Donnerstag, 1. November 2007

Utopia Nova - Argumente für die Wünschbarkeit einer ideologischen Fundamentierung politischen Handelns


ABBY FineReader ist ein feiner Kumpel, weil er es mir erlaubt, ohne allzu große Mühe meine alten Texte zu exhumieren und auf die Menschheit loszulassen (was natürlich einige Menschen durchaus zu einer konträren Einschätzung des "feinen Kumpels" veranlassen könnte). (Völlig mühelos ist es freilich nicht, weil die Texterkennungssoftware mit Schreibmaschinentexten -mit Gewebeband, nicht mit Karbonband geschrieben- gelegentlich doch Erkennungsschwierigkeiten hat und weil ich natürlich auch Buchstaben übertippt und ausgeixt und handschriftliche Berichtigungen und Ergänzungen eingefügt hatte.)

Den nachfolgenden Text hatte ich großenteils (handschriftlich) ausgearbeitet im November 1973 während eines Urlaubsaufenthaltes auf der Kanaren-Insel La Palma. Man könnte ihn auch als ein Sublimationsprodukt dieses in mancher Hinsicht frustrierend verlaufenen Urlaubs bezeichnen.
Später in Frankfurt habe ich ihn in veränderter Form maschinenschriftlich übertragen und ein wenig fortgeführt und jetzt in einer wiederum leicht veränderten Form (Berichtigung der Rechtschreibung, einiger Fehler und mit einigen –wenigen- Textänderungen im Interesse der Verständlichkeit) als Datei in meinen PC eingegeben.

Der Text ist zu lesen vor dem Hintergrund einerseits meiner Auseinandersetzung mit dem damals in der Nachfolge der Studentenbewegung von 1967/1968 im öffentlichen Diskurs noch recht virulenten Marxismen und Neomarxismen der verschiedenen Spielarten. Daraus resultiert wohl auch die manchmal sehr direkte Ansprache an die Leser (insoweit wohl strukturell - natürlich nicht inhaltlich - vergleichbar z. B. dem Aufsatztitel "Listen, Marxist!" eines Murray Bookchin aus dem Jahre 1971; den Aufsatz habe ich allerdings nicht gelesen).

Der andere Hintergrund waren die Auseinandersetzungen im die Erweiterung des Frankfurter Flughafens (Stichwort "Starbahn West") und andere Auseinandersetzungen, die ich als Gefahr für den weiteren technisch-zivilisatorischen Fortschritt wahrgenommen habe.
Umweltbewusst war ich damals zwar auch schon, aber die Ressourcenverknappung usw. waren seinerzeit mehr auf der Ebene der theoretischen Wahrnehmung präsent (bei mir selbst wie wohl auch allgemein in der Öffentlichkeit) und erschienen nicht in gleicher Weise unmittelbar bevorstehend wie derzeit das Ölfördermaximum ("Peak Oil").

Zu meiner weiteren Bewertung des Aufsatzes aus heutiger Perspektive vgl. auch meine kurze Nachbemerkung.

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"Utopia Nova - Argumente für die Wünschbarkeit einer ideologischen Fundamentierung politischen Handelns.

Im Gegensatz zum Konsensus, der Grundlage politischer Aktivität unserer Volksparteien, ist die Ideologie eine erfundene, systematische und auf größtmögliche innere logische Widerspruchsfreiheit bedachte Anleitung zu politischer Aktivität. Ihre Aufgabe ist es, ein oder mehrere verpflichtende Ziele für - im weitesten Sinne - politische Arbeit auf allen Ebenen zu entwickeln, wodurch letztlich die ganze Menschheit in Ihrer Struktur und bis hinunter zur Motivationsstruktur des Individuums auf diese Ziele ausgerichtet werden soll.

Ideologien können mehr oder weniger ausgeprägt und umfassend sein, bzw. der Begriff kann enger oder weiter gefasst werden. Die Übergänge zwischen Konsensus und Ideologie sind fließend; und im ganz strengen Sinn gibt es bisher nur eine - die marxistische -Ideologie.
Gewiss, faschistische und rassistische Systeme waren ebenso diktatorisch wie das bolschewistische; ihre sozialen Lehren waren jedoch weniger umfassend, weniger total. Im Gegensatz zum Marxismus hat der Nazismus kein ihm eigenes Wirtschaftssystem entwickelt; Privat- oder Staatswirtschaft waren dort (wie ja auch heute in den verschiedenen Demokratien) ebenso möglich wie Markt- und Planwirtschaft (letztere im 2. Weltkrieg auch praktiziert), ohne die beiden ideologischen Fundamente - Rassismus und, wohl noch wichtiger, Gehorsam - zu gefährden. Der Nazismus ist auch insofern keine Ideologie im ganz strengen Sinne der Eingangsdefinition, als er spezifisch für Deutschland zusammengestrickt war, und keineswegs die ganze Menschheit im Auge hatte.

Allerdings scheint die Eingangsdefinition der Ideologie als eines erfundenen Systems auch dem Marxismus nicht gerecht zu werden, der sich ja als erforscht, als gefunden, versteht. Es ist eine Frage des politischen Standortes und des jeweiligen Begriffs von Wissenschaft, ob man diesen Anspruch des "wissenschaftlichen" Marxismus akzeptiert. Hier wird er schon allein deswegen abgelehnt, weil in der hier verwendeten Terminologie der Begriff "Wissenschaft" jenen Forschungsbereichen vorbehalten bleibt, die exakt definierte, verifizierbare Aussagen machen. (Philosophie, Theologie, Jurisprudenz z.B. sind demnach keine Wissenschaften nach der hier zugrunde gelegten Begriffsbestimmung; Soziologie z.B. nur insoweit, als Ihre Aussagen exakt und zweifelsfrei nachprüfbar sind.)

Ich mache darauf aufmerksam, dass meine vorliegend verwendete Begriffsbestimmung von "Wissenschaft" ebenso wenig "das Wesen" "der Wissenschaft" erfassen will, wie entsprechend die Ideologiedefinition "das Wesen" "der Ideologie". Denn es gibt kein an-sich-seiendes Wesen der Begriffe; sie werden vielmehr für einen bestimmten Sachverhalt konzipiert und - besonders in Bereichen wie Politik, Philosophie, Theologie - nach Bedarf modifiziert. Es gehört zu den großen Unehrlichkeiten der Kultur und fast aller ihrer theoretischen, nicht-wissenschaftlichen Produktionen, explizit oder, meist, implizit-unbewusst, von einer meta-sozialen Begriffswelt auszugehen, die erst der jeweilige Denker richtig in ihrem Wesen erfasst habe. Gerade dieser Anspruch begründet allerdings auch die politische Attraktivität z.B. marxistischer oder neo-marxistischer Positionen, aber auch fast aller anderen politischen Einstellungen. Und noch immer ist ja das Naturrecht letzte "ideologische" Grundlage unserer (und vielleicht, wenn auch oft implizit, aller) Rechtssysteme.

Dieser Exkurs war erforderlich, um Ihnen, Leser, zu erklären, warum hier nicht von einer bürgerlichen Ideologie die Rede ist; ein Ausdruck, dem Sie doch mittlerweile an vielen Stellen begegnet sind. Und weil überall davon die Rede ist, muss es doch so etwas auch geben, oder? Sicher gibt es Grundüberzeugungen, die in einer bürgerlichen Gesellschaft sehr weit verbreitet sind, aber in dem eingangs gebildeten (nicht: gefundenen) Gegensatzpaar ordnen sie sich dem Konsensus zu. Stellen Sie sich die Begriffe "Ideologie" und "Konsensus" als Endpunkte einer Linie vor, nicht als (und auch das ist eine der großen Kulturlügen) Punkte im Raum, die jede Aussage und jedes Verstehen quasi magnetisch anziehen und "automatisch" als zum einen oder zum anderen Begriff wesentlich zugehörenden erkenntlich machen, wenn man nur die richtige Erkenntnismethode anwende. Eine Linie mit idealen, nur gedachten, Endpunkten, die hier durch Konsensus unserer Volksparteien einerseits und Ideologie des Marxismus andererseits exemplifiziert werden.

Auch der Marxismus basiert aber noch zum großen Teil auf Konsensus, auf nicht infragegestellten Selbstverständlichkeiten einer christlich-humanistischen Kulturtradition. Und daraus leite ich hier die Chance ab, die Linie in Richtung Ideologie zu verlängern, über den Marxismus hinauszugehen und eine Ideologie zu entwickeln, die noch mehr Ideologie im Sinne meiner Eingangskriterien ist und damit vielleicht dem gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung und des Wissens adäquater ist als z.B. der Neomarxismus. Und auch darum der Exkurs über die Begriffe und ihr nicht vorhandenes Wesen, und bitte, prägen Sie sich das ein als Grundlage für alle folgenden Ausführungen: was hier als Ideologie entwickelt wird ist ein erfundenes, kein gefundenes System, und es ist sich dessen bewusst. Und darin liegt der Unterschied etwa zur Ideologie des Marxismus: in dem Bewusstsein um die Konstruiertheit der hier auszuführenden Ideologie.

Wenn auch konstruiert, schwebt doch diese Ideologie nicht irgendwo im luftleeren Raum. Auch sie basiert auf jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen, Problemen, Theorien; aber sie bemüht sich, von Setzungen auszugehen, von Prämissen, die als willkürlich gedacht sind, und die in der Theorie durch andere Prämissen abgelöst werden kennten. Natürlich ist die darzustellende Ideologie auf die konkrete Situation und aus ihr heraus konzipiert: die Situation der Menschheit in der Gegenwart, wie ich sie bewusst und auch vorbewusst verstehe, und besonders die hierzu gedachten Lösungen bestimmter Probleme, schafft / schaffen sich ihre Prämissen in einer umfassenderen Ideologie. Die Theorie, samt Prämissen, ist also aus der Praxis abgeleitet, und bleibt im Bewusstsein dieser Ableitung und ihrer metaphysischen Willkürlichkeit: und damit müssen Sie das Bild der Linie, mit Konsensus an der einen Seite, marxistische Ideologie zum anderen Ende hin und darüber hinausgehend die neue Ideologie "Utopia Nova" modifizieren zum Bild einer Ebene, in der Konsensus und marxistische Ideologie auf einer Linie liegen, Utopia Nova dagegen an anderer Stelle. Die neue Ideologie liegt deshalb nicht auf der Linie, weil sie sich im Gegensatz zum Konsensus (implizit) und Marxismus (explizit) nicht als metaphysisch begründete oder wissenschaftlich erwiesene Notwendigkeit für die Menschheit ausgibt; sie strebt keinen der klassischen Werte wie das Heil, das Gute, die gerechte Ordnung, das ewige Glück, das Paradies, an.

Sie können diese Ideologie nicht als richtig oder falsch "erkennen", Sie müssen sich vielmehr entscheiden, ob Sie sie annehmen oder ablehnen wollen. Und damit ist diese Ideologie demokratisch verwurzelt. Aber: in ihrer konsequenten Anwendung würde sie eine Gesellschaft ergeben, die sich ganz erheblich von unserer jetzigen Demokratie unterscheidet, und in der auch Freiheit keine nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit mehr ist, sondern jeweils in ihrer konkreten Ausprägung, nicht als Schlagwort, auf die Vereinbarkeit mit den Zielsetzungen der Ideologie untersucht und dementsprechend beurteilt werden muss.

Ich will Ihnen diese Ideologie schon deshalb nicht als "Demokratie in Potenz" anbieten, weil ich ja nicht weiß, was gerade Sie, Leser, unter Demokratie verstehen. Aber auch nicht als Heilsbotschaft, die man ablehnen oder annehmen muss wie das Wort Gottes: die Feststellung, Sie könnten die Ideologie nicht als richtig oder falsch erkennen, bezieht sich allein auf die Relativität ihrer Prämissen, die nicht logisch aus einer Religion, einer Metaphysik oder aus wissenschaftlichen Erkenntnissen deduziert sind und als zwingend aus ihnen abzuleitend auftreten. Diese Ideologie besteht aus Prämissen und praktischen politischen Forderungen. Aber selbst diese Forderungen ergeben sich nicht zwingend aus den Prämissen, ebenso wenig, wie die gesetzten Prämissen zwingend aus den Forderungen abgeleitet sind. Ein Zusammenhang ist dennoch vorhanden; und mir scheint, das das vorzulegende ideologische System einige Probleme, die vielleicht auch Sie, Leser, theoretisch oder praktisch bedrängen, oder von denen abzusehen ist, dass sie uns sehr bald bedrängen werden, gut löst und insgesamt akzeptabel ist.

Von dieser Ideologie wird folgende Leistung gefordert: sie soll möglichst viele Daten, die für unsere Existenz relevant sind, im Hinblick auf jene Konsequenzen analysieren und kombinieren, die diese Daten für die Realisierung oder Verhinderung der Ausgangsforderungen oder Prämissen haben. Beispiele dafür gebe ich erst später im Zusammenhang.

Ein grundsätzlicher Ansatz dieser Ideologie liegt in der Kombination von Zusammenhängen, die bisher noch weitgehend als voneinander unabhängige Vorgänge verstanden, oder doch als solche behandelt werden. Sie sucht daher u. a. Lösungen für bestimmte Probleme zu rationalisieren (im ökonomischen Sinne), indem sie zwei oder mehrere Probleme kombiniert, die uns vielleicht bisher ganz zusammenhanglos erschienen waren, und so vielleicht zu einer neuartigen und stabileren Lösung kommt, zumindest zu einer Lösung, die den Forderungen ihrer Prämissen besser gerecht wird als konventionelle Ansätze.

Diese Ideologie ermögliche somit: eine problemorientierte, kreative, rationelle und rationale Politik. Rational heißt hier nicht "vernünftig" - das wäre ein Begriff aus dem Bereich des Konsensus und der aus ihm entwickelten Ideologien, also aus der "Linie" unseres Denkmodells - sondern verstandesmäßig aus bestimmten Zielen abgeleitetes Handeln, und damit prinzipiell einer Nachprüfung im Hinblick auf den Nutzen für die Erreichung dieser Ziele zugänglich.

Ein längerer Einschub ist erforderlich, um den Begriff "rationell" zu erläutern oder bessern, in dieser Zeit, zu rechtfertigen. Natürlich haben Sie eine Vorstellung davon, was rationell und Rationalisierung in der Wirtschaft bedeuten. Vielleicht assoziieren Sie Schlagzeilen wie - "Rationalisierung - eine Gefahr für die Arbeitsplätze?" oder "Rationalisierungserfolge ermöglichten steigende Gewinne". Arbeitsplätze sind in der Tat wegrationalisiert worden, aber nicht "die" Arbeitsplätze. Vielmehr schafft die Einsparung von Arbeitsplätzen in einem Bereich die Möglichkeit eines Einsatzes der freigewordenen Kräfte in anderen Bereichen und die Möglichkeit zum Aufbau neuer Industrien - z.B. der Freizeitindustrie als Teil des sich immer mehr ausweitenden tertiären Sektors, aber auch die Möglichkeit z.B. zur Erweiterung des Gesundheits- und Bildungswesens. Banal für Sie, Leser, ich weiß, aber angesichts heute so verbreiteter schlichter und manchmal geradezu magischer Vorstellungen von Wirtschaft noch ein Wort wert: Wenn der Bauer nicht mehr produziert, als er selbst verbraucht, kann er keinen Arzt und keinen Lehrer und keinen Politiker bezahlen. Er kann ihm zwar "Geld" geben, meinetwegen Kauri-Muscheln; da aber der Empfänger nichts dafür kaufen kann - der Bauer verbraucht ja seine Produktion selbst - ist das "Geld" kein Geld.

[Ein Scheinwiderspruch, wie vielleicht alle jene wundersamen Paradoxien, welche die Philosophen aus dem Hut zaubern. Wenn der Satz "Geld ist gar kein Geld" überhaupt logisch möglich ist, so nur in dem voraufgegangenen Kontext, wo "Geld" einmal Dinge oder auch Buchungsvorgänge bedeutet, die uns als Zahlungsmittel und Zahlungsvorgänge geläufig sind, zum anderen aber bedeutet "Geld" dort "Zeichen, gegen das man Ware eintauschen kann". Wenn also der Bauer nichts verkauft gegen die Kaurimuscheln, die jemand ihm als Geld anbietet, hat dieser von vornherein nicht mit Geld bezahlt, sondern wertlose, weil nicht in einer anderen Kategorie wertmäßig vergleichbare, Kaurimuscheln hingegeben). Nun zu den steigenden Gewinnen, der zweiten Schlagzeile. Sie mögen ja Profite und Profitgier ablehnen; wenn aber jedes Jahr die Post- oder Bahn- "tarife" (= Preise) erhöht werden, und vielleicht sogar überproportional zu Ihrer Einkommenssteigerung, werden Sie dort vielleicht Rationalisierung fordern. Aber wieso nur dort? Es muss Ihnen doch klar sein, dass auch z.B. Mieten irgendwo mit den Baukosten und dem Rationalisierungsgrad im Bauwesen und in anderen Sektoren und sogar auf ganz anderen Ebenen zusammenhängen. Sparen Sie sich, kluger Leser, die Bodenpreise und Vermieterprofite jetzt und denken Sie sich den Zusammenhang ohne diese "Federung" oder dieses "Reservepolster", indem Sie z.B. eine Statistik der Entwicklung der reinen Baukosten in den letzten 1o Jahren betrachten.]

Bleibt zuletzt noch der Einwand, wir lebten ja ohnehin in einer Überflussgesellschaft, und warum rationalisieren, wenn jetzt schon zuviel produziert wird? Jedoch: nach aller sozialen Erfahrung wird jeweils der erreichte Standard die Norm, wird selbstverständlich, und die Erreichung neuer Ziele erscheint erstrebenswert - sei es nun das privatistische Ziel des Swimmingpools oder das soziale einer besseren psychiatrischen Versorgung. Und dieser Zusammenhang würde auch dann gelten, wenn alle Mittel gleich oder auch "gerecht" aufgeteilt wären, denn woher nehmen Sie, Leser, die Autorität, mir zu sagen, es sei gerecht, wenn ich die Hälfte bekäme, oder dasselbe, oder "nur" das Doppelte, wie Sie? Natürlich müssen einfach die Mittel irgendwie verteilt werden; Mittel, von denen ich meine, dass sie grundsätzlich und immer knapp sind - aber warum nicht ehrlich sagen, dass sie knapp sind und irgendwie im gesellschaftlichen Verteilungskampf - direkt zwischen den Beteiligten oder indirekt "von oben" - aufgeteilt werden müssen?

Repetieren wir nach dem langen Einschub die Grundlagen: Ideologie sei ein sozialphilosophisch-politisches Orientierungssystem mit dem inneren Ziel größtmöglicher logischer Widerspruchsfreiheit und dem äußeren Ziel, die ganze Menschheit in ihrer sozialen Struktur und bis hinunter zur Strukturierung der Motivationen des Einzelnen zu erfassen. Eine gute Ideologie liefere Grundlagen für eine rationale Politik, die Probleme kreativ und rationell löst und damit vielleicht neue Probleme, aber von größerer Komplexität als die alten, gelösten, schafft und so die Grundlage legt für eine weitere angestrengte Entwicklung der individuellen und gesellschaftlichen Kräfte in der Lösung immer komplexerer Probleme. Und das mag Ihnen allerdings als weiterer Nachteil dieser neuen Ideologie gegenüber einer klassischen erscheinen. Eine Ideologie alten Stils nennt die Probleme, zeigt die (vermeintlichen) Lösungsmöglichkeiten - und wenn dann die Ideologie nur richtig in die Praxis umgesetzt wird, sind am Ende (irgendwann einmal) automatisch alle happy. Der Ansatz einer modernen Ideologie muss bescheidener sein, kreativ statt dogmatisch. Sie nennt Probleme, offeriert neue Lösungsmöglichkeiten als System, sie versucht einfach, traditionelle Perspektiven radikal zu verändern. Sie will radikaler sein als bestehende politische Auffassungen und Ideologien, ohne dass aber diese Radikalität alle Gebiete des Lebens notwendigerweise gleich stark oder gleich schnell verändern müsste. Die Radikalität dieser neuen Ideologie liegt im Wissen um ihre Bedingtheit und in zwei Forderungen, die an sie gestellt werden sollen: sie muss wissen, dass sie neue Probleme schafft, indem sie alte löst, und sie muss in ihre Problemlösungen auf organisatorischer Ebene und individuell in Bewusstsein und Motivationsstruktur des Einzelnen Herausforderungen einzubauen versuchen, die eine Weiterentwicklung der Menschheit auf höhere = komplexere Zustände hin erzwingen.
Damit ist als eine Prämisse für diese Ideologie gesetzt, dass sie dem Fortschritt diene. Scheinbar nichts neues, jedoch von einer klassischen Ideologie insofern völlig verschieden, als "Utopia Nova" der Menschheit kein absolutes Heil bescheren will: Vielmehr versteht sie "Fortschritt" wertneutral als Entwicklung zu höherer Komplexität menschlichen Denkens, Handelns und Organisiertseins. Und damit wäre diese Ideologie, denkt man an die Marxsche Theorie von der spiralförmigen Höherentwicklung der Gesellschaft, in gewissem Sinne der einzig zeitgemäße Neo-Marxismus, die einzige radikale Weiterentwicklung des Marxismus. Aber das nur am Rande, denn diese Ideologie soll nicht geistesgeschichtlich abgeleitet und mit Autoritäten der Philosophie des Abendlandes belastet werden, welche sich nicht mehr wehren können, wenn man ihre Lehren angeblich vom Kopf auf die Füße stellt.

Wenngleich auch eine neue Ideologie selbstverständlich überall ihre Wurzeln in älteren und neueren Gedankengängen verschiedener Wissensgebiete hat, so ist doch eine Captatio benevolentiae des Lesers durch die Anführung klassischer und moderner Autoritäten nicht angestrebt. Sie müssen sich schon die Mühe machen, die Ideologie anhand der Ihnen unmittelbar und mittelbar zugänglichen Informationen über das Leben, wie es sich heute darstellt und wie es vielleicht in zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren sein wird, kritisch zu prüfen. Ich weiß ja nicht, ob es Sie interessiert, wie andere Menschen in anderen Ländern heute leben, was dort geschieht und wie die Menschheit - und damit evtl. Ihre Kinder und Enkel - in fünfzig oder hundert Jahren existieren werden, aber eine Ideologie unterscheidet sich von einem Parteiprogramm u. a. dadurch, dass sie Grundlagen für eine langfristige, sehr langfristige, politische Orientierung bieten und politisches Handeln zur Überprüfung seiner langfristigen Auswirkungen veranlassen soll. Hier sei die andere Prämisse der neuen Ideologie eingeführt: Ihre Anwendung solle, neben der Förderung des Fortschritts, die Erhaltung möglichst intelligenten Lebens auf möglichst lange Sicht gewährleisten.

Hierin liegt aber eine weitere politische Schwäche dieser Ideologie. Menschen kämpfen für bessere Lebensverhältnisse für sich selbst; auch dort, wo die Ideologie ein paradiesisches Endziel in weite Ferne rückt, werden die ihr anhängenden Massen politisch mobilisiert nur mit dem Versprechen oder der Hoffnung auf baldige Veränderung von als untragbar empfundenen Zuständen. Gewiss, Verhaltensweisen zur Erhaltung der Art sind dem Menschen einprogrammiert: Eltern können sich die Ausbildung Ihres Kindes "vom Mund absparen", sie können dafür kämpfen, dass es ihrem Kind "später mal besser geht", und in einem schon abstrakteren Zusammenhang ziehen Männer in den Krieg, um "Frauen und Kinder zu schützen". Wäre dieser Terminus so beliebt gewesen in der Kriegspropaganda, wenn er nicht, schon mittelbar-abstrakt, aber doch noch unmittelbar verständlich, eine biologische Programmierung angesprochen hätte? Und auch heute wird ja die Forderung nach Umweltschutz oft mit dem Hinweis auf die Lebensbedingungen späterer Generationen gestellt.

Man kann sich für oder gegen den Fortschritt im o. a. Sinn entscheiden, man kann auch "für den Fortschritt" eintreten, und ihn doch gleichzeitig bekämpfen (und umgekehrt). Zwei Beispiele: Ein Industriemanager kann für die Durchsetzung eines Reaktorbaus oder des Baus einer neuen Fabrik kämpfen, zugleich aber sich mit allen Mitteln gegen eine Flughafenerweiterung in der Nähe seines Eigenheims sträuben. Und der Nationalsozialismus, dessen Wirtschaftsideologie den Kleinbetrieben Schutz vor dem Großkapital versprach, hat in der Praxis den Trend zu größeren Einheiten begünstigt. (Diese Beispiele sollten nicht dahingehend missverstanden werden, dass Reaktorbau oder Flughafenerweiterung in jedem Fall ein "Fortschritt" sein muss. "Fortschritt" in der hier verwendeten Begriffsauslegung kann auch bedeuten, z.B. die Population geplant zu reduzieren, und damit die Umweltbelastung zu verringern, so dass z.B. der Gesamtenergieverbrauch reduziert wird, der Pro-Kopf-Verbrauch sich aber erhöht). Ich jedenfalls halte einen ständigen Fortschritt für erforderlich, um große soziale Spannungen zu vermeiden, die m. E. bei länger dauernder Stagnation oder gar bei Rückschritten in der zivilisatorischen Entwicklung auftreten würden. Explizites Ziel des Fortschritts darf dabei nicht mehr so ausschließlich wie früher sein, "dass es allen besser geht", sondern zu verhindern, dass es der Menschheit in nicht allzu ferner Zukunft zunehmend schlechter geht. Und Fortschritt, ich betone es noch einmal, heißt hier nicht größtmöglicher Güterausstoß um jeden Preis, auch nicht unbedingt größtmögliche Bedarfs- oder Bedürfnisbefriedigung, sondern sein Ziel sei die Erhaltung möglichst intelligenten Lebens auf möglichst lange Sicht mit möglichst geringem Aufwand und möglichst geringen individuellen Unlustgefühlen.

Hier wird also die erste Setzung der Ideologie, der Fortschritt, durch die zweite definiert und zugleich werden Inhalte des traditionellen Fortschrittsbegriffs aufgenommen: größere Humanität, so wie wir sie heute verstehen, ist ja ein Resultat des wissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Fortschritts und erst durch ihn möglich.

Fortschritt alter Art stößt heute an politische und natürliche Grenzen, oder diese Grenzen zeichnen sich zumindest für die Zukunft ab. Beispiele für politische Grenzen sind die zunehmenden Schwierigkeiten großer Konzerne, international flexibel zu operieren; Regierungen bemühen sich um größtmöglich Kontrolle solcher Gebilde, jeweils in ihrem Bereich, und ebenso die Gewerkschaften. Die fortschrittsadäquate Lösung, großräumig operierenden Industriekomplexen ebenso großräumig operierende Kontrollinstanzen gegenüberzustellen - also z.B. eine Europa- oder gar Weltregierung zu etablieren - scheitert am Konservatismus der Regierenden wie der Regierten. Und dieser Widerstand ist vielleicht nur zu brechen durch eine Ideologie, die ihrem Anspruch nach menschheitsumfassend ist, und für die eine Weltregierung nicht ein ideales Endziel, sondern notwendiges Teilziel eines umfassenderen Programms ist. Ein weiteres und zunehmend gravierendes Problem ist die "Wasch-mich-aber-mach-mich-nicht-nass-Einstellung", die bei unserer heutigen Struktur möglich und vielleicht auch legitim ist: natürlich brauchen wir Autobahnen, Kraftwerke, Flughäfen - aber warum gerade hier in meiner Nachbarschaft? Diese Problematik des individuellen - und zunehmend erfolgreichen - Kampfes gegen sozial notwendige (wenn auch nicht unbedingt öffentliche oder gar "soziale" im gängigen Wortsinne) Einrichtungen wird besonders deutlich und verschärft sich in Ballungsgebieten und unter der politischen Struktur eines "demokratischen Rechtsstaats" mit starker Betonung des Privateigentums. Andere politische Systeme werden sich aber irgendwann der gleichen Problematik des Ausbalancierens individueller Ansprüche und gesellschaftlicher Erfordernisse auch in diesem Bereich gegenübergestellt sehen, bzw. sind es schon jetzt. Die Fragen "Wozu Fortschritt?" und "Wieweit Fortschritt?" können nicht gelöst, sondern müssen entschieden werden. Als Grundlage solcher Entscheidungen, die natürlich nie endgültig sind, sondern immer wieder neu gefordert werden und dann für eine Zeitlang Geltung haben, scheint mir eine langfristig orientierte Ideologie zweckmäßiger als kurzfristige politische Entscheidungsprozesse mit unklaren Zielbestimmungen und evtl. häufigen Zieländerungen, bei denen dann u. U. Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen (Bau oder Nicht-Bau eines Kraftwerks z.B.) aufgrund enger lokaler Bedingungen gefällt werden. Jeweils an einem begrenzten Problem orientierte Entscheidungen ohne ein langfristiges Gesamtkonzept werden zunehmend kostspieliger werden und schwieriger durchzusetzen sein, weil ihnen die Legitimations- = Überzeugungsgrundlage fehlt. Natürliche Grenzen werden zunehmend deutlich in Rohstoffmangel und Umweltbelastung, beide verschärft auftretend durch mangelnde internationale Abstimmung.

Fortschritt kann scheinbar paradox werden: die Produktion von Gegenständen kann u. U. erheblich billiger sein als die Beseitigung der durch die Produktion entstehenden Umweltbelastung; der Sinn wissenschaftlicher Forschung kann fraglich werden angesichts des erforderlichen Aufwands (z.B. in der Nuklearforschung), hier ist wiederum ein langfristiges Orientierungssystem zweckmäßig, um über Nutzen oder Schaden zu entscheiden. Denn was uns heute aufwendig erscheint, kann morgen lebensnotwendig sein; eine Produktionsmethode, die heute billig ist, kann dennoch etwa durch größeren Verbrauch knapper Rohstoffe auf längere Sicht zu Versorgungsschwierigkeiten führen, die nur mit überproportionalem Aufwand zu beseitigen wären. Und schließlich: Fortschritt kann dazu verführen, eine Belastung der Erdressourcen mit einer Bevölkerungszahl zuzulassen, die langfristig nicht durchzuhalten ist. "Irgendwie" regelt sich zwar alles "von selbst", die Naturgesetze sind gleichgültig gegenüber menschlichen Wünschen und Leiden. Aber Ihnen, Leser, ist es doch vielleicht nicht egal, wie es in 50 oder 100 Jahren auf der Erde aussieht. Glauben Sie allerdings, der liebe Gott oder die Natur würden schon alles "in Ordnung" bringen, dann legen Sie diesen Artikel besser zur Seite, setzen Sie sich in den Wald und warten Sie auf die Sternthaler.

Mit der Forderung nach Erhaltung möglichst intelligenten Lebens auf möglichst lange Sicht drängt sich Ihnen möglicherweise die Frage nach dem "Sinn des Lebens" aus der Perspektive einer solchen Ideologie auf. Nun, ohne Zugrundelegung einer metaphysischen Gegebenheit (Gott z.B.) ist ein Sinn, eine Zweckbestimmung menschlicher Existenz, nicht möglich. Sicher gibt es sozusagen vorprogrammierte Entwicklungslinien, die sich aus dem So-Sein des Lebens und besonders der höchsten uns daraus bekannten Variation, des Menschen, ergeben. Die Höherentwicklung (wertneutral verstanden!) der Lebewesen folgt aus den in ihnen vorgegebenen Möglichkeiten im Rahmen einer bestimmten Umwelt. Aber ohne Setzung eines Gottes oder "natürlicher" Werte kann man diese Entwicklung nicht als Sinn-haltig bezeichnen. Sie ist aber ebenso wenig unsinnig. Der Sinnbegriff selbst ist aus menschlichem Handeln abgeleitet: es ist sinnlos, Wasser in den Benzintank eines Autos zu schütten, um damit zu fahren. "Sinn" ist das Ziel von Handlung oder Denken, "das Leben" als solches hat vielleicht eine Richtung, aber keinen von einer planenden Intelligenz einprogrammierten Sinn.

Sie mögen den Sinn Ihres Lebens darin sehen, gut zu sein, aber die Beurteilung einer Handlungsweise als gut oder böse erfordert Kriterien, die gesellschaftlich erarbeitet werden und oft sogar individuell differieren. Hinzu tritt die Zeitkomponente: eine Handlung, heute von allen als gut bewertet, kann morgen allen als verwerflich erscheinen. Außerdem können Sie niemals alle Ihre Handlungen, von der Wiege bis zum Grabe, auf ein Ziel ausrichten. Sinnlos bedeutet jedoch nicht grundlos: Handlungen haben ihre Ursache, auch wenn sie nicht sinnvoll auf ein Ziel hingeordnet sind. Was wäre dann, wenn der Sinn einer Handlung ihr Ziel ist, ein sinnvolles Ziel? Es wäre einfach ein Teilziel, dessen Erreichung "Sinn" hat, sich also einem anderen Ziel unterordnet.

Unsere Existenz ist also sinnlos, wir können tun was wir wollen, Ziele und Grenzen sind nur individuelle oder gesellschaftliche Setzungen. Unsere Handlungen sind ebenso wenig absolut gut, wie sie absolut böse sein können. Dieser Relativismus ist unbefriedigend, denn unsere ganze Erziehung, der ganze Überbau unserer Kultur, widersprechen. Es gäbe kein Recht mehr, das man durch fleißiges Forschen finden könnte, keine gültige - keine metaphysische gültige - Moral. Damit wäre die Gesellschaft vor die Notwendigkeit gestellt, bewusst Normen zu setzen, alle Normen bewusst zu setzen, und dabei wäre es immer unsicher, selbst unter der Voraussetzung allgemein angenommener Zielvorstellungen, ob die Aktionen zur Beeinflussung des Einzelnen zur Einhaltung dieser Normen den akzeptierten Zielen dienen.

Und doch tritt eine grundsätzliche Veränderung gegenüber der jetzigen Situation durch diese Relativierung nicht ein: Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde und, leider als Grundsatz selten postuliert, weil scheinbar als selbstverständlich vorausgesetzt, ein befriedigendes Funktionieren der sozialen Organisation sind die Ziele, an denen konkrete Normen sich orientieren, oder auf deren Einhaltung sie geprüft werden. In kommunistischen Staaten gilt der Sozialismus als Norm. Diese Begriffe werden verabsolutiert als ewige Werte oder historische Zwangsläufigkeiten; das Ringen um die situationsbezogene Auslegung wird häufig auf dieser absoluten Ebene mit Scheinargumenten geführt, hinter denen konkrete Interessen sich verstecken können. Indem wir nun von politischer Argumentation fordern, sie solle die sozialen Ziele ihrer Vorschläge konkret benennen - z.B. statt "mehr Freiheit" des Bürgers im sexuellen Bereich "Abschaffung von Normen des Sexualverhaltens, die heute für die soziale Organisation und den Beitrag des Einzelnen zur gesellschaftlich zu erbringenden Leistung überflüssig sind" - zwingen wir die Argumentation auf die Ebene prinzipieller Nachprüfbarkeit - und erstreben damit eben doch eine wesentliche Veränderung der jetzigen Situation bei politischen Diskussionen.

Unsere Ideologie setzt sich damit als eine weitere Aufgabe, gesellschaftliche Normen und politische Argumentation transparenter zu machen, als sie es bisher sind, was man auch als einen Schritt in Richtung auf mehr Demokratie verstehen kann. Aber, Vorsicht: Demokratie ist hier nicht eine Erweiterung der politischen Entscheidungsmöglichkeiten des Bürgers, sondern verbesserte Kontrollmöglichkeit, ob Maßnahmen einem auf lange Sicht akzeptierten Entscheidungsrahmen entsprechen oder nicht. Eine bewusst Ideologie-sein-wollende Ideologie kann nicht über affektive Zustimmung der Massen zu den führenden politischen Vertretern dieser Ideologie operiert werden, sondern nur durch bewusste Kontrolle, ob die praktischen Maßnahmen eben dieser politischen Führung Schritte auf dem Weg in die gewählte Richtung sind.
Im praktischen Gesetzgebungsverfahren würde das etwa bedeuten, dass zunächst eine Ist-Beschreibung gemacht wird. Bei der Strafgesetzgebung betr. z.B. die Tötungsdelikte könnte das etwa so aussehen:

Ist: "Soundsoviele Menschen werden absichtlich von anderen Menschen pro Jahr getötet" (diese Aussage wäre statistisch detaillierter aufzugliedern).
Dann die Norm: Solche Tötungen stören die soziale Organisation (u. a. weil sie die Bürger verunsichern) und sind daher, soweit mit vertretbarem Aufwand möglich, zu verhindern.
Evtl. Ausnahmen angeben: gibt es willentliche Tötungen, die nicht sozialschädlich sind Sterbehilfe?)?
Vorbeugende Maßnahmen ergreifen: medizinische Behandlung potentieller Täter, Veränderung sozialer Bedingungen in besonders gefährdeten Gebieten, Abschreckung durch Strafen. Zur Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten kann es wünschenswert sein, z.B. die Strafen regional oder nach Täterkreis oder sogar nach Opfern zu differenzieren: das Ziel ist ja nicht mehr, Täter zu bestrafen, um der "Gerechtigkeit" Genüge zu tun, sondern eine Minimierung der willentlichen, sozialschädlichen Tötungen und eine Kontrolle, durch welche Maßnahmen dieses Ziel am besten erreicht werden kann.

Natürlich wird dieser praktische Gesichtspunkt auch bei uns jetzt schon beachtet, wenn auch verborgen unter einem Wust von Gerechtigkeitsideologie. Aber wenn die Zahl der Flugzeugentführungen steigt, oder der Drogenmissbrauch, werden die Strafen erhöht. Ebenso wird im Strafverfahren die Täterpersönlichkeit berücksichtigt, aber lediglich unter einem individuellen Gesichtspunkt. Stattdessen sollte eine sozialrationale Fragestellung lauten: wie reagiert diese oder jene Klasse potentieller Täter, wenn ich ein überführtes Mitglied dieser Klasse - sie mag wirtschaftlich oder nach Bildungsstand oder nach anderen gemeinsamen Merkmalen definiert sein - in dieser oder jener Weise strafe? Wenn sich dabei herausstellt, dass der Affekttäter auf die Drohung mit Todesstrafe - statistisch gesehen - nicht reagiert, der Berufsgangster aber sehr wohl, oder der Akademiker reagiert, der Volksschüler nicht, kann die Gesetzgebung entsprechend differenziert werden. Was uns jetzt als schreiende Ungerechtigkeit erscheinen mag - den Mörder X anders zu verurteilen als den Mörder Y, nur weil beide aus einer anderen Klasse potentieller Täter kommen - wäre dann selbstverständlich aufgrund der ausschließlichen Zielsetzung des Gesetzes, die Zahl der Tötungen zu minimieren; ebenso selbstverständlich wie heute unterschiedliche Prämien in der Kfz-Haftpflichtversicherung z.B. für bestimmte Regionen oder Berufsgruppen.
Damit ist natürlich keine endgültige Lösung des Problems erreicht: die Zahl der möglichen Faktoren, die einen Straftäter formen und in seine Tat eingehen, ist zu groß, um sie ganz zweifelsfrei isolieren zu können; hier ist also der Auseinandersetzung verschiedener Meinungen weiterhin Raum gegeben, ebenso in der Frage, was ein vertretbarer Aufwand sei: wie viele Polizisten oder Psychiater sollen eingestellt werden? Verändert, rationalisiert, hat sich aber die Zielsetzung: von mittelalterlichen Rachefeldzügen über eine scheinbar ewige Rechtsordnung hin zur Funktionalisierung des "Straf"rechts auf Individual- und Generalprävention. Der jeweilige Vorrang ergäbe sich aus der Zielsetzung des Gesetzes, nicht aus einem Postulat, etwa der "Menschenwürde", die in ihrer gegenwärtigen Ausrichtung allein auf die Behandlung des Täters abstellt und die "Würde" anderer potentieller Opfer - und auch Täter - völlig ausklammert.

Ein Ansatz zu einer rationalen Erfolgskontrolle politischen Handelns ist derzeit bei uns z.B. der Subventionsbericht, den die Bundesregierung vorlegen muss. Ziel der hier vorgetragenen Ideologie ist es aber, dieses System von: Problemfeststellung - Problembehandlung - Erfolgskontrolle möglichst umfassend anzuwenden und bewusst als Prinzip politischen Handelns zu institutionalisieren. Evtl. ist es dazu erforderlich, die Erfolgskontrolle einer besonderen Organisation z.B. nach Art des Bundesrechnungshofs zu übertragen. Dem Parlament verbleibt die Bewertung der Resultate. Eine genaue Kontrolle in der o. a. Art kann es nicht leisten, sie liegt auch nicht in seinem Aufgabenbereich, weil es hier ja um Datenerfassung geht und um die Einordnung dieser Daten nach vorgegebenen Kriterien.

Das hier für das Strafrecht näher ausgeführte System bedeutet einen Fortschritt, weil es Quantifizierung gesellschaftlicher Daten anstrebt und somit einer exakten Sozialwissenschaft ein stärkeres Gewicht bei politischen Entscheidungen und bei der Kontrolle ihrer Auswirkungen sichert. Somit ist es eine Konkretion einer der beiden Grundforderungen unserer Ideologie: den Fortschritt zu fördern. Politisches Handeln wird bewusster, transparenter und rationeller, eine Höherentwicklung, aber nicht Schritte auf ein absolutes Endziel."


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- "to be continued" –

lautete der optimistische Schlusssatz meines Papiers.
In einem gewissen Sinn habe ich die vorliegende Arbeit tatsächlich fortgeführt: in verschiedenen Webseitenaufsätzen und Blotts. Natürlich nicht im Sinne einer Lösung. Die Zielsetzung einer Etablierung einer bewussten Ideologie quasi im Konsens entspricht dem Versuch einer Quadratur des Kreises. Eine quasi "lineare" Fortführung meiner Gedankengänge war mir deshalb nicht möglich.
Und ganz so optimistisch rationalistisch wie damals bin ich heute auch nicht mehr. Gleichwohl kann ich mich auch heute noch recht weitgehend mit dem obigen Aufsatz identifizieren bzw. entdecke ich darin viele Themenfäden wieder – Menschheit, Rationalität, Umwelt – die immer noch eine wesentliche Rolle in meiner "Weltdenke" spielen.


Die Idee, eine "künstliche" Ideologie in die Welt zu setzen (d. h. eine Ideologie, welche sich ihres -relativ- willkürlichen Charakters, ihrer "Geschaffenheit", bewusst ist), mag als skuriler Spleen einer spätpubertären Jünglingsfantasie erscheinen.
Indes begegnete sie mir vor einiger Zeit wieder im Werk des US-amerikanischen Philosoph (man müsste ihn wohl als Kulturphilosoph oder Sozialphilosoph bezeichnen) Tom Bridges, seinerzeit Professor an der Montclair State University. Seine frühere Webseite www.civsoc.com ("civsoc" steht für sein Arbeitsgebiet "civil society") ist nicht mehr online; auf der Universitäts-Webseite ist er zwar in der Liste der Fakutltätsangehörigen noch aufgeführt, der Link zu seiner (Uni-)"Homepage" ist jedoch nicht mehr aktiv.
Zum Glück gibt es indes das großartige Internet-Archiv "Waybackmachine", das den Surfer (sofern er die alte URL kennt) weit zurück in die Vergangenheit trägt.
Professor Tom Bridges beschreibt in seinem "ESSAY 2: The Rhetorical Analysis of Civic Culture" [hier Teil 1] die bürgerlich-liberale Kultur als Produkt einer Ideologie, die von Denkern wie Kant und Locke entwickelt wurde. Diese selbst hätten zwar [ebenso wie zweifellos Karl Marx] an die absolute Richtigkeit ihrer Überzeugungen geglaubt. Tatsächlich sei aber ihr Denken als Teil einer (unbewusst) interessengeleiteten rhetorischen Strategie zu verstehen. Nachdem heute der Ideologiecharakter des liberaldemokratischen Denkens erkannt sei, stünden wir vor dem "project of inventing a viable postmodern, post-Enlightenment civic culture" schreibt er im 2. Teil des Essays u. d. T. "Theoretical discourse as a rhetorical strategy". [Hervorhebung von mir; die Zuordnung der Essays ist etwas unklar, weil in der Waybackmachine das, was ich seinerzeit als 2. Teil der "Rhetorical Analysis ..." gespeichert hatte, unter dem Obertitel "ESSAY 2: The Anti-Rhetorical Rhetoric of Pure Theory" erscheint. Inhaltlich ist der Text -zumindest jedenfalls die zitierte Passage- jedoch identisch.]
Im übrigen empfehle ich allen, die Zeit und einschlägiges Interesse haben, eine Lektüre von Bridges Aufsätzen, die über seine in der Waybackmachine noch präsente Homepage weiterhin erreichbar sind.
Auf meine Mail-Anfrage an die Uni nach dem Schicksal von Mr. Bridges habe ich eine prompte Antwort erhalten:
"Tom passed away a number of years ago. He is missed by many".
Leider kann ich im Weltnetz keinen Nachruf (obituary) entdecken. Falls eine(r) meiner Leser(innen) Näheres über die Lebensdaten usw. von Prof. Bridges weiß, wäre ich für einen entsprechenden Hinweis dankbar.


Textstand vom 14.08.2019

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