Freitag, 18. Juli 2008

Ich würde ja gern - aber ich darf nicht: bei den Sozis unterschreiben


Über das Portal "Energie-Fakten" (dieses ist, ich sag es lieber gleich, kernenergiefreundlich*) gelangte ich zur Webseite "europa-und-energie". Hier fordert eine kleine radikale Minderheit (bislang nur 25 Unterschriften seit November 2005) von SPD-Mitgliedern ihre Partei in Sachen Energiepolitik auf: "Realitäten annehmen ... ehrliche Fragen stellen!" 

Das wäre schön, wenn sich nicht nur die SPD, sondern auch die deutschen Bürger entschließen könnten, den Fakten ins Auge zu sehen! Denn bislang ist, wie ich in zwei Kommentaren zu einem Handelsblatt-Blog von Bernd Ziesemer formuliert habe, die Energiedebatte noch immer weitestgehend die Ballettbühne der Traumtänzer. 

Wenn ich schon nicht unterschreiben darf (da kein SPD-Mitglied), will ich doch wenigstens die energetische Rationalität verbreiten helfen und ausnahmsweise mal einen vollständigen Text einfach abkupfern: 
 "Präambel Das vorliegende Dokument ist ein Diskussionspapier, mit dem ein Beitrag zur Debatte über eine zukunftsfähige Energiepolitik in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands geleistet werden soll. Das Papier geht aus einem Kreis deutscher Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hervor, die sich in regelmäßigen Abständen in Brüssel getroffen haben, um offen, kontrovers und strategisch über Energiepolitik zu reden. Das Diskussionspapier ist nicht abschließend, sondern soll eine breitere und offenere Diskussion in der Partei initiieren, die wir für dringend erforderlich halten. Es sind daher auch nicht alle Unterzeichnerinnen und Unterzeichner mit jedem der einzelnen Punkte einverstanden. Insbesondere die Nutzung der Kernenergie ist auch in diesem Kreis umstritten. Aber wir halten jeden der einzelnen Punkte für diskussionsbedürftig. Realitäten annehmen ... Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die wir die folgende Erklärung unterzeichnet haben, beobachten in der Energiepolitik zunehmend, dass die Wirklichkeit unseren Vorstellungen davon läuft. Tatsachen werden nicht zur Kenntnis genommen, wenn sie nicht ins vorgefasste Konzept passen. Doch die Antwort „Umso schlimmer für die Wirklichkeit“ befriedigt uns nicht. Denn am Ende bezahlen wir dafür einen hohen Preis. Die fast tägliche Erfahrung mit dem Widerspruch von Sein und Sollen veranlasst uns, die wir als deutsche Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten seit Jahren vor allem die energiepolitischen Geschehnisse auf der europäischen Bühne verfolgen, zu einer kritischen Stellungnahme. Wir sind der Meinung, dass der Zeitpunkt für eine nüchterne Bestandsaufnahme gekommen ist. Energiepolitik als „Wille und Vorstellung“ hat sich spätestens seit der Öffnung der europäischen Energiemärkte für den Wettbewerb überlebt. Wir stehen vor geradezu gigantischen Herausforderungen in der Energiepolitik. 1. Der europäische Binnenmarkt für Energie wird Realität. Er verändert nachhaltig die Struktur der europäischen Energiewirtschaft. Versorgungssicherheit ist jetzt nicht mehr nur eine nationale, sondern zunehmend eine europäische, wenn nicht globale Aufgabe, die maßgeblich von den Regeln des Wettbewerbs bestimmt wird. Und dieser Wettbewerb findet über den Preis statt. Doch immer noch wird häufig so getan, als spielten Energiekosten keine Rolle. 2. Aus nationalen Monopolunternehmen wurden oder werden Wettbewerber von europäischem Zuschnitt. Doch europäische Unternehmenskulturen wachsen viel zu langsam. Auch sind dem Wettbewerb häufig noch straffe Zügel angelegt. Neue Unternehmen haben es am Markt schwer. 3. Den Beschäftigten in den europäischen Unternehmen bürdet dieser Wandel besondere Lasten auf. Die Arbeitswelten verändern sich rasch und soziale Errungenschaften geraten in Gefahr. 4. Der europäische Kraftwerkspark veraltet zunehmend und muss in den kommenden Jahrzehnten von Grund auf erneuert werden. Bis zum Jahre 2030 handelt es sich um ein Auftragsvolumen von 200 – 300 Mrd. Euro. Doch gibt es begründete Zweifel daran, dass wir über ausreichende Produktionskapazitäten und Fachkräfte verfügen. Wir riskieren, dass die Erneuerung des europäischen Kraftwerksparks ein gewaltiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für außereuropäische Firmen wird. 5. Wir erkennen an, dass der Klimawandel zum größten Teil von den Menschen verursacht wird, bleiben in Wirklichkeit aber hinter den selbst gesteckten klimapolitischen Zielen zurück. Wir bekennen uns zurecht zum CO-Emissionshandel, von dem wir uns eine Kostenminderung der klimapolitischen Maßnahmen versprechen, vergessen aber häufig, dass es letztlich technische und Verhaltensmaßnahmen sind, die zu einer geringeren Emission von Treibhausgasen führen. 6. Weltweit wächst die Nachfrage nach jeglicher Form von Energie. Bis 2030 wird ein Anstieg des globalen Energieverbrauchs um 60% vermutet. Bis 2050 soll sich der Energieverbrauch sogar verdoppeln, was angesichts des enormen Nachholbedarfs der Schwellen- und Entwicklungsländer keine Überraschung ist. Selbst in Europa dürfte der Verbrauch zunehmen, was in dem Maße auf eine zunehmende Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten hinausläuft wie sich die Vorräte in der Nordsee erschöpfen. Im Jahre 2030 wird die EU vermutlich 90% ihres Erdölverbrauchs und 80% ihres Erdgasverbrauchs durch Einfuhren decken müssen. Europa wird damit völlig von den volatilen Öl- und Gaspreisen auf dem Weltmarkt abhängig. Doch diese Risiken für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze werden unterschätzt. Werden sie dennoch gesehen, mangelt es an einer proaktiven Politik. 7. Wir beobachten keine globale „Verzichtsmoral“ beim Umgang mit Energie und Rohstoffen. Der unterschiedliche Pro-Kopf-Energieverbrauch in Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern ergibt sich einzig und allein aus der Kaufkraft. Wer mehr Geld hat, verbraucht in aller Regel mehr Energie. Auch haben reiche und große Länder leichteren Zugang zu den strategisch relevanten Energieressourcen. 8. Es bestehen Möglichkeiten, mit Energie und Rohstoffen intelligenter umzugehen, doch werden sie nur zögernd genutzt. Meist mangelt es an Bedingungen finanzieller Art, um Verbraucher zu veranlassen, in energiesparende Maßnahmen zu investieren. So verspielen wir die Möglichkeit, auf der Nachfrageseite mit bereits heute vorhandenen Technologien bis zu 30% des Energieverbrauchs ohne Einbuße an Lebensqualität zu sparen. 9. Energiepolitik ist Standortpolitik. Es bringt keinen Gewinn an Nachhaltigkeit, wenn wir energieintensive Unternehmen durch hohe Energiepreise außer Landes treiben. Auch müssen staatliche Aufpreise auf den Strompreis berücksichtigen, dass wir im europäischen Markt über den Preis im Wettbewerb stehen. 10. Viel zu lange war Energiepolitik von den Themen früherer Jahrzehnte beherrscht, so als ob wir die Freiheit hätten, zwischen den erneuerbaren Energiequellen und der Kernenergie wählen zu können. ... ehrliche Fragen stellen Weil die Energiepolitik den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wird, erscheinen uns Korrekturen unerlässlich. 11. Die nationale muss sich als Teil der europäischen Energiepolitik verstehen lernen. „Brüssel“ ist nicht das Problem, sondern die Antwort. Europäische Richtlinien müssen deshalb nicht nur umgesetzt werden, sie erfordern auch eine aktive Begleitung und Gestaltung von Anfang an. 12. Die Probleme erfordern strategische Lösungen, nicht Entscheidungen von „Fall zu Fall“. An neue Möglichkeiten müssen wir vorurteilslos, offen und mit Weitsicht herangehen. Die Energieforschung im engeren Sinne, aber vor allem die Grundlagenforschung verdient mehr Beachtung. Staat und Industrie müssen mehr Geld für die Forschung bereitstellen. Dabei darf es keine Tabus geben. 13. Um unsere ehrgeizigen klimapolitischen Ziele in Europa in den nächsten Jahrzehnten zu erreichen, müssen wir mit Energie intelligenter umgehen: CO-freie Kohlekraftwerke, sichere Kernenergie und erneuerbare Energien sowie Maßnahmen zum effizienteren Umgang mit Energie müssen gleichermaßen entwickelt werden. Nur so lassen sich Wettbewerb, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit optimal verbinden. Wer diese Zusammenhänge verneint, verkennt die ökologischen und ökonomischen Realitäten. 14. Der Anteil erneuerbarer Energien am deutschen und europäischen Energiemix muss vergrößert werden. Dabei ist uns bewusst, dass es nicht nur um Klimaschutz geht, sondern auch um die Entwicklung von Technologien, die langfristig eine größere Bedeutung bei der Bereitstellung von Energie spielen können. Umso wichtiger erscheint es uns, die erneuerbaren Energie schnellstmöglich zur Wettbewerbsreife zu bringen. Das gelingt am ehesten durch eine europäische Förderpolitik, die die nationalen Fördersysteme aufeinander abstimmt. 15. Vor dem Hintergrund eines global wachsenden Energieverbrauchs sollten alle Arten der Energiewandlung und –erzeugung ihre Berechtigung haben. Denn Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit stehen in einem engen Abhängigkeitsverhältnis von einander und sind deshalb gleichwertige Ziele in einer rivalisierenden Weltwirtschaft. 16. Europäische Politik ist kein Vorwand, um den Wettbewerb der EU-Mitgliedstaaten um bessere Lösungen zu behindern, solange dieser nicht dem Geist und dem Inhalt der EU-Verträge widerspricht. Doch darf uns diese Wettbewerbshaltung nicht davon abhalten, nach außen eine gemeinsame wirksame Klimaschutzpolitik zu entfalten. Gerade weil Europa nur 14% der globalen Treibhausgasemissionen zu verantworten hat, müssen wir erreichen, dass alle Staaten der Welt zu deren Begrenzung bereit sind. 17. Klimapolitik, Importabhängigkeit und technische Entwicklung bewirken, dass europäische Energiepolitik zunehmend auch Außenpolitik ist. Europa ist dazu berufen, dem globalen Zugriff auf Öl, den Stachel des Konflikts zu ziehen. Es darf nicht zu Kriegen um Energie und Rohstoffe kommen. Diese Erklärung wurde am 30. November 2005 in Brüssel von den folgenden deutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokaten unterzeichnet: Barbara Fischer Norbert Glante MdEP Manfred Haberzettel Rainer Knauber Dr. Rolf Linkohr MdEP a.D. Bernhard Rapkay MdEP Jens Rocksien Beatrix Widmer
Das Impressum lautet übrigens auf den SPD-Europaabgeordneten Norbert Glante. Der kommt aus den Neuen Bundesländern; so kann man hier im wahrsten Sinne des Wortes sagen: Ex oriente lux!

 *auf das Portal Energie-Fakten war ich durch einen Link im Wikipedia-Eintrag "Tschernobyl" gelangt. Es gibt in diesem Portal eine ganze Reihe von Artikeln zu diesem Thema. Die will und kann ich nicht bewerten; ich habe davon nur einen Text von Dr. Roth gelesen. Was ich allerdings bewerten kann, ist die relative Qualität des deutschsprachigen und des englischsprachigen Wikipedia-Stichwortes in Sachen "Chernobyl disaster": der englischsprachige ist nicht nur länger, sondern erkennbar für Laien geschrieben ('Fakten, Fakten, Fakten - und immer an die Leser denken': das ist zwar kein Werbespruch der Wikipedia, aber hier ist er realisiert). Der deutsche Artikel ist stellenweise allzu 'technikverliebt', aber insgesamt auch sehr informativ. Trotzdem, wer sich informieren will und Englisch hinreichend flüssig lesen kann, sollte (auch) den englischen Eintrag lesen! 

Textstand vom 19.07.2008

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