Mittwoch, 10. Juni 2009

In Russland droht ein Sack Reis umzufallen: ICH erwarte scharfen Protest des deutschen Bundestages. Aber IHNEN ist Industriehai Chodorkowski ja egal!


Bislang wollte ich es nicht glauben, was die SPD im Europa-Wahlkampf insinuiert hatte: dass nämlich die FDP die Finanzhaie unterstützt. Jetzt aber habe ich die Liberalen in flagranti erwischt.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger heult diesmal nicht gegen den Großen Lauschangriff, sondern für den russischen Industrie-Wolf Michail Borissowitsch Chodorkowski (s. u.).

Der hat sich bei der politischen Führungsschicht in Russland unbeliebt gemacht und wird deshalb (an diesem Kausalzusammenhang habe ich gar keinen Zweifel) strafrechtlich verfolgt. In dem englischsprachigen Wikipedia-Eintrag über Mikhail Borisovich Khodorkovsky wird dazu eine Stellungnahme des US-Außenministeriums angeführt, die auch aus meiner Sicht den Sachverhalt so darstellt, wie er ist:
"The U.S. State Department said the arrest "raised a number of concerns over the arbitrary use of the judicial system" and was likely to be very damaging to foreign investment in Russia, as it appeared there were "selective" prosecutions occurring against Yukos officials but not against others."

Nur: eine Lichtgestalt kann der russische Oligarch Michael Chodorkowski zumindest nicht immer in seinem Leben gewesen sein: sonst hätte er sich nicht in der Transformationsperiode der russischen Wirtschaft vom Staatskapitalismus den Ölkonzern JUKOS (engl. YUKOS) unter den Nagel reißen können.

Daher finde ich es einigermaßen überraschend, dass DIE GRÜNEN einen Entwurf für eine gemeinsame Entschließung des deutschen Bundestages zum Prozess gegen den russischen Unternehmer Michail Chodorkowski eingebracht haben. Und dass sie von CDU und FDP unterstützt werden. Vor allem erscheint es mir politisch ausgesprochen unintelligent. Deutsche Interessen vertritt man auf diese Weise ganz gewiss nicht. Wollen die CDU und FDP als Gefolgsleute der Banknotendruckmacht USA Deutschland in eine Konfrontation mit der Rohstoffmacht Russland hetzen? (Die geistesgroßen Grünen kommen ja eh' ohne Energie-Rohstoffe aus!)

"Die FDP-Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wird noch deutlicher: „Dass sich die SPD mit der Unterstützung von Herrn Chodorkowski so schwertut, ist ein Armutszeugnis" heißt es in dem ZEIT-Artikel "Prozess. Testfall Chodorkowski" vom 10.6.2009.
Zugegeben: der Bundestag hat sich, bereits im Januar 2006, auch kritisch über das US-Gefangenenlager Guantanamo geäußert.

Einäugigkeit kann man den Abgeordneten also nicht vorwerfen. Außenpolitische Weisheit aber auch nicht - jedenfalls der Mehrheit nicht. Anders dagegen die SPD. Über deren Stellung berichtet Claudia von Salzen in dem o. a. ZEIT ONLINE-Bericht vom 10.6.2009 unter der Überschrift "Prozess. Testfall Chodorkowski":
"Die Große Koalition kann sich nicht auf eine gemeinsame Erklärung zum Prozess gegen Unternehmer in Russland einigen. .....
Ein von den Grünen verfasster Entwurf fand Zustimmung bei der Union und der FDP. Die Sozialdemokraten legten dagegen einen eigenen, allgemeineren Entwurf vor, in dem der Fall Chodorkowski nicht mehr im Mittelpunkt steht. In dem Entwurf der Grünen wird nun die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass auch diesmal „ein strafrechtlicher Prozess für politische Ziele genutzt wird“. Wesentliche Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit würden in Russland „nicht oder ungenügend beachtet“, heißt es in dem Entwurf. „Trotz einiger Fortschritte gibt es weiter besorgniserregende Entwicklungen.“ Derart deutliche Kritik fehlt dagegen im Entwurf der SPD, der dem Tagesspiegel vorliegt. Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit gebe es „positive und negative Trends“, heißt es darin. Die Sozialdemokraten sehen das Verfahren zwar ähnlich wie die Grünen als „Testfall“ für die Glaubwürdigkeit der russischen Justiz. Allerdings gibt es im SPD-Entwurf den Zusatz, der Respekt vor der Unabhängigkeit der russischen Justiz gebiete es, den Prozessverlauf und die Entscheidung des Gerichts abzuwarten. Mit dieser Formulierung sind nicht alle SPD-Außenpolitiker einverstanden: Er sei „nicht glücklich“ mit diesem Satz, betonte der Bundestagsabgeordnete Markus Meckel, der am Montag in Moskau den Chodorkowski-Prozess beobachtet hat
."

Sicherlich liegt es auch in unserem Interesse, unsere Lebensform, und nicht zuletzt auch unsere rechtlichen Standards, auch in jenen Staaten der Welt zu verbreiten, bei denen die Unabhängigkeit der Justiz nur mangelhaft ausgeprägt ist.

Da muss man freilich nicht bis nach Russland laufen, sondern mag zunächst einmal im eigenen europäischen Haus aufräumen. Ich habe jedenfalls nicht vernommen, dass der Bundestag eine Entschließung gegen die skandalösen Manipulationen beschlossen hätte, mit denen der italienische Ministerpräsident die italienischen Strafverfolgungsbehörden an der Untersuchung seiner Taten gehindert hat. Allerdings ging es dabei nicht um eine politisch motivierte Verfolgung Unschuldiger, sondern um die Verhinderung der Verfolgung eines (nach meiner Einschätzung) Schuldigen.

Unschuldige werden dagegen mitten in Deutschland verfolgt, im Frankfurt des Hessen-Kochs. Finanzbeamte, die mit preußischer Pflichttreue gegen Steuerhinterziehung durch Banken ermittelten, wurden dort mit den übelsten Methoden ins Abseits gestellt. Mehr darüber erfährt der oder die Interessierte z. B. in dem ausführlichen Stern-Bericht (Heft 51/2008) "Eiskalt abserviert" von Frauke Hunfeld:
"Als Ermittler holten sie für den Staat Millionen, auch bei den großen Banken. Doch plötzlich war Schluss. Plötzlich störten sie die Geschäfte und wurden als Querulanten aus dem Dienst gemobbt. Die Geschichte von Rudolf Schmenger und seinen Kollegen von der Steuerfahndung Frankfurt, die jetzt auf Gerechtigkeit hoffen. ...
Rudolf Schmenger, 47, zuletzt Amtsrat. Er wehrte sich gegen das Aus - und wurde per Gutachten für verrückt erklärt
."
Oder im Handelsblatt-Artikel "Rudolf Schmenger und Frank Wehrheim. Ausgezeichnete Verräter" von Jan Keuchel (07.05.09):
"Zwei Steuerfahnder prangerten Missstände an und verloren ihren Job. Nun werden sie mit dem Preis "Whistleblower 2009" geehrt."

Darüber sollte der Bundestag debattieren, anstatt Russland anzupinkeln, weil die einen (vermutlich) Wirtschaftsverbrecher (wenn auch aus politischen Motiven) verfolgen.
Oder auch über das Mobbing gegen die Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen. Über diesen Fall politisch motivierter Eingriffe in die Strafverfolgungsbehörden informiert uns z. B. der FTD-Bericht (15.12.08) "Agenda. Dossier. Staatsanwältin im Krieg" von Jens Brambusch:
"Sie hat Post-Chef Klaus Zumwinkel verhaften lassen - nun soll kurz vor Beginn des Prozesses Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen strafversetzt werden. Der Steuerfall des Jahres verkommt zu einem Schmierenstück aus Mobbing und Intrigen."

Alternativ - oder ergänzend - könnte das Hohe Haus sich auch mal mit dem Bekanntenkreis des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger beschäftigen, nämlich seine Beziehung zu dem mutmaßlichen Mafioso Mario L.
Dazu staunen wir im Stern vom 3.4.08:
"Buchauszug. Oettinger und der Pizzabäcker", © Michael Latz/DDP
"Der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger und sein tiefer Sinn für Freundschaft: Stoff für einen Bestseller. .....
"Wir können alles", rühmen sich die Baden-Württemberger. Tatsächlich verstehen sie sich auch auf "Filz, Korruption & Kumpanei". stern.de veröffentlicht einen Auszug aus dem gleichnamigen Buch - über die denkwürdige Freundschaft von Ministerpräsident Günther Oettinger zu Pizzeriawirt Mario L.
Der Stuttgarter Pizza-Wirt war zwar bei einem Mafia-Prozess im Jahr 1999 freigesprochen worden. Doch das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) verzeichnete ihn im Jahr 2000 nach wie vor als Mitglied des 'Ndrangheta-Clans "Greco", wie aus Unterlagen der Behörde hervorgeht. Beim besagten Austausch italienischer und deutscher Fahnder blieb es nicht beim Thema Mario. Plötzlich, wie aus heiterem Stuttgarter Himmel, kam die Rede auch auf Günther Oettinger. Und da passierte es: Was seine Rolle in der damaligen Sache angehe, da sei in Deutschland einiges vermauschelt worden, wurde doch tatsächlich behauptet. Bei ihnen in Italien, so fabulierten italienische Ermittler wäre Oettinger nicht Ministerpräsident geworden, sondern hätte eher juristische Probleme bekommen, wegen eines Verdachts, der bei ihnen zu Ermittlungen führen würde - nämlich "favoreggiamento", Begünstigung. Die italienischen Ermittler verwiesen darauf, dass dieser Verdacht in ihrem Heimatland auch schriftlich fixiert wurde - noch im Jahr 2005.
"

"Es gibt viel Mist in Deutschland: machen wir einen Bogen drum herum - und zeigen mit dem Finger auf Russland" - ist das die Devise der deutschen Bourgeoisie (die GRÜNEN zähle ich definitiv ebenfalls zu dieser Klasse).
Da passt es irgendwie, wenn ich bei der Wikipedia-Suche nach "Oligarchie" auf das Stichwort "Ehernes Gesetz der Oligarchie" stoße:
"Das Eherne Gesetz der Oligarchie (ehern: gehobenes Deutsch für „aus Erz“ [Eisen] im Sinne von „hart, ewig während“ [„Eisernes Gesetz“]; Oligarchie: griechisch für „Herrschaft Weniger“) ist eine 1911 vorgelegte politische Theorie zur innerparteilichen Demokratie des deutsch-italienischen Soziologen Robert Michels (1876-1936). Die Theorie geht davon aus, dass Führungsgruppen in Organisationen zwangsläufig zunehmend an den eigenen Interessen (persönliche Privilegien, Sicherung der Organisation) interessiert seien, als an den Zielen, Interessen und dem Willen der Gruppe selbst (Verselbstständigung der Führung). Sie versuchten nach Michels, die soziale Basis (Massen) zu bestimmen (Parteidisziplin), auch dann, wenn die herrschende Weltanschauung dieser Gruppierungen das Gegenteil anziele. Michels baute auf Arbeiten Gaetano Moscas (Politische Klasse) auf."
Oder in der englischsprachigen Wikipedia den entsprechenden Eintrag "Iron law of oligarchy":
"The iron law of oligarchy is a political theory, first developed by the German syndicalist sociologist Robert Michels in his 1911 book, Political Parties. It states that all forms of organization, regardless of how democratic or autocratic they may be at the start, will eventually and inevitably develop into oligarchies. The reasons for this are the technical indispensability of leadership, the tendency of the leaders to organize themselves and to consolidate their interests; the gratitude of the led towards the leaders, and the general immobility and passivity of the masses. ...
Robert Michels was disturbed to find that, paradoxically, the socialist parties of Europe, despite their democratic ideology and provisions for mass participation, seemed to be dominated by their leaders, just like the traditional conservative parties.
Studying political parties, he concluded that the problem lay in the very nature of organizations. Modern democracy allowed the formation of organizations such as political parties, but as such organizations grew in complexity, they paradoxically became less and less democratic. Michels formulated the "Iron Law of Oligarchy": "Who says organization, says oligarchy." ...
At the time Michels formulated his Law, he was an anarcho-syndicalist. He later became an important ideologue of Benito Mussolini's fascist regime in Italy.
"

Lassen wir es nicht zu, dass unsere Oligarchen uns mit Einsätzen für dubiose Gestalten wie den Herrn Michail Borissowitsch Chodorkowski, oder auch gegen die unerquicklichen Methoden der Chinesen zur Gewinnung von Bärengalle, von unseren Problemen abzulenken versuchen.
Wenigstens (bzw. aus anderer Perspektive betrachtet: leider nur) die SPD hat begriffen, dass es nicht im wohlverstandenen deutschen Interesse liegt, das Verhältnis zu Russland wegen solcher Figuren zu belasten.

Was ich in meinem Bärengallen-Blott schrieb, passt auch hier:
"Comity, Höflichkeit und Rücksichtnahme zwischen Nationen und Kulturen, auf der juristischen wie auf anderen Ebenen – was das bedeutet, müssen vielleicht nicht nur die anderen lernen!"


Nachtrag 15.10.2010
Angela Merkel hat es nun auch gemerkt: dass Russland eine Rohstoff-Großmacht ist (die man besser nicht vergrätzt). Am 14.10.10 berichtete die WELT: "Globalisierung. Merkel will Rohstoffe für Deutschland sichern":
"China kauft derzeit den Rohstoffmarkt leer. Nun will Bundeskanzlerin Angela Merkel gegensteuern – und vor allem Russland an Deutschland binden."

Textstand vom 15.10.2010

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