Dienstag, 16. Februar 2010

Die drei-plus-eine Dimensionen der Inflationsfrage: Kaufstimulation, Entschuldung, Entreicherung. Und dann wäre da noch der gern vergessene Realzins.

Als Deutscher saugt man die Inflationsphobie genauso mit der Muttermilch ein, wie die Amerikaner ihre Deflationshysterie. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass die Inflationsfurcht in Deutschland breitere Bevölkerungskreise beherrscht, während die Deflationsangst in den USA wohl vorzugsweise unter den dortigen Wirtschaftsweisen grassiert.

Oft genug habe ich in der Vergangenheit den 'Inflationismus' (oder 'Reflationismus', denn im Zusammenhang mit der Finanzkrise sind Inflationierungsvorschläge meist mit der Vorstellung verbunden, dass es durch die Krise zu einer Deflation gekommen ist und dass die Notenbanken die Welt nun wieder auf einen 'gesunden' Inflationskurs zurück führen müssten) kritisiert, insbesondere in den Blotts
- "Simbabwe schärfster Konkurrent für US-amerikanische Schlüsselindustrie" vom 26.11.08 (die Schlüsselindustrie ist das Gelddrucken);
- Ceci n’est pas une inflation“ oder: Eine Inflation gibt es nicht!"
- "Jauchzet, frohlocket: der Ölpreis steigt! Endlich dürfen wir auf die Wiederkehr der Inflation hoffen, deren wir nach Meinung mancher bedürfen!"
- "Alles Madoff oder was? Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler (auch die US-Notenbank?) wollen (erneut) die Welt bestehlen. Jetzt durch Inflation."

Mittlerweile (und gelegentlich auch früher schon) frage ich mich allerdings (jetzt im Zusammenhang mit meinem Wirtschaftsmodell der Artos-Phagen), ob nicht die Inflation eine nützliche Einrichtung ist, um die Geldakkumulation (zumindest zeitweise) umzukehren.

Den Bloomberg-Bericht "U.S. Needs More Inflation to Speed Recovery, Say Mankiw, Rogoff" von Rich Miller (19.05.2009) hatte ich schon früher in dem o. a. "Madoff"-Blott besprochen. Ich nehme ihn mir jetzt noch einmal vor, weil dort -2- der o. a. -3- Dimensionen (Kaufstimulation und Entschuldung), sowie auch die Zinsdimension, erörtert werden. Die Entreicherung der Gläubiger ist natürlich die Kehrseite der Entschuldung; als eigenständige Inflationsbegründung wird sie dort jedoch nicht erwähnt. Wenn Inflation überhaupt ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise sein sollte (es gibt viele gute Gegengründe, und momentan ich bin diesbezüglich sehr skeptisch), dann aber gerade wegen der Entreicherungswirkung, der Disakkumulation von Geld.

In Deutschland ist Inflationismus unter den Volkswirten wohl weniger verbreitet als in den USA. Im Spiegel Online jedoch fordert Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), eine gewollte Inflation für Europa in seinem Artikel vom 01.02.2010: "Griechenlandkrise. Geldschwemme gegen den Euro-Crash". Interessant ist ein wesentlicher Unterschied: Die US-Ökonomen haben die Staatsschulden zwar auch im Blick; sie erhoffen sich jedoch zugleich eine Entlastung der verschuldeten Haushalte und gleichzeitig eine Konsumstimulation. Straubhaar dagegen empfiehlt an dieser Stelle die Inflation als Heilmittel gegen Staatsschulden.
In dem Focus-Streitgespräch vom 18.06.09 "Droht eine Horror-Inflation?" mit Ulrich Blum, Präsident des Instituts für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung Halle (IWH), wertete jedoch auch Straubhaar Inflation als Konsumtreiberin (S.2) und Arbeitsplatzbeschafferin:
"Die Hubschrauber-Ökonomie ist in dieser Lage im Prinzip richtig. Die Preise stagnieren bereits, da müssen Sie gegensteuern – bis hin zum Anwerfen der Notenpresse. Die Menschen müssen glauben: Morgen wird es nicht billiger, sondern teurer.
Aber sobald die Inflationserwartung dann tatsächlich steigt, eine Vollbremsung hinzulegen ist nach aller historischen Erfahrung weder politisch gewünscht noch möglich.
FOCUS Online: Warum?
Straubhaar: Die reale Wirtschaft reagiert mit Verzögerung: Die Auftragseingänge sind im ersten Halbjahr eingebrochen, daher rollt die Konkurs- und Entlassungswelle erst im Herbst an. Dann müsste die Notenbank das überschüssige Geld längst wieder einsammeln. Das ist bei über vier Millionen Arbeitslosen in Deutschland und einer Quote von zehn Prozent im Euro-Raum nicht durchsetzbar – und deswegen ist Inflation unvermeidlich.
"

Sein aktueller Spiegel-Artikel zeichnet sich dagegen durch eine reichliche Dosis an argumentativer Wirrnis aus. Der allergrößte Teil befasst sich mit Griechenland: Dass Hilfe für Griechenland problematisch ist (wg. Moral Hazard einerseits und weil sie andererseits innenpolitisch bei uns nicht gut ankommt); dass Griechenland und die anderen Schuldenstaaten aber in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen, wenn wir ihnen nicht helfen ("Das Wachstum in den Schuldenstaaten bleibt aus, die Arbeitslosigkeit steigt, die öffentliche Infrastruktur wird marode, die Wirtschaft insgesamt verliert weiter an Fahrt") und dass "der ökonomische Zerfall eines europäischen Staates wie Griechenland alle anderen mitreißen" würde.
Mit der Konjunktion "also" leitet er sodann zu einem Szenario über, dass er als Lösung des von ihm geschilderten Dilemmas präsentiert:
"Also bleibt nur eine letzte Hoffnung: Sie lautet Inflation. Über eine moderate, schleichende Inflation ließe sich die Last öffentlicher Haushaltsdefizite langsam mindern. Hohe Inflationsraten verringern die reale Belastung nominaler Schulden. Sie sind deshalb politisch die einfachste Option, Staatsschulden auf die kalte Art zu beseitigen."

Straubhaars Kausalitätenkonstruktion ist aus verschiedenen Gründen nicht überzeugend:
- Wieso muss ganz Europa inflationieren, weil sich einige Staaten überschuldet haben?
- Oder will er doch deutsche Hilfen für Griechenland mobilisieren, und die dadurch auch in Deutschland erhöhte Schuldenlast durch Inflation auf die Geldbesitzer überwälzen?
- Die von ihm vorgeschlagene maßvolle Inflation ("5 und mehr Prozent" sagt er in dem Focus-Streitgespräch voraus), die ohnehin keine Notenbank maßschneidern kann, wird Griechenland nicht vor dem Zwang zum Sparen bewahren. Denn zum einen geht auf diese Weise das Abschütteln der Altschulden sehr langsam voran. Zum anderen müsste das Land neue Schulden aufnehmen, und um so mehr, wenn es nicht sparen will (und nach der Meinung nicht nur von Straubhaar, sondern auch von anderen Ökonomen, gar nicht sparen darf, weil sonst die Wirtschaft schrumpft). Ein bisschen Inflation hilft aus diesem Dilemma nicht heraus.

Besonders unverständlich ist die Feststellung Straubhaars zur Kaufkraftvernichtung von Inflation:
"Wie eine indirekte Steuer - beispielsweise die Mehrwertsteuer - verringert die Inflation die reale Kaufkraft der Massen. Allerdings mit einem gewaltigen Unterschied: Es braucht dafür keine parlamentarische Zustimmung."
Die ist schon für sich genommen nicht unbedingt korrekt, denn eine (hypothetische) "Schleuseninflation" (zu diesem Begriff s.u.) würde ja zugleich mit den Preisen auch die Löhne hochschrauben. Und nur bei diesem Inflationstyp kann es die Konjunktur ankurbeln wenn, wie Straubhaar fordert "Die Menschen ... glauben: Morgen wird es nicht billiger, sondern teurer" und deshalb wunschgemäß in Einkaufsräusche verfallen.
Nehmen wir aber an, dass er an dieser Stelle an eine andere Art der Inflation gedacht hat, bei der nur die Preise steigen: dann wäre seine Feststellung nicht überraschend. Das Problem ist dann jedoch, dass seine Argumentation damit die folgende logische Struktur bekommt:
1) Griechenland kann nicht zugemutet werden zu sparen, weil das die Konsumausgaben senken und damit die Konjunktur abwürgen würde.
2) Also muss es Griechenland ermöglicht werden, sich weiter zu verschulden oder zumindest nicht wesentliche Einschnitte zu machen [was nur bei weiterer Verschuldung funktionieren kann, zumindest in dem Sinne, dass Griechenland die bestehenden Schulden umwälzen muss und von seinem Plateau nicht herunter kommt]. (Deutsche Hilfen fordert Straubhaar ja nicht und scheint sie - er bleibt insoweit wenig mutig vage - eher abzulehnen.)
3) Damit Griechenland seine Schulden tilgen kann, ohne zu sparen oder die Steuern zu erhöhen, muss Inflation her.
4) Die Inflation wird die Kaufkraft (und also zwangsläufig den Konsum) beschränken.

In der Summe und wenn wir die einzelnen Gedankenschritte zusammenfassen sagt Straubhaar also:
Um die Konjunktur nicht abzuwürgen dürfen wir den Konsum nicht einschränken und müssen Inflation fördern; diese besteuert den Konsum (und schränkt ihn folglich ein).
Wozu braucht ein Volk Feinde, wenn es solche Nationalökonomen hat?

Bei der Neuverschuldung scheinen sämtliche Inflationisten zu glauben, dass die Notenbanken die Realzinsen über lange Zeit im negativen Bereich halten sollen und vor allem auch halten können: "Alle Staaten, die sich hoch verschuldet haben, werden alles daransetzen, die Zinsen tief zu halten. Der Preis des Geldes wird also nicht so schnell wie nötig erhöht" sagt Straubhaar in dem o. a. Focus-Streitgespräch. Ich glaube das eher nicht. Die Notenbanken können die Zinsen nur dann und nur dadurch im negativen Bereich halten, wenn bzw. indem sie massiv Geld in den Markt pumpen. Dadurch würde ihnen aber jegliche (m. E. ohnehin ziemlich illusorische) Kontrolle über den Inflationspfad entgleiten; der Weg zur Hyperinflation wäre mit guten Begründungen gepflastert.

Überhaupt steht im Hintergrund der ingenieursmäßigen Inflationskonstruktionen, die einige sich von den Notenbanken erhoffen die Vorstellung von einem Prozess, den ich in meinem oben zitierten Blott „Ceci n’est pas une inflation ...“ als "Indexinflation" und "Schleuseninflation" bezeichnet habe: ein unmerkliches, gemütliches und vor allem gleichmäßiges Hochschaukeln aller Löhne und Preise. Nur der Geldpreis, also der Zins, soll sich nach diesen Schlaumeier-Ökonomen nicht ändern:
"Mankiw says the central bank should pledge to produce “significant” inflation. That would put the real, inflation-adjusted interest rate - the cost of borrowing minus the rate of inflation - deep into negative territory, even though the nominal rate would still be zero. If Americans were convinced of the Fed’s commitment, they’d buy and borrow more now".


Eigentlich wollte ich diesen Blott fortsetzen, aber dazu fehlt mir zum einen die Zeit. Zum anderen überblicke ich die Implikationen von Inflation nicht hinreichend, um hier eine fundierte Meinung zu äußern. Einerseits hätte ich nichts dagegen, die großen Geldbesitzer etwas ärmer zu machen. Andererseits trifft das aber auch die Kleinen, jeden, der ein paar Hundert oder Tausend Euro auf dem Sparbuch hat.
Und die Großen werden sich absichern - sogar mit Hilfe der "Inflationisten".

Einer von denen ist der Chefökonom des Weltwährungsfonds, der (schon seit langem) in Amerika lebende gebürtige Franzose Oliver Blanchard (von den Wikipedia-Einträgen momentan am ausführlichsten ist der französischsprachige). Der hat, mit Giovanni Dell’Ariccia und Paolo Mauro als Ko-Autoren, am 12.02.2010 das Arbeitspapier "Rethinking Macroeconomic Policy" publiziert.
Man kann nicht sagen, dass er darin eine höhere Inflation empfiehlt: er regt nur an, darüber nachzudenken, ob eine z. B. vierprozentige Inflation (mit einem entsprechend höheren Zinssatz) es nicht den Notenbanken leichter machen würde, in Krisenfällen die Zinsen stärker zu senken und auf diese Weise die Wirtschaft anzukurbeln.
Das ist die Textebene, aber schon eine solche Anregung ist ein Politikum, wenn sie vom Chefökonomen des Weltwährungsfonds kommt.
Darüber hinaus bin ich aber fest überzeugt (auch wenn so etwas natürlich nicht beweisbar ist), dass die o. a. Begründung nur vorgeschoben ist und dass es Blanchard in Wahrheit darum ging, die Staatsschulden teilweise wegzuinflationieren.
Mit diesem Eindruck stehe ich übrigens nicht allein. In dem Artikel "Inflation Steigende Staatsschulden schüren die Angst vor einer kalten Enteignung" in der Wirtschaftswoche vom 08.03.2010 schreibt Malte Fischer (meine Hervorhebung):
"Vor zwei Wochen zog auch der IWF-Chefökonom Olivier Blanchard nach. In einem Positionspapier mit dem vielsagenden Titel „Rethinking Macroeconomic Policy“ stellte er die ketzerische Frage, ob „die Kosten einer Inflationsrate von vier Prozent wirklich höher sind als die von zwei Prozent Inflation“. Vordergründig argumentiert Blanchard, höhere Inflationsraten seien automatisch mit höheren Zinsen verbunden und böten den Zentralbanken im Krisenfall dadurch mehr Spielraum für Zinssenkungen. Tatsächlich dürfte es Blanchard jedoch darum gehen, ideologisch den Boden für einen Schwenk der Geldpolitik hin zu mehr Inflation zu bereiten."
Dass es in Wahrheit die Sorge um die Staatsschulden ist, welche Blanchard umtreibt, schimmert m. E. auch in dem Papier durch. So sagt er z. B. an einer Stelle: "the required degree of fiscal adjustment (after the recovery is securely under way) will be formidable ...".
Blanchard will Investoren schützen: "indexed bonds can protect investors from inflation risk" schlägt er vor. Und natürlich versuchen die Investoren, die großen zumal, sich selbst zu schützen: indem sie Gold und andere Sachwerte aufkaufen.
Dann frage ich mich freilich, wer die Verlierer sein sollen (oder, wenn man Blanchard glauben wollte, dass es ihm nicht um Staatsentschuldung durch Inflation geht, und dass er keine Verlierer will: wer die Verlierer sein werden). Denn dass eine Inflation neutral ist, glaube ich einfach nicht.

Das war aber mehr ein Einschub am Rande; kehren wir zu der Vorstellung von Inflation als Konsumpeitsche zurück, wie sie oben bei dem Mankiw-Aussage zum Vorschein kommt: ..."put the real, inflation-adjusted interest rate - the cost of borrowing minus the rate of inflation - deep into negative territory ...".
Einen negativen Realzins werden die Verbraucher auch dann nicht sehen, wenn die Notenbanken ihrerseits Geld zu solchen Konditionen verleihen. Denn schließlich wollen (und müssen) die Banken ja auch noch leben, und zudem müssen sie die Risiken in die Kreditpreise - also die Zinsen - einbeziehen. Es mag, zeitweise und bei galoppierender Inflation, auch mal vorkommen, dass die Realzinssätze für die 'Endverbraucher', die Bankkunden, negativ sind. Aber das werden allenfalls sehr seltene Ausnahmefälle sein; die Kreditnehmer (den Staat vielleicht ausgenommen) werden in aller Regel positive Realzinsen bezahlen. Warum sollte sie das zu höherem Konsum anregen?


Der Aufsatz "Wirkungen und Folgen der Inflation" (1980) von Prof. Gerhard Merk bringt nicht, was der Titel erwarten lässt. Vielmehr erinnert der Autor daran (was ebenfalls wichtig ist), dass es "die" Inflationswirkung(en) nicht gibt, sondern dass die möglichen Folgen von Inflation jeweils in einem "Wenn-Dann-Szenario" (mein Ausdruck) gedacht und beschrieben werden müssen.
Inflationsfolgen beschreibt er in seinem Aufsatz "Arten und Aufgaben des Geldes" (im Kapitel "Nebenfunktionen" unter Ziff. 3 -S. 3-, wo er Geld in seiner Rolle als Wertspeicher darstellt). (Auf S. 11 bietet er außerdem einige Informationen zur deutschen Hyperinflation der 20er Jahre.)

[Off Topic: Bemerkenswert ist Merks (aktuell eingeschobene?) Kritik der Ökonomenzunft am Ende eines anderen (kurzen) Aufsatzes "DIE "URSACHEN" DER INFLATION" (1975):
"As professor of economics during some decades I have come to have serious and deep-rooted doubts whether economics, as taught at present in universities, will ever do anything to make the world a better and happier place to live in."]


Textstand vom 13.03.2010

1 Kommentar:

  1. Was der Siegener Professor Gerhard Merk über seine Zweifel an der Hochschul-Ökonomik schreibt, sollte jedem "Ersti" in Volkswirtschaftslehre ausgedruckt in die Hand gegeben werden.

    Aus eigener Erfahrung kann ich dem voll zustimmen; und wahrscheinlich werde ich hier nicht der Einzige sein!

    Arno Breitkopf

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