Sonntag, 27. Januar 2008

"Wer hat uns den Kupfertiefdruck gestohlen" oder "Doch kein Fortschritt für die Menschheit"?

In meinem Blott "Fortschritt – real oder imaginär? Zum Essay "Die Fortschrittsillusion" von Prof. Eckart Voland" hatte ich gegen Voland polemisiert, weil dieser den Fortschritt zur Illusion erklärt. In einem lebensweltlichen Sinne freilich finde ich selbst des öfteren Gründe, am Fortschritt zu zweifeln. So z. B., wenn gute und/oder preiswerte Produkte vom Markt verschwinden, wenn die Verschlussclips an den Brotbeuteln wieder einmal verkürzt wurden, so dass man sie kaum noch verschließen kann, wenn Parfums zu Geruchsbelästigungen werden oder wenn wir mit der Bahn fahren: verglichen mit den schönen alten 6-er Abteilen (auch in der 2. Klasse!) mit klappbaren Armlehnen zwischen den Sitzen, klappbaren Tischchen, individuellen Leselämpchen und ausziehbaren Sitzen zum Schlafen (und damals selbstverstständlich auch mit einer Toilette in jedem Waggon) wurden die heutigen Personentransportwaggons schon eher in Richtung Viehtransporter weiterentwickelt. (Vieh kann man eng zusammenpacken und und Vieh kann auch auf den Boden pinkeln, wenn die Toilette/n im ganzen Zug defekt ist/sind.) Aber natürlich lassen sich immer auch Gegenbeispiele anführen: wer hätte es sich damals "anno Bundesbahn", leisten können, nach Amerika zu fliegen? Und für alles Geld der Welt hätte damals kein Mensch einen Computer kaufen können, um sein jeweils individuelles "stultifera navis " vom Stapel und auf die Kommunikationsmeere der Welt los zu lassen. Im Bereich der Drucktechnik ist der Fortschritt in den Fernen Osten emigriert. Dort ist man in der Lage, herrliche hyperrealistische Farb-Bildbände zu drucken, wie ich sie aus europäischer Produktion noch nie gesehen habe. In der Alten Welt ist das Volk offenbar zufrieden mit minderwertiger, körniger Druckqualität. Insbesondere beklagte ich aber den Verlust einer schwarz-weiß Drucktechnik, die ihren Höhepunkt anscheinend zwischen den beiden Weltkriegen hatte, aber auch nachher noch zur Anwendung kam.

Sie erlaubt die Wiedergabe feinster tonaler Abstufungen erlaubt und lässt Bildgegenstände außerordentlich plastisch erscheinen: der Kupfertiefdruck. Auch die mit dieser Technik gedruckten Bilder wirken (bei entsprechender Qualität der Vorlage und der Ausführung) insofern gewissermaßen hyperrealistisch, als Gegenstände (z. B. Architekturdetails, Münzen, Skulpturen usw.) sehr detailreich wiedergegeben werden und dadurch ungeheuer plastisch erscheinen können (vgl. etwa für die -z. T. sogar stark vergrößerte- Druckwiedergabe von Medailenprägungen den Bildband "Repräsentanten der Renaissance", erschienen 1952 im Phaidon-Verlag in London). Kupfertiefdruck-Bildbände wurden zwischen den Kriegen in teilweise hohen Auflagen verkauft; von Kurt Hielschers Italien-Band (im Atlasformat) wurden mindestens 60.000 Exemplare gedruckt. Bei einzelnen Bildern ist die Druckqualität zwar suboptimal, weil sich die Druckplatten relativ schnell abnutzen, aber in der Regel ist sie in den besseren Büchern durchgängig gut. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass man bis zu 10.000 Abzüge von derselben Platte drucken konnte. Allerdings gibt es auch bei Kupfertiefdruck-Bildbänden gewaltige Qualitätsunterschiede, wobei ich mangels näherer Kenntnisse nicht entscheiden kann, inwieweit diese den Fotografien oder den Drucken zuzuschreiben sind. Leider findet man (oder finde zumindest ich) im Internet in deutscher Sprache nur recht dürftige Informationen zu dieser Drucktechnik. Die Wikipedia bringt zwar einen recht ausführlichen Artikel unter dem Stichwort "Tiefdruckverfahren". Auf Englisch gibt es (deutlich weniger) unter -hmm, diesen Begriff kannte ich bisher nicht:- "intaglio printmaking", dafür aber mehr auf den unter "Photogravure" verlinkten Webseiten. Ein weiteres einschlägiges Stichwort ist "Rotogravure". Die Webseite "www.photogravure.net" steht im Zusammenhang mit dem Buch "Copper Plate Photogravure: Demystifying the Process". (Ob das Versprechen "This site will eventually be THE source for all your copper plate photogravure information needs" jemals eingelöst wird, erscheint mir eher fraglich.) (Eigentlich schade, dass man vom Gutenberg-Country erst in anglophone Gebiete auswandern muss, um tiefere Informationen zum Kupfertiefdruckverfahren zu finden!) Wenn in dem deutschsprachigen Wikipedia-Artikel davon die Rede ist, dass "der Tiefdruck ... seine Anwendung vor allem im Bereich hoher Auflagen und Seitenzahlen" findet, und dass damit Wochenmagazine wie "Stern" und "Der Spiegel" gedruckt werden, dann folgere ich daraus, dass es innerhalb der Tiefdruckverfahren noch gewaltige Unterschiede geben muss, denn Stern und Spiegel sehen absolut nicht wie das aus, was als Kupfertiefdruck-Bildband im Antiquariat gehandelt wird. Einen Eindruck davon, wie (gute) Kupfertiefdruckbilder aussehen, gibt z. B. eine amerikanische Webseite mit Indianerfotos (leider nur wenigen, dafür aber solchen -in meinen Augen besonders schönen- mit Sepiatönung) von Edward S. Curtis. Oder 3 Fotos der Straßen von Glasgow um 1900 (James Craig Annan). Zwei Aufnahmen aus Italien von Kurt Hielscher sind (derzeit) in diesem Antiquariatskatalog abgebildet, doch vermitteln diese Reproduktionen keinen guten Eindruck der Wirkung in seinen Fotobänden. (Interessanter sind da schon die gleichfalls abgebildeten berühmten -auch in neueren Auflagen erhältlichen- Makro-Fotografien von Karl Blossfeldt: "Wunder in der Natur. Bild-Dokumente schöner Pflanzenformen".) Meine erste Begegnung mit dem Kupfertiefdruck dürfte der Prag-Bildband des tschechischen, pardon: des slowakischen Fotografen Karel Plicka gewesen sein (vgl. dazu meinen Blott "Mokka schmeckt auch gut!"). Einige Bilder sind auf dieser Webseite abgebildet, geben aber keinen Eindruck von der Qualität seines Buches, insbesondere der frühen Auflagen (etwa zu Beginn des 2. Weltkrieges) in Sepiatönung. Besser ist der (englischsprachige) Text dazu, und auf der gleichen Seite die Wiedergabe des Schutzumschlages, der eine der schönsten Aufnahmen aus dem Buch wiedergibt. 3 brauchbare Reproduktionen von Plickas Fotos findet man in diesem englischsprachigen Blog. Auf zahlreichen Streifzügen durch zahllose Buchantiquariate habe ich eine ganze Reihe von solchen Bildbänden in meinen Besitz gebracht. Die drei Italien-Bücher von Kurt Hielscher werden auf meiner Webseite Italienreich/Bibliothek näher beschrieben. Auch andere Länderbände in dieser Drucktechnik wurden Ende der 20er Jahre vor der Weltwirtschaftskrise herausgebracht, darunter z. B. der ebenfalls von Hielscher aufgenommene eindrucksvolle Spanien-Band. Diese und viele andere (z. B. ein schmaler Fotoband über Ischia von Kay-Yvonne Trüb aus den 50er Jahren) schlummern verborgen in den Tiefen meiner Bücherschränke und werden vielleicht erst bei einem neuen Umzug aus ihrer Dunkelhaft erlöst. Genau wie Plickas Prag-Fotobuch steht jedoch ein weiterer im Tiefdruckverfahren produzierter Prag-Bildband in der ersten Reihe: Das „Prager Notturno“ von Ferdinand Bucina (Prag 1957), "in dem eine einzige Nacht und viele Gaslampen das Antlitz der Stadt verwandeln" (so der Untertitel). Auch hier finden wir feinste Lichtabstufungen (allerdings keine Sepiatönung), und wenn die Bilder manchmal etwas „verschleiert“ wirken, ist das wohl eher den Aufnahmebedingungen im Prager Smog geschuldet (vielleicht teilweise auch der Papierqualität, bei der sich unter dem Mikroskop Fasern an der Oberfläche zeigen). Ein neuer Tafelband (nicht über Prag) kam jüngst hinzu. Er war der Anlass für meine langatmigen Ausführungen und dieses Buch wird bei mir ebenfalls nicht auf irgendwelchen unerreichbaren hinteren Regalplätzen landen: Dafür ist die Verborgene Schönheitvon Stefan Kruckenhauser (Untertitel: „Bauwerk und Plastik aus Österreich“) viel zu schön! [Als interessantes Detail am Rande entnehmen wir einer Kurzbiografie (s. a. hier) von Kruckenhauser, dass dieser in München geborene österreichische Fotograf in Böhmen aufgewachsen ist.] Im Widerspruch zu meinem eingangs geäußerten Zweifel am Fortschritt in der menschlichen Lebenswelt muss ich gestehen, dass ich den preiswerten Erwerb dieses Buches einem Fortschritt verdanke: den Internet-Märkten. Diese helfen, den steigenden Preisen (vgl. Blott "Inflation aus dem Norden") wenigstens auf manchen Gebieten ein Schnippchen zu schlagen. Man muss nur seinem unmittelbaren Kaufimpuls widerstehen, wenn man z. B. den o. a. Kupfertiefdruckband über Österreichs (eigentlich gar nicht so verborgene) Kunst-Schätze im Buchantiquariat sieht. Bei einem verlangten Preis von 18,- € fiel mir das nicht allzu schwer; jedoch war der Funke des Begehrens an die Lunte des Pulvers im Portemonnaie gelegt. Über die größte deutschsprachige Antiquariats-Plattform im Internet, dem Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB), war der Bildband spottbillig zu haben. 1,90 € sollte er kosten; das Porto war mit 4,89 € mehr als doppelt so teuer. Zusammen jedenfalls nur 6,79 €: immer noch eine riesige Ersparnis gegenüber dem Ladenantiquariat. Es ist vielleicht unfair, das Buch im Antiquariatsladen zu besichtigen, um es dann in einem Versandantiquariat (billiger) zu kaufen, aber, wie der Volksmund sagt: man muss halt „zusehen, wo man bleibt“. Der Buchzustand meines Exemplars (aus der 5., stark erweiterten und geänderten Auflage von 1954) ist natürlich nicht wie ladenneu. Der Buchblock hängt etwas locker im Einband (ohne dass aber die Bindung gerissen wäre), das Vorsatzpapier ist am Buchgelenk stellenweise aufgeplatzt und der Schutzumschlag fehlt. Jedenfalls ist es aber problemlos zu benutzen, und entscheidend ist natürlich die großartige Qualität des Inhalts. Österreichische Bauwerke und Skulpturen aus der Zeit von der Romanik bis zum Barock sind in dem großformatigen (allerdings nicht atlasgroßen) Bilderband abgebildet. Der Fotograf hat sie für uns herangezoomt (95% aller Fotos hat er nach seinen Angaben mit Teleobjektiven geschossen). Das Werk hat eine Geschichte, welche der Autor so beschreibt: "1936 begonnen, 1938 erschienen, ..... fand es 15.000 Käufer. In Leipzig verbrannten Bomben die gesamte 4. Auflage. In Berlin vernichteten sie die Grundlage der Arbeit – die Negative. Was in Sekunden zerstört ist, braucht Jahre zum Neuschaffen. ..... Heimat sind diese Werke. Heimat weiß man nicht, Heimat spürt man." (Das ist eine für uns in der globalisierten schon sehr sehr ferne Einstellung: da merkt man, wie sich unser Bewusstsein in 50 Jahren verändert hat! Andererseits gibt es aber auch heute noch bei vielen Menschen starke Bindungen an ihre Heimat bzw. ihren Wohnort. Nur würde man das nicht mehr so formulieren, wie Kruckenhauser das getan hat.) "Dieses neue Buch kommt spät! Es vertrug keine Hast" sagt er und spricht vom "Mut, in einer lauten, gehetzten Zeit [die also wurde schon damals so empfunden!] erneut ein stilles, besinnliches Buch zu wagen". (S. 7) Den Titel der früheren Ausgaben verschweigt er freilich schamhaft: „Verborgene Schönheit. Bauwerk und Plastik der Ostmark“ [Hervorhebung von mir]. Das Buch war also erstmals nach dem Anschluss Österreichs an Hitlers Nazi-Deutschland auf den Markt gekommen; an diese Episode der österreichischen Geschichte wollte man sich dort Anfang der 50er Jahre offenbar ungern erinnern (lassen). Das aber nur am Rande. Die Fotos, welche der Druck in ihren feinsten tonalen Abstufungen wiedergibt, begeistern. Sicherlich muss man aufpassen, den schönen Schein von Ruhe und Frieden, der nicht oder nicht nur dem Alter der abgebildeten Werke, sondern auch dem Alter der Fotografien und der Anmutung dieses „überholten“ Druckverfahrens zu verdanken ist, nicht als Abbild eines friedlichen oder besonders schönen Zustands der Welt – bei Entstehung der Plastiken und Bauten oder gar im Entstehungszeitpunkt der Fotografien - zu missdeuten. Das tue ich sicherlich nicht (vgl. auch meine Blotts mit dem Täg Olim-Diskurs). Ich genieße sie, könnte man sagen, so, wie man einen Urlaub genießt. Wer sich in Kenia (momentan freilich wohl eher nicht) am Strand räkelt oder an einer komfortablen Fotosafari teilnimmt, erlebt auch nicht „das“ Land, und reist auch nicht zu landeskundlichen Studien dort hin. Daran ist (in meinen Augen; es gibt auch andere Meinungen) nichts Verwerfliches oder Vorwerfbares. Vergleichbar sende ich meine Augen in Urlaub, indem ich sie dieses Buch genießen lasse. Aufgrund der Ruhe, welche derartige Bilder (nicht nur im Buch von Kruckenhauser, aber umgekehrt allerdings auch nicht alle Kupfertiefdruck-Fotobände) ausstrahlen, könnte man sie als „Meditationsbücher“ bezeichnen und benutzen, denn eigentlich verlangen sie eine liebevolle Versenkung in jede einzelne Aufnahme. Und warum sollte man Meditation nur mit Texten betreiben können, mit Thomas a Kempis oder Heinrich Seuse? Den Anforderungen an den Betrachter, sich Zeit zu nehmen, entspricht die in ihre Entstehung investierte Mühe. Auch das ist eine Besonderheit des Buches von Kruckenhauser, dass er über die einzelnen „Produktionsstufen“ z. T. ausführlich (manchmal auch knapp) berichtet: Die Motivwahl und Aufnahmetechnik, die Entwicklung (eine Stufe, welche dem Laien als so nebensächlich erscheint, dass er meist gar nicht daran denkt, welche Auswirkungen auch dieser Arbeitsschritt auf die Bildqualität haben kann bzw. vor Einführung der Digitalkameras haben konnte), die Umwandlung der Fotos in Vorlagen zum Belichten der Kupfertiefdruckplatten und das Ätzen dieser Druckplatten und schließlich natürlich der Druck selbst. O-Ton Kruckenhauser: „Die Qualität eines Bildbandes bestimmt wohl nur zur Hälfte der Autor. Die andere Hälfte ist den Fachleuten, die den Druck besorgen, zu verdanken. Denn Druck und Druck ist zweierlei .... .“ Er würdigt den Fotografen, der die Bilder in Vorlagen für die Ätzung der Kupferplatten umgesetzt hat: "... der sich als Fotograf um die letzten Feinheiten der Diapositive, damit um die entscheidenden Grundlagen des Kupfertiefdrucks, bemühte" und die Retuscheure, die "meisterlich zeigten, was 'Retusche' heißt". Und er dankt den Druckern, "deren Sorgfalt mich lehrte, dass Drucken weit mehr bedeutet, als nur eine Maschine laufen zu lassen". Er spricht vom "heiklen Prozeß des Tiefdrucks", der ihm "der Fotografie am nächsten zu kommen scheint. Gelingt er, so gibt er das Beste an Tonstufung, das im Druck erreichbar ist". (Alles S. 268). Ein schöner Band, den ich gelegentlich in Antiquariaten gesehen, aber wegen des hohen Preises nicht gekauft habe, ist „Sizilien. Landschaft und Kunstdenkmäler“ mit Aufnahmen von Paul Hommel. Im Jahre 1926 ist er erschienen, mit einem Geleitwort von Hugo von Hofmannsthal. Hofmannsthal fordert uns (wenn ich mich richtig erinnere) auf, die Bilder gewissermaßen zur Anlage eines inneren Vorrats an Schönheit zu nutzen, weil man nie wissen könne, wann man dessen vielleicht bedürfe. Im Rückblick nehmen diese Worte für uns einen gewissermaßen prophetischen Charakter an; es erscheint allerdings zweifelhaft, ob ein solcher ästhetischer Reservespeicher den vom Nazi-Regime Verfolgten mental geholfen hat oder hätte helfen können. Auf jeden Fall kann man (auch) aus dem Fotoband von Kruckenhauser Kraft und Kräftevorrat schöpfen. Für manche Bücher, die in diesem Druckverfahren entstanden sind, lege ich jeden modernen Duoton-Bildband beiseite. Und sogar die superrealistischen Farbdrucke aus dem Fernen Osten. 

Textstand vom 30.05.2021.

2 Kommentare:

  1. Das ist ein guter Artikel! Auch ich bin mittlerweile auf Kupfertiefdruckbilder gestoßen - und ich stimme voll zu: Wie kann so eine Technik verschwinden?? Bilder bekommen damit eine Aussagekraft wie mit keinem anderen Druckverfahren. Wer einmal sowas gesehen hat wird sich verwundert die Augen gerieben haben. Eine Renaissance des Verfahrens ist allerdings in weitestert Ferne....

    LG H.Hansen

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  2. Hallo H. Hansen,

    freut mich sehr, dass
    a) sich mal jemand überhaupt mal die Mühe macht, einen meiner Blog-Einträge zu kommentieren und
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