Montag, 9. Mai 2005

Der größte Fehler in der Menschheitsgeschichte?


Unter diesem Titel, auf Englisch natürlich (The Worst Mistake in the History of the Human Race) hat der Biologe, Physiologe, Geograph und Polyhistor Jared Diamond (Wikipedia-Einträge: dt. = http://de.wikipedia.org/wiki/Jared_Diamond bzw. engl. = http://en.wikipedia.org/wiki/Jared_Diamond) einen Aufsatz verfasst (http://www.awok.org/Essays/DiamondWorstMistake).

Das zwar schon anno 1987, aber für mich und mein Weltbild über die Menschheitsentwicklung sind die darin enthaltenen Informationen (vorausgesetzt, sie treffen zu) doch recht neuartig. Lassen wir seine Meinungsäußerung betr. Fehlentwicklung der Menschheitsgeschichte ("Mistake") mal beiseite, dann ist es für den Normalbürger wohl recht überraschend zu lesen, dass das Leben der Menschen in den Jäger- und Sammlergesellschaften (http://de.wikipedia.org/wiki/Jäger_und_Sammler) bzw. engl. Hunter-gatherers (http://en.wikipedia.org/wiki/Hunter-gatherer) durchaus angenehmer gewesen sein soll als in den Agrargesellschaften, die wir uns als Fortschritt anzusehen gewöhnt haben.

D. h. hier muss ich schon präzisieren: als Fortschritt zu einem besseren Leben. Denn ich selbst verstehe den Begriff Fortschritt in der Menschheitsgeschichte (wie in der Entwicklung des Lebens überhaupt) wertfrei als eine Entwicklung zu größerer Komplexität: des Gehirns, der Gesellschaft, der Organisation, des Wissens usw. Zwar glaube ich durchaus, dass es uns besser geht als den Menschen vor 100 oder gar 200 Jahren: wir leben länger, gleichen unsere Sehschwäche durch Brillen aus und lassen die Zähne unter Betäubung ziehen (nur gegen den Haarausfall gibt's noch nichts Vernünftiges). Nicht nur am Sonntag können die meisten von uns, wenn sie denn wollen, ein Huhn im Topf haben. Trotzdem scheint mir die Vorstellung, dass es uns ständig besser gehen wird, wenn wir uns nur mehr "in die Riemen legen" eher eine imaginierte Karotte im großen Hasenrennen des Lebens zu sein; "Fortschritt" in diesem Sinn nur gewissermaßen ein "Abfallprodukt" (oder jedenfalls nur ein Nebenprodukt) des Fort-Schreitens in einer wertfreien Entwicklungs- oder Entfaltungsdimension.
Wobei der Begriff "Entfaltung" natürlich suggeriert, dass ein solches Vorangehen in uns - oder im Leben überhaupt - schon angelegt ist - Entelechie, Teleologie. Also lassen wir es lieber bei dem, was wir historisch beobachten können, der "Entwicklung" nämlich.

Nicht, dass ich gegen den Fortschritt wäre: im Fort-Schreiten sehe ich überhaupt den einzigen Sinn - nein, das ist ein falscher Begriff, weil einen Sinn-Geber voraussetzend - das einzig erkennbare Prinzip des Seins. Aber zurück zu Diamond. Der weist darauf hin, dass die Jäger und Sammler weniger gearbeitet und mehr geschlafen haben. Sie sollen besser - vielseitiger - ernährt gewesen sein und deshalb, sowie wegen der geringeren Bevölkerungsdichte (verminderte Ansteckungsgefahr, keine Epidemien) sogar länger gelebt haben.

Eine knappe Bestätigung finde ich in dem Wikipedia-Eintrag zur Stichwort "Agrargeschichte" (http://de.wikipedia.org/wiki/Agrargeschichte), wo es u. a. heißt:
"Weil landwirtschaftliche Tätigkeiten meist mühsamer sind als das vom Menschen zuvor bevorzugte Jagen und Sammeln, liegt die Vermutung nahe, dass die erworbene Sesshaftigkeit und der Beginn der Landwirtschaft nicht freiwillig erfolgten. Wahrscheinlich dürften die Gründe in der Klimaänderung ebenso gelegen haben wie in dem Bevölkerungswachstum."
[Das Stichwort "Agriculture" in der englischsprachigen Wikipedia -http://en.wikipedia.org/wiki/Agriculture#History - führt dazu nur aus "The reasons for the earliest introduction of farming may have included climate change, but possibly also social reasons (e.g. accumulation of food surplus for competitive gift-giving)."

Diamond meint, dass "recent discoveries suggest that the adoption of agriculture, supposedly our most decisive step toward a better life, was in many ways a catastrophe from which we have never recovered. With agriculture came the gross social and sexual inequality, the disease and despotism, that curse our existence."
Und später:
"With the advent of agriculture an elite became better off, but most people became worse off"
woraus er die Forderung ableitet
"Instead of swallowing the progressivist party line that we chose agriculture because it was good for us, we must ask how we got trapped by it despite its pitfalls."

Seine Erklärung für den nach seiner Meinung nach der Lebensqualität abträglichen Schritt in der Menschheitsentwicklung ist die Bevölkerungszunahme, wodurch die sesshaft gewordenen Stämme quantitativ den Jägern und Sammlern überlegen waren und diese verdrängt haben:

"As population densities of hunter-gatherers slowly rose at the end of the ice ages, bands had to choose between feeding more mouths by taking the first steps toward agriculture, or else finding ways to limit growth. Some bands chose the former solution, unable to anticipate the evils of farming, and seduced by the transient abundance they enjoyed until population growth caught up with increased food production. Such bands outbred and then drove off or killed the bands that chose to remain hunter-gatherers, because a hundred malnourished farmers can still outfight one healthy hunter. It's not that hunter-gatherers abandoned their life style, but that those sensible enough not to abandon it were forced out of all areas except the ones farmers didn't want. "

Trotz allem werte ich die Sesshaftwerdung und die Einführung der Landwirtschaft als einen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte; auch wenn es den Anschein hat, dass unser jüngster "Großer Sprung nach vorn" - der in die Industriegesellschaft - der letzte Sprung der Menschheit war (falls wir nicht bald anfangen, den Weltraum zu kolonisieren).
Bentham-Jünger jedenfalls bin ich schon lange nicht mehr. Das "größte Glück der größten Zahl" (greatest happiness of the greatest number) - das ist als Kulturphilosophie denn doch etwas zu dünn.


Nachtrag vom 20.11.05:
Eine gewisse Susanna Viljanen hat in ihrem Kommentar vom 09.11.05 in dem (nach flüchtiger Durchsicht auch ansonsten außerordentlich interessanten) Blog eines gewissen Jason Godeski (http://anthropik.com/2005/03/the-worst-mistake-in-the-history-of-the-human-race/#comment-2951) Diamonds Vorstellung vom (mehr oder weniger) "glücklichen Wilden" einer scharfen Kritik unterzogen und sieht starke Parallelen zwischen der Geisteshaltung der Jäger und Sammler und jener der Schizophrenen. Letztlich kann ich nicht beurteilen, welche Meinung besser fundiert ist, doch scheinen mir die Argumente von Frau Viljanen beachtenswert zu sein.


Nachtrag 25.03.07:
Auf verschlungen Klick-Pfaden stoße ich bei der Beschäftigung mit dem Buch "Das Ende des Weißen Mannes" von Manfred Pohl (das ich mittlerweile -05/2007- sehr extensiv rezensiert oder be-bloggt habe) auf den Aufsatz "Myth of the Hunter-Gatherer" von KENNETH M. AMES, Professor für Anthropologie an der Portland State University. [Bei der Wiedergabe auf der Webseite des "Mesa Community College" ("We request that any such use of these materials name Richard Effland and Mesa Community College (Maricopa Community College District) as the original source for these materials") haben sich einige Druckfehler eingeschlichen, die aber letztlich die Lesbarkeit nicht entscheidend beeinträchtigen.]
Ames führt im Detail aus, dass die Frage nach den Lebensumständen der Jäger und Sammler sehr viel differenzierter zu sehen ist, als z. B. Jared Diamond das tut:
"The discovery of complex hunter-gatherers, a kind of society and economy now virtually extinct, is one of the major archaeological advances of the last two decades. As a discovery it is not widely appreciated, but it shows us that the range of human social and economic organization was much greater in the past than we had once thought. And it forces us to rethink fundamental questions, such as why plants and animals were domesticated and why inequality developed in human society." [Hervorhebung von mir]


Nachtrag 26.06.08:
Frau Rochelle Forrester aus Neuseeland ist als (ehemalige?) Leiterin einer Pseudo-Universität ("Newlands University Ltd.") eine etwas dubiose Figur (mehr dazu in einem Nachtrag von heute zu meinem Blott "Inventions, Science and Technology in the Muslim World"). Dennoch erscheinen mir ihre Aufsätze zur Technikgeschichte usw. auf ihren beiden Webseiten recht solide Informationen zu liefern und ihre Überlegungen zum kulturellen Wandel durchaus durchdacht zu sein. Diese Aufsätze (hier hat sie noch sehr viel mehr eingestellt) kreisen um Überlegungen, auf welche Weise es zum Fortschritt in menschlichen Gesellschaften kommt ("This site deals with various matters concerning history, philosophy, quantum physics, anthropology and sociology. ... The first question concerns the causes of historical change or at least certain types of historical change. It deals with historical social and cultural change and as such involves issues in sociology and macrosociology concerning social change and in anthropology concerning the evolution of cultures"). Für den vorliegenden Zusammenhang ist ihr Aufsatz "The Discovery of Agriculture" von Belang, weil sie dort u. a. schwerwiegende Argumente gegen eine Gleichsetzung von zeitgenössischen Jäger- und Sammlerkulturen (deren Situation die Grundlage für die von u. a. auch von Diamond angenommene bessere existenzielle Situation dieser Gesellschaften im Vergleich zu Agargesellschaften darstellt) mit deren Lage von 10.000 Jahren im Zeitpunkt des Übergangs der Menschheit zu Ackerbau und Viehzucht. Zitat: "The true test of how people live is not their average or good years but how well they survive in their bad years, as there is little value in having a number of good or average years if they are followed by a single bad year that causes half the band to die of starvation. In these circumstances it seems hardly likely that studies of modern hunter-gatherers will give much idea as to how prehistoric hunter-gatherers lived."


Nachträge 20.03.2010

Gelesen habe ich das Buch nicht, nur heute, bei Karstadt in Frankfurt, mal kurz drin geblättert: "Warum die Menschen sesshaft wurden: Das größte Rätsel unserer Geschichte". Darin erklärt (wie ich u. a. den Amazon-Kundenrezensionen entnehme) der Münchener Biologe Josef H. Reichholf, dass Alkohol oder andere Rauschmittel der Grund für die Menschen waren, sesshaft zu werden. Die These ist zweifellos originell; ihr Autor ist allerdings nicht ganz unumstritten und wenn ich den Zeit-Artikel "Alles fließt – sogar zum Guten" über sein Buch "Die falschen Propheten" lese, kann ich das gut verstehen. Auch die Amazon-Kundenrezensionen werten Reichholf sehr unterschiedlich.
Weitere Rezensionen seines hier interessierenden Buches z. B.:
"Ein geistvolles Vergnügen".
Sehr interessant dürfte der einschlägige Eintrag vom 21.12.09 im (deutschsprachigen) "Scienceblog" sein, insbesondere wegen der sehr zahlreichen und mutmaßlich sachkundigen Kommentare (von denen ich nur den ersten überflogen habe, der allerdings schon kritisch war).
Ein längerer Textauszug ist bei "Litrix" online; dort auch eine Rezension.
Ein Video mit Prof. Dr. Reichholf gibts bei "Videogold".
Auch der Österreichische Rundfunk hat das Buch besprochen.
Die FAZ titelte ihre Besprechung mit "Mobilität macht durstig".
Die Welt meint "Am Anfang war das Bier – und nicht der Hunger".
Sogar in die Hallen des Hessischen Rundfunks ist Reichholfs Ruhm gedrungen.


Nachtrag 10.03.11Zur Sesshaftwerdung in der Steinzeit vgl. auch den heutigen Handelsblatt-Artikel "Ackern, ohne satt zu werden".


Nachtrag 24.06.2012
Vgl. auch die Artikel-Linksammlung zum Thema "Neolithische Revolution" im Spektrum der Wissenschaft.


Textstand vom 16.06.2023

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen