaten anscheinend schwerer. Trotzdem: zur Lektüre dringend empfohlen!".)
[Wie ungemein identitätsfördernd so ein Karikaturenstreit wirken kann, erkenne ich bei mir selbst daran, dass ich seinerzeit -7- Blog-Einträge -und meist keine kurzen- zu diesem Thema zu Stande gebracht hatte; außer den 4 oben erwähnten noch: "MEINUNGSFREIHEIT IST KÄSE .....", "Ob die Cartoonade von Aarhus ....." und "Grass redet Blech".]
Vom Höckschen zum Stöckschen oder vom Michael Giesecke zufällig zum Thomas Anz (der Giesecke sehr positiv wertet): Dessen Forschungs- und Literaturüberblick u. d. T. "Literatur- und Kulturwissenschaften. Einführende Skizzen und Literaturhinweise" auf der Webseite www.literaturkritik.de bietet einen anregenden Überblick über das (wissenschaftliche) 'Denken über Kultur' aus der
Perspektive der Literatur-Geschichts-Wissenschaft.
Von Anz (der hier einen Dritten zusstimmend zitiert) nehmen wir die Erkenntnis mit, "dass Kulturen nicht einheitlich strukturierte und in sich geschlossene, sondern heterogene, in sich widersprüchliche Gebilde mit sehr differenten Deutungsperspektiven sind." Die Konsequenz daraus könnte die Anlage einer bi- oder multipolaren Kulturentypologie sein, denn wenn auch alle Kulturen das in sich bergen, was sich für uns als Widersprüchlichkeiten darstellt, lassen sie vermutlich nicht alle die gleichen (und/oder das gleiche Maß an) Widersprüchlichkeit zu. Da unsere Kultur die Menschheit nun einmal in einem großen evolutionären Sprung nach vorn gebracht hat [zu größerer Komplexität, nicht unbedingt zum summum bonum], hat sie anscheinend die meisten (oder die 'richtigen') Widersprüchlichkeiten in sich ertragen, ausgetragen und fruchtbar gemacht. Ganz abstrakt könnte man dann auf der Linie Spenglers spekulieren, dass eine Kultur dann "tot" ist und im Stadium der "Zivilisation" erstarrt, wenn sie das Potential ihrer Widersprüche erschöpft hat.
Anz reicht mich wiederum zu Linda Simonis weiter, zu deren Buch "Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jacob Burckhardt, Georg Lukács, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin", Tübingen: Niemeyer 1998 [Diss. Köln 1995] ich leider keine weiteren Rezensionen (nicht einmal bei Amazon) finde. Jedenfalls dürfte eine Lektüre die Chance bieten, das eigene Denken über KuZis auch bewusst (unbewusst steht es dort ja ohnehin) in den Kontext des Vor-Gedachten einzuordnen und so die eigene geistesgeschichtliche Position zu reflektieren.
Dringlich ans Herz gelegt sei meinen Lesern auch ein Artikel von Steven Dutch, Natural and Applied Sciences, University of Wisconsin - Green Bay, welchen ich selbst zwar noch nicht durchgelesen habe und der auf den ersten Blick etwas randständig zum Thema erscheinen mag: "Why is there Anti-Intellectualism?" Zutreffend erscheint mir seine kulturvergleichende Aussage:
"Our own culture supports systematic and disciplined inquiry better than just about any other in history, but even so there is a great deal of hostility toward it by people who feel their values threatened, see it as a waste of time that could be better devoted to more immediate goals, or resent the status and power it carries." [Einen solchen Satz kann man gar nicht fett genug abdrucken!] Aber auch aus anderen Gründen mag die Lektüre manchen Lesern nützlich sein.
Wenn wer was für die geistige Entwicklung speziell in Deutschland tun will, möge sie oder er sich einmal anschauen, was der Amerikaner John Brockmann bereits im Jahre 1991 über die Rolle der von ihm (in Anspielung an das berühmte Buch "The Two Cultures" von Charles Percy Snow) so genannten "Third Culture" im (salopp gesagt:) gesellschaftlichen Diskurs in den USA geschrieben hat. Amerika bringt's, Deutschland brummt: aber es brummt nicht bei uns. Schade.
Umfangreiche Informationen und Links über den Islamismus, allgemein und speziell in Deutschland, bringt die Webseite von Thomas Tartsch, der im übrigen auch ein Buch über Oswald Spengler verfasst hat: "Denn der Mensch ist ein Raubtier. Eine Einführung in die politischen Schriften und Theorien von Oswald Spengler", geschrieben). Auf der Seite "Dissertation" bestimmt er seine geistige und politische Position in Abgrenzung zu Extremisten.
Martin Blumentritt ist erkennbar ein Anhänger der marxistischen These vom kulturellen Überbau, der mehr oder weniger nur so ein Drumherum der ökonomischen Verhältnisse sei - Kultur quasi als Petersilie auf der ökonomisch-sozialen Suppe. Bereits der Titel seines Essay "Fremde und Allzufremde. Prozesse der Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte" lässt seine Tendenz erkennen, ethnische Konflikte auf wirtschaftliche Probleme (konkret für Deutschland hauptsächlich: Arbeitslosigkeit) zu reduzieren. "Die Dramatisierung der Fremdheit wirkt latent inferiorisierend, stellt die Situation als kulturell unerträglich dar, wo es schlicht darum ginge, Arbeitsplätze zu beschaffen [klar: Kinderspiel!] und die Wohnsituation zu verbessern" meint er: Tja, also ich weiß ja auch nicht, wieso wir unseren Gästen nicht jeweils ein kleines Häuschen im Grünen geben? Das ist eigentlich das Mindeste, was die von uns erwarten können: dass wir auf diese Weise unseren Respekt vor der Farbe des Islam bekennen.
Freilich, das Motto 'Erst kommt das Fressen, dann die Kultur' scheinen zumindest die Selbstmord-Terroristen noch nicht begriffen zu haben (die übrigens eher nicht aus dem arbeitslosen unbehausten 'Lumpenproletariat' stammen!).
Und ob die Palästinenser Ruhe geben würden, wenn Israel (oder Amerika) denen Arbeit und schöne Bugalows spendieren würde, wage ich durchaus zu bezweifeln. Schließlich besetzen ja auch die jüdischen Siedler das Westjordanland nicht deshalb, weil das Leben dort so gemütlich wäre.
In der relativ friedlichen Situation in Deutschland kann man den Leuten (oder zumindest einigen Intellektuellen) die Behauptung verkaufen, dass die Fremden als solche im Wesentlichen ein gesellschaftliches Konstrukt von Politikern, Lehrern und Sozialarbeitern sind; die Härte des Konfliktes an echten inter-nationalen "Bruchstellen" lässt sich jedoch mit diesem Ansatz nicht verstehen.
Und wenn Blumentritt von einer "Konstruktion des 'Volkes' " spricht, sollte er besser nicht z. B. den Tschechen erzählen, dass ihre ethnische Identität von Václav Hanka vermittels seiner Anfertigung der (angeblichen) "Königinhofer Handschrift" erfunden wurde. Er könnte sonst leicht zu einem verspäteten Opfer des Prager Aufstandes (von 1945) werden.
Trotz aller Kritik sollte man auch seine mehr oder weniger marxistische Position kennen, zumal er auch einige interessante Informationen bietet. Blumentritt lehnt im übrigen den Multikulturalismus ebenso ab wie z. B. Hakan Gürses (s. o.); beide mit der Begründung, dass er dichotomisierend wirke.
Dem würde ich spontan zustimmen; andererseits sehen wir aber z. B. in den USA Tendenzen, etwa im Erziehungswesen die verschiedenen ethnischen Traditionen wieder mehr zu betonen.
Ich möchte nicht ausschließen, dass ein Gemeinwesen aus Spannungen sozialer, aber auch ethnischer Art, sogar Nutzen ziehen kann, wenn dabei gewisse Grenzen nicht überschritten werden und/oder wenn diese Spannungen in einer einigermaßen friedlichen Konkurrenz ausgelebt werden. Allzu viel Gleichförmigkeit ist vermutlich eher kreativitätshemmend. Darüber habe ich noch nicht intensiver nachgedacht / nachgelesen; ich stelle es hier lediglich "pro memoriam" in den Raum.
[Zur Integration der Türken in Deutschland gibt es hier eine Studie der türkischen Botschaft von 2002; da ich sie nicht gelesen habe, kann ich ihren Wert nicht beurteilen.]
Eine auf den ersten Blick ansprechende, allerdings auf den zweiten Blick auch verwirrende, Webseite betreibt ein gewisser Hubert Brune. Er bietet umfangreiche Informationen über die Themenbereiche Mensch - Natur - Geschichte und geht in seinem Denken über die Menschheitsentwicklung offenbar sehr stark von Oswald Spenglers Gedanken aus. Weniger erfreulich ist, dass sich die verschiedenen Seiten (z. B. über Spengler) nicht individuell verlinken lassen (alles ist "Index"), dass der Autor sich nicht vorstellt und keinen Überblick über Sinn und Zweck seiner Webseite gibt und dass viele Links nicht zu dem unterlegten Begriff, sondern einfach zur Start- bzw. Suchseite führen. Wer viel Zeit hat, mag sich da stundenlang rumtreiben; ich habe es binnen kurzem aufgegeben und kann mir deshalb auch kein Urteil über die inhaltliche Qualität und über seine Zielrichtung (nach den Links zu urteilen offenbar grundsätzlich konservativ) erlauben.
Die frei zugänglichen Publikationen des "Council for Research in Values and Philosophy" könnten eine reichhaltige Fundgrube für Informationen über Kultur(en) sein - für diejenigen, welche mehr Zeit haben und schneller lesen (und verstehen und mehr behalten) können als ich.
Eine überzeugende Kritik der (traditionellen) Kulturkritik formuliert Hubertus Busche in seiner Antrittsvorlesung "Georg Simmels 'Tragödie der Kultur' - 90 Jahre danach" in der Fern-Universität Hagen. Von spezifischem Interesse für den vorliegenden Zusammenhang war aber der folgende Absatz über die Entwicklung des Kulturbegriffs in der abendländischen Gesellschaft:
"Eine wirklich neue, dritte Grundbedeutung von Kultur lässt sich jedoch erst seit Johann Gottfried Herder konstatieren. Er ist es, der die Referenz des Kulturbegriffs von der Tätigkeit und dem Zustand von Individuen verlagert auf den Geist und das Leben von Völkern und Epochen. Diese Kultur, in der man lebt, steht für den charakteristischen Traditionszusammenhang von Institutionen, Lebens- und Geistesformen, durch den sich ganze Zeiten und Zonen als individuell voneinander unterscheiden. ›Kultur‹ bezeichnet nun den historisch gewachsenen und damit transbiotischen Kosmos innerer und äußerer Formen, in dem Gesellschaften wohnen wie in einer zweiten Natur oder Haut. (Vgl. Theodor Genthe: Der Kulturbegriff bei Herder, Phil. Diss. Jena 1902; IrmgardTaylor: Kultur, Aufklärung, Bildung, Humanität und verwandte Begriffe bei Herder, Gießen 1938; Bernhard Kopp: Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes ‚Kultur’, Meisenheim a. G. 1974.) Erst seit Herder kann man deshalb z. B. von der ›altägyptischen Kultur‹ reden oder spezieller von der ›höfischen Kultur des Barock‹ usw. Und es ist dieser moderne, entgrenzte, historisierte Kulturbegriff, der von der Ethnologie bis zur Kulturanthropologie zugrunde gelegt und höchst unterschiedlich definiert wird. (Vgl. A. L. Kroeber/Clyde Cluckhohn: Culture. A critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge Mass. 1952, New York 1967.)" [Hervorhebungen von mir] Somit gehört Herder sehr direkt in die Ahnenreihe von Oswald Spengler; das war für mich neu.
Wahrscheinlich kann für den Themenzusammenhang "Globalisierung" im Sinne eine weltpolitischen Entwicklungsrichtung auch ein Ausflug in die Welt (weniger: "des" als vielmehr:) um das Buch(es) "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri nicht schaden. In den zahlreichen und anscheinend großenteils ziemlich kritischen Buchbesprechungen (Links hier und da -jeweils auch zu zahlreichen deutschsprachigen Texten-, sowie dort zur englischsprachigen Debatte) dürfte sich vieles vom aktuellen intellektuellen Diskurs widerspiegeln.
[Man kann andererseits bezweifeln, ob der intellektuelle Diskurs die gesellschaftliche Entwicklung auch nur entfernt realistisch reflektiert. Diese wird bekanntlich nicht oder kaum durch die Analysen von Theoretikern auf der Meta-Ebene vorangetrieben, sondern ist -"wird" wäre mir ein allzu voluntaristisches Verb- von den nur quantitativ wirkenden Maßnahmen der -hauptsächlich ökonomischen und daneben auch der politischen- Praktiker aus den Reichen des 'Klein-Klein' beherrscht, welche vor unseren erstauten Augen dann gelegentlich in neue Qualitäten umschlagen.]
Nachtrag 06.06.2007:
Der Surf-Zufall trieb mir wieder einige Kultur-Konvoluten in die Reusen:
"Kultur. Theorien der Gegenwart" ist ein von Stephan Moebius und Dirk Quadflieg herausgegebener Sammelband, in welchem 48 (nur oder fast nur deutschsprachige) Autoren 44 bedeutende Kulturtheoretiker vorstellen (hier das Inhaltsverzeichnis; Rezensionen z. B. da und dort).
Martin L. Hofman, Tobias F. Korta und Sibylle Niekisch haben bei Suhrkamp den Sammelband "Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie" herausgegeben. Rezensionen findet man bequem auf der Webseite des Mitherausgebers Korta.
Und weil's so schön (oder so erfolgreich?) war, hat das Editorenteam noch einen Follow-up auf den Markt geworfen: "Culture Club II. Klassiker der Kulturtheorie". Für diesen Band finden wir wiederum bei Korta das Inhaltsverzeichnis, aber (noch?) keine Besprechungen.
Nachtrag 22.05.2007:
Unter dem Titel "Der neue Kampf um die Rohstoff-Reserven" hat Prof. Pohl im Magazin "Impulse" vom 14.11.06 seine Sicht der Rohstoffsituation (speziell für das Erdöl) detaillierter dargestellt. Seine Befürchtungen teile ich; seine Vorschläge (den aufstrebenden Wirtschaftsmächten westliche Technik für erneuerbare Energien zur Verfügung zu stellen) sind bedenkenswert; passieren wird aber natürlich nichts.
Nachtrag 08.06.2007
Wenn Pohl partout eine radikale Demokratie haben will, kann er sich Ratschläge dafür in dem von Reinhard Heil und Andreas Hetzel herausgegebenen Sammelband "Die unendliche Aufgabe – Perspektiven und Grenzen radikaler Demokratie" holen. (Hier das Inhaltsverzeichnis.)
Nach der Einleitung zu urteilen, handelt es sich um ein ziemlich kakophones Theorienragout. Auch ich weiß es zwar zu schätzen, wenn ein Sammelband einem breiten Meinungsspektrum Raum gibt; insofern will ich keinesfalls die Herausgeber, die quasi nur als treue Boten agieren, für die matte Konfusion einer geistig alternden Gesellschaft verantwortlich machen. Wenn ich freilich den Überblick über die verschiedenen Demokratietheorien durchlese gewinne ich den Eindruck, dass die diversen Denker mit pompösen Wortschrott die pompes funebres dieser Staatsform, wenn nicht gar unserer Zivilisation, zelebrieren.
Wohin wir auch blicken, lüllt uns ein müdes altes Europa ein. Ich liebe mein Land und unseren Kontinent; wenn ich aber wieder einmal in einem dieser eurosklerotischen Asphaltseen des Geistes versackt bin, frage ich mich nevertheless, ob ich nicht mein Hirn mit einer Emigration purgieren sollte.
Nachtrag 13.08.07:
Zum Thema "Nationale Identität" ist auch die Rezension des Buches “Who Are We? The Challenges to America’s National Identity” von Samuel P. Huntington lesenswert (das Buch selbst, wenn man dieser Besprechung Glauben schenken darf, wohl weniger). Unter dem Titel "Patriot Games. The new nativism of Samuel P. Huntington" (17.05.2004) behauptet und kritisiert der Verfasser Louis Menand, dass Huntington nationale Identität als Selbstzweck versteht und die Erhaltung des (vorherrschenden) Nationalcharakters in seiner bestehenden Form fordere.
Unabhängig von und vor jeglicher inhaltlichen Bewertung ist dabei bereits der Umstand als solcher von Interesse, dass es auch in den USA eine Debatte über die (richtige, gute, anzustrebende oder wünschenswerte) Identität der Nation und diesbezügliche Identitätsängste gibt.
Nachtrag 02.11.07:
Zum Thema "Identität" ein Hinweis auf folgende derzeit schon recht ergiebige Wikipedia-Einträge:
- "Identität"
- "Kulturelle Identität"
- "Theorie der sozialen Identität"
- "Identitätsbewusstsein" (der Text ist gegenwärtig mit gut -2- Druckseiten noch etwas knapp; z. B. das Kapitel mit der viel versprechenden Überschrift "Entstehung von Identitätsbewusstsein politischer Einheiten" wäre sicherlich ausbaufähig und -würdig.)
Vgl. im übrigen auch die Stichworte in der Kategorie "Soziale Gruppe".
Nachtrag 19.08.2007:
Für Fragen der Menschheitsentwicklung insgesamt ist (oder hält sich zumindest, vermutlich in Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft im weiteren Sinne, also inkl. Archäologie) die Anthropologie zuständig. Khaled HAKAMI ist Lektor für Anthropologie an der Universität Wien. Seine Homepage (an der Uni) enthält einige Kapitel, die zumindest als Ausgangspunkte für eigene Überlegungen und Weiterbildung zu Fragen der Zivilisation, der Menschheitsentwicklung, der Bildung von Staaten, Völkern usw., also ganz allgemein zur historischen Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit dienen können (wobei man sich aber, selbst wenn man Hakamis Standpunkt teilt oder nahe steht, immer bewusst bleiben sollte, dass seine(Forschungs)-Perspektive diejenige eines "cultural materialist" eines "kulturellen Materialisten" ist [vgl. dazu Wikipedia-Eintrag unter "cultural materialism"; derzeit leider kein Stichwort in der deutschsprachigen Version]:
- "Bibliography on Social Evolution (selected books and articles)",
- Für einen Einstieg besonders nützlich erschein mir das "Glossary on Social Evolution", auch wenn es derzeit noch "under construction" ist. Denn die "gesellschaftliche Entwicklung" ist es ja, um die es letztlich auch Pohl geht.
- Die "Quotes and Aphorisms (reflecting my understanding of science and the world)" bieten uns Sichtweisen an, die wir übernehmen oder mit denen wir uns eigenständig auseinandersetzen können; in jedem Falle macht diese Zitatensammlung mit(Forschungs- oder Lehr-)Meinungen berühmter Anthropologen usw. deutlich, dass es schon auf der Ebene der Prämissen und Forschungsmethoden unterschiedliche Denkansätze gibt.
- Wege in die Welt der Anthropologie, jedenfalls der Schule oder Denkrichtung der "modern materialists and evolutionists" bahnt uns der Abschnitt "Useful and Related Links".
Nachtrag 11.10.07:
Eine anregende Lektüre zum vorliegenden Themenkreis ist auch der (relativ kurze) Artikel "How China Got Religion" von Slavoj Zizek in der Online-Ausgabe der New York Times von heute.
Nachtrag 02.11.07:
Vieles, was im Zusammenhang mit einer Analyse der abendländischen oder westlichen Kultur (der Neuzeit), insbesondere mit ihrer politischen Leitidee einer liberal-demokratischen Bürgergesellschaft von Interesse ist, findet sich im Werk des US-amerikanischen Philosoph (man müsste ihn wohl als Kulturphilosoph oder Sozialphilosoph bezeichnen) Tom Bridges, seinerzeit Professor an der Montclair State University. Seine frühere Webseite www.civsoc.com ("civsoc" steht für sein Arbeitsgebiet "civil society") ist nicht mehr online; auf der Universitäts-Webseite ist er zwar in der Liste der Fakutltätsangehörigen noch aufgeführt, der Link zu seiner (Uni-)"Homepage" ist jedoch nicht mehr aktiv.
Zum Glück gibt es indes das großartige Internet-Archiv "Waybackmachine", das den Surfer (sofern er die alte URL kennt) weit zurück in die Vergangenheit trägt.
Professor Tom Bridges beschreibt in seinem "ESSAY 2: The Rhetorical Analysis of Civic Culture" [hier Teil 1] die bürgerlich-liberale Kultur als Produkt einer Ideologie, die von Denkern wie Kant und Locke entwickelt wurde. Diese selbst hätten zwar [ebenso wie zweifellos Karl Marx] an die absolute Richtigkeit ihrer Überzeugungen geglaubt. Tatsächlich sei aber ihr Denken als Teil einer (unbewusst) interessengeleiteten rhetorischen Strategie zu verstehen. Nachdem heute der Ideologiecharakter des liberaldemokratischen Denkens erkannt sei, stünden wir vor dem "project of inventing a viable postmodern, post-Enlightenment civic culture" schreibt er im 2. Teil des Essays u. d. T. "Theoretical discourse as a rhetorical strategy". [Hervorhebung von mir; die Zuordnung der Essays ist etwas unklar, weil in der Waybackmachine das, was ich seinerzeit als 2. Teil der "Rhetorical Analysis ..." gespeichert hatte, unter dem Obertitel "ESSAY 2: The Anti-Rhetorical Rhetoric of Pure Theory" erscheint. Inhaltlich ist der Text -zumindest jedenfalls die zitierte Passage- jedoch identisch.]
Hier der erste Abschnitt ("Civic culture as a countervailing culture") aus dem Essay "Rhetorical Analysis of Civic Culture":
"In a liberal democracy, the state is committed to treat all citizens as free individuals and to treat all individuals as equals. For such a regime to be intelligible to the governed, the members of a liberal political community must, to some extent at least, come to see themselves and one another as free and equal individuals.
This means that they must see themselves and others as not entirely defined and encompassed by family, ethnic, or religious identifications. This means that they must be able, at least for certain purposes and on certain occasions, to put aside measures of human worth based on those family, ethnic, and religious identifications and adopt a very different ranking system, one based on their identification as citizens.
Needless to say, this is an extraordinary requirement. The earliest and strongest identifications formed by human beings are shaped by family life and by the broader ethnic, class, and religious community within which the family in turn gains its identification. These identifications are woven into the very fabric of human desire and only with great difficulty can distance from them be achieved. But, unless such distance can be achieved by significant numbers of persons, a liberal democracy cannot even be established, let alone flourish. Factions will destroy it.
Every liberal democracy, therefore, must generate some form of countervailing civic culture that has the power to create and sustain civic identities. Further, educational processes must be invented that will insure the effectiveness and reproduction of that civic culture." [Hervorhebungen von mir]
Im übrigen empfehle ich allen, die Zeit und einschlägiges Interesse haben, eine Lektüre von Bridges Aufsätzen, welche über seine in der Waybackmachine noch präsente Homepage weiterhin erreichbar sind.
Auf meine Mail-Anfrage an die Uni nach dem Schicksal von Mr. Bridges habe ich eine prompte Antwort erhalten:
"Tom passed away a number of years ago. He is missed by many".
Nachtrag 09.03.09
Vor einigen Tagen begegnete ich dem Betriff "Postdemokratie". Wenn ich mir die Definition in der Wikipedia anschaue komme ich zu dem Schluss, dass das Buch bzw. die Meinungen von Prof. Pohl wohl dieser Richtung zuzuordnen sind. (Der englischsprachige Wikipedia-Eintrag ist inhaltlich derzeit arg dünn, bringt aber mehr Links zu einschlägigen Texten.)
ceterum censeo
Die Steuertöpfe quellen über -
Doch für Verkehr und Bildung ist kein Geld mehr über?
Kein deutsches Geld für Eurozone:
Wir leben besser "Eurotz-ohne"!
Textstand
vom 13.01.2024
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