Trotzdem liegt der Vergleich der weltwirtschaftlichen Ereignisse, der Finanzkrisen bzw. Finanzmarktkrisen des Jahres 1929 (WWK I) und 2008 (WWK II) bereits deshalb nahe, weil beide Male im Oktober die Börsen gewaltig crashten. So ist er auch schon seit einiger Zeit in aller Munde.
Über die Gründe, warum wer diesen Vergleich verwendet, spekuliert z. B. Daniel Gross in der Newsweek-Webseite vom 22.11.08 "MONEY CULTURE. Don’t Get Depressed, It’s Not 1929". Ich freilich bin weniger überzeugt, dass man derartige Parallelisierungen einfach mit der Interessenlage der Finanzmanager begründen bzw. abtun kann. Dagegen sprechen schon Sachverhalte, die in der Einleitung von Gross' Artikel angesprochen werden: "Instead of out-of-work men asking, 'Brother, can you spare a dime?' we have executives asking Congress if it can spare $100 billion." Eben! Die Summen, um die es heute geht, sind Schwindel erregend.
Während ich freilich davon überzeugt bin, dass die Probleme ihrer Dimension nach vergleichbar sind, glaube ich nicht an eine völlige Parallelität und insbesondere glaube ich nicht, dass wir die aktuelle Finanzmarktkrise, Finanzkrise und Weltwirtschaftskrise mit demjenigen Wissen wirksam bekämpfen können, welches die Wirtschaftswissenschaft aus der ersten Weltwirtschaftskrise (WWK I) gewonnen hat.
Welche identischen Elemente finden wir in beiden Krisensituationen (bzw. in den der Krise vorausgehenden Zeiträumen)?
- Hohe Verschuldung (Überschuldung) der Verbraucher
- Eine vorausgehende laxe Geldpolitik (umstritten, vgl. z. B. Sebastian Dullien "Das Zinsmärchen", FTD vom 14.04.2008; s. dort aber andererseits die qualifizierte Gegenmeinung in den Leserkommentaren von Heinrich -Henry- Kaspar!).
- Überschuldung des Staates (allerdings damals europäischer Staaten, vor allem Deutschlands, heute der USA - das ist wiederum ein Unterschied, weil damals die Krise dennoch -ebenfalls- von den USA ausging)
- Auf jeden Fall lässt sich aus diesem Sachverhalt aber das Vorliegen massiver internationaler Ungleichgewichte als Gemeinsamkeit von WWK I und WWK II abstrahieren.
- Verschiedene Autoren haben auch schon in den 20er Jahren einen Immobilienboom ausgemacht und sehen in dessen Zusammenbruch eine Ursache für WWK I.
- Ein gewisses Auslaufen einer technologischen Entwicklungsphase. Automobile und Radios waren seinerzeit, jedenfalls in den USA, relativ ausgereift und so weit verbreitet, dass keine riesigen neuen Käuferschichten mehr erschlossen werden konnten. Das gleiche könnte man heute vielleicht vom Computer und Handy sagen. Überlegungen in diese Richtung, charakterisiert mit Begriffen wie "Lange Wellen" und "Kondratieff-Zyklen" sind allerdings weitaus schwerer zahlenmässig zu fassen als z. B. die Geldpolitik des Federal Reserve Bank Systems in den USA.
- In beiden Fällen ging den massiven Kurseinbrüchen am Aktienmarkt eine Rezession voraus; die USA sollen sich jetzt bereits seit Dezember 2007 in einer Rezession befinden.
Andere Elemente sind dagegen nicht vergleichbar:
- Die Währungen beruhen heute nicht mehr auf einem Goldstandard; evtl. Verzerrungen können (wenigstens bei denjenigen Währungen, die frei floaten) durch den Markt korrigiert werden. (Ob der Markt das leistet, erscheint allerdings fraglich, denn zumindest nach herkömmlichem Verständnis -conventional wisdom- sollte der Dollar als Währung eines total überschuldeten Landes eigentlich abstürzen; statt dessen ist er in den letzten Monaten im Vergleich zum Euro aber sogar gestiegen.
- Die Notenbanken (auch die EZB) haben heuer ihre großzügige Geldversorgung der Märkte nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil ausgeweitet.
- Die Zinsen wurden dieses Mal (und werden noch) zügig und drastisch gesenkt.
- Es gibt, bislang jedenfalls, keine protektionistischen Aktivitäten der einzelnen Staaten und keinen Abwertungswettlauf (jedenfalls sofern nicht hinter dem Anstieg des US-Dollars die Notenbanken -EZB- stecken).
- Schon seit einigen Jahren sind die Rohstoffpreise, insbesondere die Rohölpreise, dramatisch angestiegen. Das war Ende der 20er Jahre wohl nicht der Fall, zumindest habe ich davon noch nie gelesen. (1938 zogen die Rohstoffpreise dann wieder an, wegen der Rüstungsproduktionen und der entsprechenden Bevorratung der Länder). Unabhängig davon, ob man diesem Element schon an der Krisenursache einen Anteil zugestehen will, dürfte es - egal, ob wir es einkalkulieren oder nicht - der beherrschende (genauer wohl: limitierende) Faktor bei der Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) einer Krisenbewältigung sein bzw. werden.
Detaillierte Überlegungen kann ich, momentan zumindest, nicht leisten; ich will hier indes einige Gedankenfetzen festhalten, die mir u. a. bei der Lektüre des Aufsatzes "Theories on the Great Depression: Harris, Sklar and Carlo: Secular Stagnation, Disaccumulation, Monopolies-Overproduction and the Long Waves" (ohne Autorenangabe; hier wird als Verfasser ein Reuben L. Norman Jr. genannt.) kamen:
- Grundsätzliche Frage: Kausalitätssuche auf welcher Ebene: 'Wo steckt die Kausalität in der Kalamität'?
- Strukturelle Elemente, evtl. Geldpolitik und/oder Fiskalpolitik (usw.) nur verschärfend?
- Gibt es "die" Kausalität überhaupt? Kausalitätenmix, Kausalitätenverstärkung. Notwendige und zureichende Bedingungen für die krisenhafte Zuspitzung?
Einige Textexzerpte möchte ich hier gleichfalls fixieren (bei der Lektüre ist zu berücksichtigen, dass der Essay bereits im Jahre 1998 erschienen ist, also nicht die aktuelle Krise adressiert):
"The causes of the Great Depression have been difficult to determine. Moreover, broadbased financial data series which would be necessary to establish the definitive interpretation do not exist. What we are left with is a hodge-podge of theories, some specific, limited data and large amounts of anecdotal information. Almost all interpretations are heavily riven with the politics of the particular writer. ......
... any serious writing about today's problems needs to have a perspective on the causes of the Great Depression" [diese Meinung kann man wohl heute noch unterschreiben].
Der Autor zitiert aus einem 1943 erschienen Buch über die vermuteten Ursachen von WWK I:
"The thirties provide a striking example of "stagnation" combined with highly dynamic economic and social development. Even in the best year of the decade the American economy failed by a wide margin to achieve full employment of available resources. Yet technological progress continued at a rapid pace, productivity rose markedly ..., and in the second half of the decade gross private investment averaged nearly $10 billion a year. The trouble again was not there was no investment, but that investment was not enough to keep income at a level that would fully use the country's tremendous productive resources." Daraus folgert er:
"The problem was not that private industry was not investing in the economy, but that not enough investment was being made to keep employment at high levels. Thus strong technological progress could exist side by side with weak employment levels." Ähnlich später: "It was not simply that less investment was being made, but that much of the money was being spent upon increasing efficiency and decreasing the number of jobs in a stable or declining country-wide output."
Und abschließend meint Norman:
"The bright forecasts in magazines like Wired may be highly over optimistic of how the new Internet revolution will turn out. It may well be that the stock market increases of the period from 1996 through summer 1998 had an empirical basis, in that greater individual company profits seemed more realizable under an Internet-driven system. Yet rapid profit increases must usually have a real basis in efficiency increases, driven finally towards massive overproduction and/or underconsumption. Ultimately, either must result in a mountain of inventory or huge levels of over capacity. Given the just-in-time model of most industrial sectors, huge inventories may not exist today, but world wide over capacity in both manufacturing and raw commodities is a fact seen in most daily accounts of the market. The problem today is whether or not the move towards the Internet represents a new phase of secular stagnation-disaccumulation. If this should prove true, then capitalism may well be facing its final crisis and the solution to that crisis will either sustain modern civilization or see it slowly erode in tribalism and petty wars."
Nun, der Zusammenbruch der Technologie-Blase Anfang des neuen Jahrtausends hat nicht zu der von Norman erwarteten Krise geführt; jetzt aber ist sie wohl da, und der letzte Satz könnte sich, wenn man ihn auf einen sich verschärfenden Rohstoffmangel bezieht, durchaus noch als prophetisch erweisen.
Nachträge 27.12.2008:
Bernd Müller sah offenbar schon am 26.11.2007 eine krisenhafte Entwicklung kommen und verglich (in seinem allerdings laufend aktualisierten) Artikel "Weltwirtschaftskrise" auf seiner Webseite Deutschland-Debatte die Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. einerseits mit der Gründerzeitkrise von 1873 und andererseits mit der aktuellen Lage. Sein Fazit:
"Die Wirtschaftskrisen 1873 und 1929 sind nur in erster gröbster Näherung mit der heutigen Situation vergleichbar. Sie taugen nicht, ein Erklärungs- und Verhalternsmuster aufzuzeigen. Es gibt sicherlich einige Identitäten, die so dass Anzeichen auf eine drohende Krise nicht wegzuwischen sind. Was aber viel ärger ist, ist die Tatsache, dass die Rahmenbedingungen 1873 und 1929 viel mehr Lösungsoptionen beinhalteten."
Eine relativ ausführliche Darstellung der WWK I im Deutschland Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre leistet Alexander Jung in einem SPIEGEL-Special Geschichte vom 29.01.2008: "WEIMARS ENDE. STURZ IN DEN RUIN".
Nachtrag 21.01.2009
In einem Zeit-Artikel, ohne Datumsangabe auf der Webseite (aus dem Text wird aber erkennbar, dass er Ende 2001 geschrieben wurde) stellen Peter Temin und Hans-Joachim Voth Überlegungen an zum Thema "WIRTSCHAFTSKRISE. So fern und doch so möglich", und ziehen dabei natürlich auch Erfahrungen aus der Großen Depression heran. "Sorgen hatten die Leute" damals, in 2001, kann man im Rückblick ironisch sagen. Aber vielleicht war es gerade diese - nach heutigen Maßstäben bei der damaligen Wirtschafts- und Finanzdatenlage völlig unverständliche - Depressionsfurcht, die uns heute die große Krise beschert hat. Denn wahrscheinlich hat die kleine Konjunkturdelle des Jahres 2001 den damaligen Gouverneur der US-Notenbank Alan Greenspan veranlasst, die Geldhähne aufzudrehen. Und damit dem Finanzmarkt die 'irrational exuberance' der folgenden Jahre zu erlauben, welche jetzt zum furchtbaren Kater geführt hat.
Nachtrag 08.02.2009
Hier im Blog "Macro and Other Market Musings" des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Prof. David Beckworth einige Links zur aktuellen amerikanischen (Fach-)Debatte über Erfolg oder Misserfolg des Rooseveltschen "New Deal".
Nachtrag 12.02.09
Kein Witz: Smiley hat einen interessanten Artikel über die Great Depression verfasst. Nicht 'das' Smiley natürlich, sondern der Gene Smiley. Und zwar als (längerer) Lexikoneintrag der "Concise Encyclopaedia of Economics" (eine Internetpräsenz mit zahlreichen ausführlichen Artikeln von teilweise hochkarätigen Wirtschaftswissenschaftlern) auf der Webseite "Library of Economics and Liberty". (Dort auch Verweise auf weitere Artikel usw.)
Ganz ideologiefrei ist die Seite wohl nicht; sie scheint eine ziemlich ausgeprägte Tendenz gegen staatliche Regulierung ökonomischen Handelns zu haben. Das ist nicht grundsätzlich schlecht oder falsch, aber natürlich wird dabei manchmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet bzw. ausgeblendet, dass die freie Wirtschaft gelegentlich (momentan zum Beispiel) allzu übermütig sein und dann leicht den Bach runtergehen kann. Dennoch: wenn man sie nicht unkritisch liest, sind die Lexikoneinträge und auch die sonstigen Artikel auf der Seite hochinteressant (vgl. beispielhaft die Stichwort "Bankruptcy", "Housing" (mit Staunen liest man dort, dass der Markt für US-Wohnimmobilien garnicht so unreguliert ist, wie man sich das bei uns leicht vorstellt) oder auch "Marxism". Sehr lesenswert auch die biographischen Einträge über berühmte Wirtschaftswissenschaftler (vgl. z. B. "Friedrich August Hayek").
Für Vergleiche mit anderen historischen Momenten (1620, 1873) siehe jetzt auch meinen Blott "Die Credit Default Swaps als (potentielles) Kipper- und Wipper-Regime der Gegenwart. Wie die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft Forderungen ...".
Nachtrag 17.02.09
Pro memoriam, für mich und für evtl. einschlägig interessierte Surfer, gebe ich nachfolgend einige Links (mehr oder weniger Zufallsfunde) zu Webseiten, auf denen die Weltwirtschaftskrise (insbesondere in Deutschland) aus der Mikroperspektive, auf der Ebene der Lokal- oder Landesgeschichte, dargestellt wird:
Hugo Jensch hat auf seiner Homepage "Beiträge zur Geschichte Pirnas" u. a. auch recht umfangreiche Texte über "Pirna zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929-1933" eingestellt.
Hier ein Eintrag im Historischen Lexikon Bayern.
Nachtrag 01.03.2009
Das erste Kapitel von Ben Bernankes Buch "Essays on the Great Depression" mit dem Titel "THE MACROECONOMICS OF THE GREAT DEPRESSION. A comparative approach" ist hier online. Der Anfang enthält u. a. das bekannte Zitat über die Suche nach einem (wissenschaftlichen) Verstehen der Großen Depression als Heiliger Gral der Volkswirtschaftslehre (meine Hervorhebung):
"To understand the Great Depression is the Holy Grail of macroeconomics. Not only did the Depression give birth to macroeconomics as a distinct field of study, but also—to an extent that is not always fully appreciated—the experience of the 1930s continues to influence macroeconomists' beliefs, policy recommendations, and research agendas. And, practicalities aside, finding an explanation for the worldwide economic collapse of the 1930s remains a fascinating intellectual challenge. We do not yet have our hands on the Grail by any means, but during the past fifteen years or so substantial progress toward the goal of understanding the Depression has been made."
Nachtrag 27.04.09
Unter der Überschrift "A Tale of Two Depressions" vergleichen die US-Ökonomen Barry Eichengreen und Kevin H. O’Rourke die Weltwirtschaftskrise I mit der WWK II (6.04.09):
"Often cited comparisons – which look only at the US – find that today’s crisis is milder than the Great Depression. In this column, two leading economic historians show that the world economy is now plummeting in a Great-Depression-like manner. Indeed, world industrial production, trade, and stock markets are diving faster now than during 1929-30. Fortunately, the policy response to date is much better. .....
To summarise: the world is currently undergoing an economic shock every bit as big as the Great Depression shock of 1929-30. Looking just at the US leads one to overlook how alarming the current situation is even in comparison with 1929-30.
The good news, of course, is that the policy response is very different. The question now is whether that policy response will work. For the answer, stay tuned for our next column."
[Mittlerweile gibt es ein Update vom 4.6.09; dazu die "Editor’s note" (meine Hervorhebungen): "The 6 April 2009 Vox column by Barry Eichengreen and Kevin O’Rourke shattered all Vox readership records, with 30,000 views in less than 48 hours and over 100,000 within the week. The authors will update the charts as new data emerges; this updated column is the first, presenting monthly data up to April 2009. (The updates and much more will eventually appear in a paper the authors are writing a paper for Economic Policy.)"]
[Mehr über die Webseite VoxEU s. dort im "About": "VoxEU.org is a policy portal set up by the Centre for Economic Policy Research (www.CEPR.org) in conjunction with a consortium of national sites. Vox aims to promote research-based policy analysis and commentary by leading scholars. The intended audience is economists in governments, international organisations, academia and the private sector as well as journalists specializing in economics, finance and business. Assistance for the Centre's work on Vox has been provided by the European Union .....]
Nachtrag 18.05.2009
Marc Hansmann, mittlerweile Stadtkämmerer von Hannover (hier sein wissenschaftlicher Lebenslauf und die Liste seiner Publikationen) hat im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1999/2, S. 179-193, einen interessanten Forschungs- und Literaturbericht über die WWK I, also die Great Depression publiziert, und zwar insbesondere über das damalige Geldsystem (Goldstandard) und die mutmaßlich krisenverursachenden oder krisenverschärfenden Auswirkungen der damaligen Geldpolitik: "Deflation statt Inflation? Historische Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise". (Die erste Hälfte ist momentan hier, die zweite dort online.) Brandaktuell klingt es, wenn er mehrfach auf die Gefahren einer Deflationsspirale hinweist, z. B. am Schluss: "Letztlich lässt sich die Lehre aus der Geschichte ziehen, dass es einen internationalen Deflationstrend unbedingt zu vermeiden gilt. Wenn das erkannt wird, wäre - gerade im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise - bereits viel gewonnen".
Nachtrag 04.06.09
Zwei Artikel des Wirtschaftshistorikers Harold James zur Great Depression und zum Vergleich mit unserer WWK II:
"Weltwirtschaftskrise. Das amerikanische Trauma" ist ein längerer Aufsatz in der ZEIT vom (schon!) 03.04.2008:
"1929 kam es zum größten Börsencrash aller Zeiten und später zur Weltwirtschaftskrise. Wiederholt sich die Geschichte? Schon folgen manche Politiker und Finanzprofis alten Reflexen".
Als ein "Desaster auf Raten" beschreibt James die WWK I in einem kürzeren Artikel in der Financial Times Deutschland (FTD) vom 07.05.09:
"Der Vergleich der aktuellen Wirtschaftskrise mit dem Börsencrash von 1929 hinkt. Erst der Kollaps mehrerer Banken 1931 machte aus einer Rezession eine Depression – mit gravierenden Folgen...".
Nachträge 21.06.2009
Sehr informativ in unserem Zusammenhang ist auch der Blog-Eintrag "What Recovery? Myths, Lies, and Green Shoots" auf der (anscheinend den US-Demokraten nahe stehenden) Webseite "The Economic Populist". Einen Autornamen kann ich nicht entdecken; im About der Webseite erfahren wir: "The Economic Populist is a Community Blog and Forum. Leave your partisanship at the door, bring your shrinking middle class paycheck and let's discuss real trade, economic, budget, fiscal, tax, labor and immigration policy that is in our interests and the United States National Interest. Who can post here? Anyone sane and wanting to talk about economic issues such as the above." Jedenfalls ist es jemand, der Ahnung von Wirtschaftswissenschaft hat. Ein Datum finde ich ebenfalls nicht; anhand der bei den Kommentaren angegebenen Daten muss der Eintrag spätestens vom 20.06.2009 stammen. Auszüge (Hervorhebungen von mir; der Original-Blott enthält zahlreiche Tabellen und ist deshalb naturgemäß weit informativer als die nachfolgenden Extrakte):
"There are those that honestly think you can make a sustainable economy based on people buying things they don't need with money they don't have. Then there are those who just want to sucker in the sheeple so they can fleece them one more time.
Finally, there are the sheeple themselves - so scared that they will buy into any feel-good message about Green Shoots that the politicians and media sells them, and even defend it." [Eine köstliche Typologie der aktuellen Interessenrichtungen der Menschen in der Krise!]
"What none of these three groups want is for the general public to know what the actual numbers really are. They don't want me to show you what I am about to show you.
There's been two studies done recently that put things into perspective. One was done by Barry Eichengreen and Kevin O’Rourke [s.o., Webseite vox.eu] , both professors of economics. The other was done by Paul Swartz for the Center of Geoeconomic Studies. ["Quarterly Update: The Recession in Historical Context", bei Abfassung dieser Ergänzung Stand = 05.06.09.]
As you can see, worldwide industrial output is dropping as fast as it did during the Great Depression, while world trade is dropping even faster ... .
The other two charts show monetary inflation and massive government deficits. The two are directly related.
Those academics who are afraid of deflation think that these are good things. Consumers that are trying to stretch their meager paychecks think otherwise.
On a worldwide level, the recent stock market rally still doesn't come close to bringing us back to the disastrous level of the Great Depression.
Focus on America
Some will try to write off the charts above that this doesn't reflect what is happening in America. As if America is some sort of island disconnected from the rest of the world.
For those people I want to present a few other charts.
US Industrial Output
The drop is [in?!] America's industrial output mirrors the drop in the world's industrial output, as well as the Great Depression experience.
It's a similar story for the stock market.
...and for our trade with the rest of the world.
As mentioned above, we have managed to avoid deflation with our massive deficit spending, but that also means the prudent are being punished in order to bail out the debtors.
Meanwhile the crash in home prices puts the Great Depression experience to shame. The consequences of this cannot be understated.
Finally we have unemployment. The common refrain from the Green Shooters is that the unemployment rate isn't nearly as bad as during the Great Depression, when unemployment hit 25%. While technically true, it is also dishonest for two reasons.
#1) Unemployment didn't suddenly jump up to 25% overnight. It took four years to get there.
If you start counting from April 2008 (around the time that Bear Stearns went under), like most of the charts above do, then we are only 14 months into this Depression. The equivalent period of time during the Great Depression would take you to the fall of 1930.
So what was the unemployment rate in 1930? 8.7%. What is the unemployment rate today? 9.4%.
#2) The unemployment rate was measured differently during the Great Depression. For instance, there was no "discouraged workers" category. You were either employed, or not employed. You didn't fall out of the ranks of the unemployed because you didn't send someone a resume that week. Thus the unemployment numbers of today will understate real unemployment in a way that they wouldn't during the Great Depression."
[S. a. hier]
Dirk Hofschire fand im November 2008 "Five Reasons Why Today is Different From the Great Depression":
"- There are some similarities between today’s financial and economic climate and the Great Depression, but those similarities do not mandate that the world is predestined to follow a path into a decade-long depression.
- Moreover, there are clear differences between the current state of the U.S. and global economies and the early 1930s.
- The level of bank failures and unemployment, while worsening in recent months, is nowhere near the dire levels seen during the 1930s.
- Most importantly, unlike during the early years of the Great Depression, the Federal Reserve and U.S. government have moved aggressively to counter-act deflationary forces with an array of extraordinary actions and stimulative spending.
- The dramatic policy responses by central banks and governments around the world in 2008 underscores that we are living today in very different times than the world experienced 80 years ago, and it may serve investors well to take those differences into account." [Letzteres tun die Spekulanten jetzt, im Juni 2009, gerade: sie lassen an den Börsen die Sektkorken knallen in der Erwartung, dass es kräftig bergauf gehen werde mit der Wirtschaft.]
Ich halte es freilich noch nicht für ausgemacht, dass diese Unterschiede durchweg positiv zu bewerten sind. Die Politik der Geldüberschwemmung kann durchaus gravierend negative Folgen haben. Vor allem übersieht Hofschire einen sehr wesentlichen Unterschied der Weltwirtschaftskrisen 1929 ff. und 2008 ff.: In der WWK I hatten wir es nicht mit einer Ressourcenverknappung zu tun; in der WWK II dagegen schon! Und so kann es geschehen, dass zwar die Krisenstruktur unterschiedlich ist, die Auswirkungen für die Menschen heute aber nicht besser als damals. Wahrscheinlich wird es uns auf nicht allzu lange Sicht sogar weitaus schlechter gehen, aber das hat dann nichts mehr mit den klassischen Begriffen von Konjunktur und Rezession zu tun. Sondern mit Knappheiten, wie man sie früher nur in Kriegen, kaum aber in "normalen" wirtschaftlichen Notzeiten, kannte.
Auf der Webseite des Bundesministeriums für Wirtschaft wurde im Juni 2009 (die Jahreszahl der Veröffentlichung darf man sich, nicht sehr nutzerfreundlich, aus dem Copyright unten am Fuß der Seite raussuchen) ein Vergleich der beiden WWKs publiziert: "Die Weltwirtschaftskrise von 1929: Nicht vergleichbar mit der aktuellen Rezession":
"Besteht die Gefahr, dass sich die Große Depression von 1929 wiederholt? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Juni-Ausgabe des Monatsberichts 'Schlaglichter der Wirtschaftspolitik'."
Die Diagnose lautet, von mir zusammengefasst, "nicht identisch". Aber was besagt das schon? Die Autoren meinen, dass es weniger schlimm kommen wird als damals. Das wird sich erst noch zeigen müssen. Ein Satz wie der folgende ist jedenfalls nicht sehr wissenschaftlich*, weil hier Äpfel (Fakten) und Birnen (Prognosen) verglichen werden(aus dem Abschnitt "Entwicklungsmuster nur vordergründig vergleichbar"; meine Hervorhebung):
"Auch die sich abzeichnenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind mit der Zeit der Weltwirtschaftskrise nicht vergleichbar. Im Jahres durch - schnitt 1932 ist die Arbeitslosenquote in den USA bis auf 23,6 Prozent und in Deutschland bis auf 17,3 Prozent angestiegen."
[*Deswegen ist es auch nur recht und billig, wenn bei der Google-Suche weltwirtschaftskrise vergleich (jedenfalls per 21.06.09) nicht solche obskuren Polit-Papiere an erster Stelle erscheinen, sondern die fundierte Studie von CANABBAIA ;-) ]
Nachträge 26.07.2009
In seinem kurzen Aufsatz "Gezielte Angriffe auf die Geldwertstabilität" vom 19. Februar 2009 bringt Michael Kordovsky auch einige (pessimistisch stimmende) Vergleichsdaten der beiden Weltwirtschaftskrisen, u. a. zum Schuldenstand:
"1929 herrschten viel solidere Rahmenbedingungen als heute, weshalb die gegenwärtigen Konjunkturbelebungsmaßnahmen langfristig sogar die Finanzkrise verschärfen. .....
Die Gesamtverschuldung der US-Wirtschaft betrug Ende der 20er-Jahre knapp 160 % des BIPs, verglichen mit 384 % heute. Dabei blieb ein Spezifikum der heutigen Zeit, nämlich ein laut BIZ weltweites Derivate-Volumen von 863 Billionen US-Dollar bzw. von mehr als der 15fachen Weltwirtschaftsleistung, unberücksichtigt. Die Sparquote war in den 20er-Jahren wesentlich höher. Vor allem Unternehmen wirtschafteten vorsichtiger. Zwischen 1910 und 1950 hatten die meisten der 10 größten US-Unternehmen mindestens 70 Cent an liquiden Mitteln für jeden Dollar an Schulden. Heute werden nur noch 10 Cent pro Dollar Schulden gehalten ... .."
An einer unwahrscheinlichen Stelle, nämlich auf einer Webseite über "American Poetry", erhalten wir nicht nur in zwei Texten zusammenfassende Informationen über die Große Depression in den USA und die (erste) Weltwirtschaftskrise, sondern vor allem auch einen visuellen Einblick in die damalige Lebenssituation der Arbeitslosen (Fotos, darunter die berühmten von Dorothea Lange) und in den damaligen gesellschaftlichen Diskurs über die Krise (Zeichnungen usw., häufig mit Kritik an der Oberschicht bzw. den Reichen).
Nachtrag 27.10.09
Einige wenige, aber übersichtliche Vergleichsdaten präsentiert fundresearch.de auf S. 2 der Kurzstudie "Sind die große Depression von 1929, der Ölpreisschock von 1973 und die aktuelle Finanzkrise wirklich miteinander vergleichbar?"; allerdings datiert die Studie bereits vom März 2009.
Nachträge 20.12.09
Eine Reihe von Texten betr. historische Vergleiche unserer aktuellen Krise hat der amerikanische Wirtschaftsprofessor Michael Bordo verfasst und dankenswerter Weise auch auf seiner Homepage eingestellt. Vgl. auch seinen Aufsatz "The crisis of 2007: some lessons from history" auf der Debattenseite Voxeu.
Eine Kavalkade durch die Geschichte machen (vermutlich; ich habe das Papier nicht gelesen und werde - leider - wohl auch nicht dazu kommen) Carmen M. Reinhart von der University of Maryland und dem NBER [das amerikanische "National Bureau of Economic Research"] und Kenneth S. Rogoff, Harvard University and NBER in ihrer online lesbaren Arbeit (124 S.) "This Time is Different: A Panoramic View of Eight Centuries of Financial Crises."
Hier die Zusammenfassung (Abstract):
"This paper offers a “panoramic” analysis of the history of financial crises dating from England’s fourteenth-century default to the current United States sub-prime financial crisis. Our study is based on a new dataset that spans all regions. It incorporates a number of important credit episodes seldom covered in the literature, including for example, defaults and restructurings in India and China. As the first paper employing this data, our aim is to illustrate some of the broad insights that can be gleaned from such a sweeping historical database. We find that serial default is a nearly universal phenomenon as countries struggle to transform themselves from emerging markets to advanced economies. Major default episodes are typically spaced some years (or decades) apart, creating an illusion that “this time is different” among policymakers and investors. A recent example of the “this time is different” syndrome is the false belief that domestic debt is a novel feature of the modern financial landscape. We also confirm that crises frequently emanate from the financial centers with transmission through interest rate shocks and commodity price collapses. Thus, the recent US sub-prime financial crisis is hardly unique. Our data also documents other crises that often accompany default: including inflation, exchange rate crashes, banking crises, and currency debasements."
Eine Erweiterung (vielleicht auch Popularisierung) der in diesem Arbeitspapier gewonnenen Einsichten dürfte das kürzlich erschienene Buch des Autorengespanns sein:
"This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly", auf Deutsch erschienen als "Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen".
Nachtrag 26.12.09
Einen Überblick über den Stand der Ursachenforschung (oder eher zu den innerhalb der Weltwirtschaftskrise wirksamen Kausalketten, welche die ungewöhnliche Dauer der Weltwirtschaftskrise, insbesondere in den USA, verursacht haben?) zur Great Depression gibt, für den Stand per 1993, der Aufsatz "Financial Factors in the Great Depression" von Charles W. Calomiris. Nach meinem (nicht nur:) dabei gewonnenen Eindruck bewegt sich die Forschung immer mehr von der eigentlichen Ursache, nämlich der Überschuldung der Wirtschaftssubjekte, weg und hin zu einer Analyse einzelner Kausalzusammenhänge. Es wäre verfehlt, dies verschwörungstheoretisch mit einem kollusiven Zusammenwirken von Kapitalbesitzern und Nationalökonomen zu erklären. Die moderne Wirtschaftswissenschaft versucht, möglichst exakt zu arbeiten, d. h. nachweisbare Kausalitäten möglichst in gleicher Weise wie die Naturwissenschaften, also mit mathematischen Methoden zu belegen. Eine Brücke von der Überschuldung zur Krise ist aber auf diese Weise, zumindest derzeit (vielleicht aber zumindest für die 1. WWK überhaupt, z. B. mangels ausreichendem Datenmaterial) nicht zu leisten.
Nachtrag 01.01.2010
Aufschlussreich für einen Vergleich der beiden Weltwirtschaftskrisen ist wahrscheinlich auch der Blog "News from 1930", Untertitel: "Being a daily summary based upon my reading of the Wall Street Journal from the corresponding day in 1930."
Nachtrag 11.02.2010
Im Blog "CrisisMaven" gibt es ein längeres Posting (ich habe es nicht gelesen) mit einem Vergleich der beiden Krisen. Titel: "1929 and 2007: two crises, similar causes, similar effects?". "CrisisMaven" scheint ein unorthodoxer (Nicht-)Ökonom zu sein, aber vielleicht recht interessant und, soweit auf den ersten Blick erkennbar, wohl auch mit guten (oder gar profunden) wirtschaftlichen Kenntnissen.
(Über seinen Eintrag "What’s wrong with Economics?", den er anscheinend als grundlegend für sein "Programm" ansieht, schreibt er u. a. (meine Hervorhebung): "It is, as many of CrisisMaven’s posts, rather lengthy, however, compared to so many trillions lost in paper money, what are a few hours spent reading “between friends”?" - Rings a bell with my readers too, doesn't it? ;-)
Nachtrag 17.02.2010
Andrew Kaplan, "a hedge fund manager" hat am 31.08.09 in einem Gastbeitrag (Guest Post) auf der Webseite "Naked Capitalism" unter dem Titel “The Savings Rate Has Recovered - if You Ignore the Bottom 99%” aufgrund der von der US-Steuerbehörde erfassten Einkommensdaten die schichtspezifischen Ersparnisse im Verhältnis zur US-Sparquote insgesamt zu berechnen versucht und kommt zu dem Schluss, dass im Durchschnitt offenbar nur jene 1 Prozent der US-Haushalte Ersparnisse bilden, die an der Spitze der Einkommenspyramide stehen. Die restlichen 99% verschulden sich weiter. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren aber mehr die Angaben zur Einkommensverteilung:
"Economists Thomas Piketty and Emmanuel Saez have made careers of studying US income inequality using IRS [Internal Revenue Service, die Steuerbehörde der US-Bundesregierung] data, which goes back to 1913. The most recent data available (for 2007) showed that the top 14,988 households (0.01% of the population) received 6.04% of income, the highest figure for any year since the data became available. The top 1% of households received 23.5% of income (the second highest on record, after 1928) [also im Jahr vor der 1. WWK!], while the top 10% received 49.7% of income (the highest on record)."
Schade, dass Kaplan nur einen der o. a. 3 Werte in eine Beziehung zur Situation kurz vor der 1. Weltwirtschaftskrise setzt. Wenn die Werte auch für die anderen Gruppen im Jahr 1928 außergewöhnlich hoch waren wäre das ein wesentlicher Anhaltspunkt dafür, dass die fehlende Kaufkraft der Nicht-Kapitalbesitzer das krisenauslösende Moment war.
Auf welche Weise sich das Geld bei den Geldbesitzern ohne gegenläufige Mechanismen zwangsläufig ansammeln muss, habe ich jetzt in einem Modell untersucht: "Die Ökonomie der Artos-Phagen: Warum eine eigentumsbasierte Geldwirtschaft (im Basismodell) nicht dauerhaft funktionieren kann."
Nachträge 06.03.2010
Auf der Homepage einer Firma True Sale International GmbH (TSI) ("entstand 2004 aus einer Initiative von dreizehn Banken in Deutschland zur Förderung des deutschen Verbriefungsmarktes") gibt es eine Seite mit Links zu Informationen über "Finanzkrisen im historischen Vergleich".
Unter anderem verlinkt sie auch zur Webseite eines Online-Magazins "Futurecasts", das von einem gewissen Dan Blatt betrieben wird. Dort sind auf einigen Unterseiten anscheinend eine ganze Menge an Informationen zur Weltwirtschaftskrise Nr. 1 veröffentlicht, die wohl dem Buch "Understanding the Great Depression and the Modern Business Cycle" von Dan Blatt entnommen wurden. Er selbst beschreibt bzw. bewirbt sein Buch so:
"This is a fact book with over 1800 footnotes and analyses of Great Depression and business cycle controversies based on a plethora of factual evidence. No ideological clap trap! No theory confirmation bias! No political spin! Never let the business cycle catch you by surprise again!"
Diese Selbstbeschreibung deutet schon für sich genommen auf eine Ideologie hin, und tatsächlich scheint Dan Blatt der (amerikanischen) wirtschaftswissenschaftlichen Schule der "Austrians" nahe zu stehen. Im akademischen Betrieb sind das Randfiguren, aber im Internet sind sie sehr populär und vor allem lautstark vertreten. Sie haben auch keineswegs in allem Unrecht (und anscheinend die aktuelle Krise frühzeitig vorhergesagt), aber ich stehe ihnen doch eher kritisch gegenüber (vgl. Blott "Ein Ausflug in die Gedanken-Welt der Österreicher").
Dieses ideologischen Hintergrunds sollte man sich bei der Lektüre der Webseiten (und erst recht natürlich des Buches) bewusst sein; als Fundgrube für Fakten mögen aber diese (anscheinend recht materialreichen) Seiten von Nutzen sein (ich habe sie mir nicht näher angeschaut).
Sehr aufschlussreich für den Vergleich WWK 1 zu WWK 2 dürfte das akademische Arbeitspapier "From Great Depression to Great Credit Crisis: Similarities, Differences and Lessons" der Autoren Miguel Almunia, Agustín S. Bénétrix, Barry Eichengreen, Kevin H. O’Rourke und Gisela Rua sein, das im Oktober 2009 veröffentlicht wurde. Leider werde ich es, u. a. wegen meiner aktuell starken beruflichen Inanspruchnahme, selbst nicht lesen können. Diejenigen meiner Leserinnen und Leser, die ggf. Zeit für die Lektüre finden, sind jedoch herzlich eingeladen, mir und dem Rest der Welt ihre Bewertung bzw. Einschätzung dieser Arbeit als Kommentar mitzuteilen.
Auf der Suche nach einer kostenfreien Download-Seite für den o. a. Text fand ich eine weitere fachwissenschaftliche Arbeit, die einen Vergleich der beiden Weltwirtschaftskrisen versucht:
"Can Great Depression Theories Explain the Great Recession?" von Georg Schlenkhoff , European Business School, Oestrich-Winkel, vom 24. November 2009. Auch diesen Text konnte ich leider nicht lesen, so dass meine o. a. Einladung zu Kommentaren entsprechend gilt.
Eine wahrscheinlich besonders materialreiche, bzw. auf einer besonders materialreichen Datensammlung aufbauende Arbeit dürfte die Studie "Debt and deleveraging: The global credit bubble and its economic consequences"
des "McKinsey Global Institute" vom Januar 2010 sein, die der Frage der Überschuldung und der Notwendigkeit bzw. den Möglichkeiten einer Entschuldung der Wirtschaftssubjekte nachgeht. (Vgl. zu dieser Thematik auch meinen Blott "Einige Fragen an die Hypothese der Instabilität des Finanzwesens (Financial Instability Hypothesis) von Hyman Minsky" mit Überlegungen u. a. zur Debt Deflation Theory of Great Depressions von Irving Fisher.)
Bislang habe ich lediglich die "Executive Summary" gelesen, die jedoch eine Ohrfeige für sämtliche Exkulpierungsversuche der Notenbanken, insbesondere der amerikanischen (allerdings sind ausweislich der Graphik S. 10 die USA nicht einmal das am meisten verschuldete Land), wie auch der Politik in den 'Schuldenländern' enthält (S. 10; meine Hervorhebung):
"Taking a more granular view of leverage within sectors of the economy, we find that households increased their borrowing substantially, particularly through home mortgages. Rising housing prices meant that the ratio of household debt to assets appeared stable in the years prior to the crisis. But household debt compared with disposable income increased significantly, which should have raised a red flag long before the crisis hit."
Natürlich hätte die dramatisch verschlechterte Relation der Verschuldung der Privaten zum verfügbaren Einkommen nicht nur bei Notenbanken und Politikern, sondern auch in denjenigen Institutionen einen Alarm auslösen müssen, die für die Beobachtung der Weltwirtschaft zuständig sind, also beim Internationalen Währungsfonds, der OECD und der Weltbank. Die jedoch haben offenbar sämtlich geschlafen, lediglich die in Basel residierende "Bank der Notenbanken", die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ; englisch "Bank for International Settlements", BIS), bzw. präziser deren 2008 ausgeschiedener Chefvolkswirt William R. White, haben schon sehr frühzeitig (allerdings nach meinem Eindruck auch recht zaghaft) vor krisenhaften Entwicklungen gewarnt. (William White wird übrigens als "Austrian-leaning" bezeichnet bzw. hier heißt es, dass er seinen "inner austrian" herausgelassen habe. Vorher schon hatte das Wall Street Journal ihn als "Austrian" identifiziert. Zum Begriff "Austrian" vgl. das Wikipedia-Stichwort.)
Schon im Jahre 2003 hatte sich White am Schluss seiner Rede "International financial crises: prevention, management and resolution" sehr besorgt gezeigt:
"The global financial system has become more efficient in allocating capital and providing financial services. At the same time, the plethora of recent and prospective difficulties in financial systems worldwide indicates a troubling degree of instability. Many questions can be raised that could attract the attention of academics as well as policymakers. Has the swing to efficiency and away from stability gone too far? How can we predict more accurately the build-up of prospective problems in financial systems? What kinds of institutional relationships between central banks, regulators and other interested parties would best serve to avoid and manage financial difficulties? Is there a reliable way to determine whether a financial problem is likely to have systemic implications? How should we go about estimating sustainable debt levels? Perhaps the only reliable conclusion, and I finish on this note, is that providing answers to such questions could keep many thoughtful people in work for a very long time."
Nachtrag 12.04.10
Interessant erscheint, vom Titel und von der Zusammenfassung her, das Papier "The Great Depression as a credit boom gone wrong" von Barry Eichengreen and Kris Mitchener. Schon im Jahre 2003 verfasst, hätte es eigentlich der Fed und den sonstigen US-Behörden wie der US-Politik zur Warnung gegen eine neue Kreditblase dienen müssen, die verhältnismäßig (Verbraucherverschuldung zu Bruttoinlandsprodukt) noch weitaus größer war als jene der Great Depression. Abstract:
"The experience of the 1990s renewed economists’ interest in the role of credit in macroeconomic fluctuations. The locus classicus of the credit-boom view of economic cycles is the expansion of the 1920s and the Great Depression. In this paper we ask how well quantitative measures of the credit boom phenomenon can explain the uneven expansion of the 1920s and the slump of the 1930s. We complement this macroeconomic analysis with three sectoral studies that shed further light on the explanatory power of the credit boom interpretation: the property market, consumer durables industries, and high-tech sectors. We conclude that the credit boom view provides a useful perspective on both the boom of the 1920s and the subsequent slump. In particular, it directs attention to the role played by the structure of the financial sector and the interaction of finance and innovation. The credit boom and its ultimate impact were especially pronounced where the organisation and history of the financial sector led intermediaries to compete aggressively in providing credit. And the impact on financial markets and the economy was particularly evident in countries that saw the development of new network technologies with commercial potential that in practice took considerable time to be realised. In addition, the structure of management of the monetary regime mattered importantly. The procyclical character of the foreign exchange component of global international reserves and the failure of domestic monetary authorities to use stable policy rules to guide the more discretionary approach to monetary management that replaced the more rigid rules-based gold standard of the earlier era are key for explaining the developments in credit markets that helped to set the stage for the Great Depression."
Nachträge 20.07.2011
Im Juli 2011 hat die in Basel sitzende Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ, engl. Bank for International Settlements - BIS) in der Veröffentlichungsreihe "Working Papers" die Nr. 348 publiziert. Darin geht es um "The international propagation of the financial crisis of 2008 and a comparison with 1931", also um einen uns im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Vergleich (eines bestimmten Aspektes) der Great Depression und der (irgendwie aktuell ja noch immer virulenten) Weltfinanzkrise von 2008 ff. Autoren: William A. Allen and Richhild Moessner.
"Abstract:
We examine the international propagation of the financial crisis of 2008, and compare it with that of the crisis of 1931. We argue that the collateral squeeze in the United States, which became intense after the failure of Lehman Brothers created doubts about the stability of other financial companies, was an important propagator in 2008. We identify some common features in the propagation of the two crises, the most important being the flight to liquidity and safety. In both crises, deposit outflows were not the only important sources of liquidity pressure on banks: in 1931, the central European acceptances of the London merchant banks were a serious problem, as, in 2008, were the liquidity commitments that commercial banks had provided to shadow banks. And in both crises, the behaviour of creditors towards debtors, and the valuation of assets by creditors, were very important. However, there was a very important difference between the two crises in the range and nature of assets that were regarded as liquid and safe. Central banks in 2008, with no gold standard constraint, could liquefy illiquid assets on a much greater scale."
Den Text habe ich nicht gelesen; auf jeden Fall kann das Papier aber wohl nur sehr begrenzt Aufschluss über die hinter den beiden Krisen wirkenden tieferen Ursachen liefern. Überhaupt sehe ich ein Risiko für die Krisenerkenntnis darin, dass derartige technische Analysen von bestimmten, temporär im Finanzsystem wirksamen Mechanismen diese Ursachen verschleiern: man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.* Oder anders gesagt: Diese und andere derartige Studien zeigen (vermutlich) auf, in welcher Weise schon längst bestehende ökonomische Verzerrungen plötzlich für alle Marktteilnehmer sichtbar geworden sind und wie sich dadurch deren Verhalten (ggf. krisenverschärfend) verändert hat. Im geologischen Vergleich gesprochen: Hier wird erforscht, wie und wo sich bei einem Erdbeben Spalten im Boden geöffnet haben; was wir aber wirklich brauchen, um aus der Krisen-Geschichte zu lernen, wäre eine Erkenntnis, wie sie in der Geologie die Verschiebung der Kontinentalplatten darstellt.
Die den 'Marktbeben' zu Grunde liegenden Verspannungen müssten wir erkennen. Danach haben schon viele gesucht und entsprechende Theorien vorgelegt; bisher konnte die Wissenschaft aber noch keine Einigkeit erzielen. Mich überzeugt am ehesten die Unterkonsumtionstheorie als Krisenursache (vgl. auch meinen bereits oben erwähnten Blott "Die Ökonomie der Artos-Phagen: Warum eine eigentumsbasierte Geldwirtschaft (im Basismodell) nicht dauerhaft funktionieren kann."). Sollte das zutreffen, dann dürfte die Krise noch lange nicht ausgestanden sein.
[* Damit will ich jedoch mitnichten den Wert solcher technischer Studien leugnen. Zum einen braucht man deren Erkenntnisse, um akut auftretende Finanzmarktprobleme zu bekämpfen (analog: für den Bau von erdbebensicheren Hochhäusern braucht man Kenntnisse über die bei solchen Beben an der Oberfläche wirksamen Kräfte; das allgemeine Wissen um die Kontinentalplattenverschiebung nützt da gar nichts). Zum anderen führen ja vielleicht irgendwelche Ariadnefäden der Erkenntis von der technischen zu den dahinter stehenden Ebenen. Denn, wie Robert J. Shiller so hübsch formuliert: "Armchair scientists will never get far; observation makes all the difference."]
An der Oberfläche sieht es im Moment freilich ganz gut aus. Dem entsprechend jubilierte Karl Aiginger in dem von der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich betriebenen Blog "Ökonomenstimme" bereits am 22.03.2010 : "„Finanzkrise“ versus „Große Depression“: (k)ein Vergleich":
"Die Wirtschaftspolitik und die Wirtschaftswissenschaften haben also aus der Weltwirtschaftskrise gelernt. Auch Wirtschaftswissenschafter, die in den Jahren vor der Finanzkrise keynesianischer Gegensteuerung skeptisch gegenüberstanden und gegen eine antizyklische Geld- oder Fiskalpolitik waren, schwiegen während der Krise oder befürworteten Gegensteuerung. Auch Länder, die vehement gegen öffentliches Eigentum waren, verstaatlichten vorübergehend Banken und auch Industriebetriebe. Und schnürten Konjunkturpakete, selbst wenn dadurch das Defizit des Staates über 10% stieg. Wenn Wirtschaftswissenschafter heftig kritisiert werden, sie hätten nicht stärker vor der Krise gewarnt, muss man doch festhalten, dass die Wirtschaftswissenschaft in der Krise tendenziell die richtigen Ratschläge gab. Dass die „Feuerwehrmaßnahmen“ zu wenig strukturell waren, zeigt sich etwa im geringeren „Grün-Gehalt“ der Maßnahmen und am geringeren Anteil von Zukunftsinvestitionen (z. B. Bildung, Forschung). Die Reform der Regulierung des Finanzmarktes hat noch nicht stattgefunden und generell fehlt ein Leitbild, wie künftige Krisen verhindert werden können oder wie die Wirtschaft krisenresistent gemacht werden kann (Aiginger, 2009B, ist ein Versuch). Und der Ausstieg aus der Krise ist ebenso wichtig wie die richtigen Reaktionen am Beginn der Krise.
Die vorliegende Evidenz zeigt aber sehr deutlich, dass die Wirtschaftspolitik die Länge und Tiefe der Krise begrenzt hat. Die Dynamik der Finanzkrise in der Anfangsphase (ab Sommer 2008) war für viele Indikatoren (besonders Industrie und Export) ähnlich stark wie in der Weltwirtschaftskrise. Die Globalisierung des Handels, der Investitionen und der Finanzmärkte hätte die Gefahr einer Krise in der Stärke der Weltwirtschaftskrise in sich gehabt, wenn nicht die Politik anders reagiert hätte – und China und Indien nicht Reserven gehabt und diese auch mobilisiert hätten."
Rainer Sommer hat unter der Überschrift "Schlechte Nachricht für Goldwährung: Goldstandard schuld an Großer Depression" bei Telepolis am 11.07.11 die Forschungsergebnisse für uns Laien verständlich zusammengefasst (meine Hervorhebung):
"Während die Versorgung mit als sicher geltenden Finanzanlagen 1931 also unelastisch war und im Krisenverlauf immer weiter zurückging, war 2008 das Gegenteil der Fall. So sei die wichtigste Lehre aus 1931 die Einsicht gewesen, dass es die Regierungen im Krisenfall ermöglichen müssen, die Verfügbarkeit derartiger Anlagen sicherzustellen.
Dadurch blieb das internationale Finanzsystem wesentlich stabiler als 1931, wodurch auch die kurzfristigen Folgen für die Realwirtschaft wesentlich schwächer ausfielen. Allerdings halten es die Experten noch für viel zu früh, ähnliches auch für die langfristigen Folgen zu konstatieren. Immerhin zeigen sich inzwischen die Folgen der expansiven Politik, die sich nun etwa in der Eurozonenkrise und den Budgetproblemen der USA widerspiegelt, deren Folgen bislang noch unabsehbar sind. Klar ist indes, dass der damalige Goldstandard weder imstande war die massive Überschuldung und das Spekulationsfieber der späten 1920er Jahre zu verhindern, noch dann in der Krise zur Rettung des Finanzsystems und der souveränen Staaten beitragen konnte."
Im "Geschichtsforum" hat sich aus einer Diskussion über die damalige amerikanische Automobilindustrie eine anspruchsvolle und höchst informative Debatte über die Ursachen der Great Depression entwickelt: "Great Depression und Weltwirtschaftskrise - Auslöser und Rahmenbedingungen" 26.03.11 ff.).
Einer von denen, der die Immobilienkrise noch verhältnismäßig früh (2003 und 2004, sowie, anscheinend mit jeweils größerem Nachdruck, 2005 und 2006) vorausgesehen, vor allem aber seine Bedenken solide mit (historischen) Daten untermauert hat, war der bereits oben erwähnte US-Wirtschaftswissenschaftler Prof. Robert J. Shiller. Er setzt jetzt seine Hoffnung für die Bekämpfung zukünftiger Krisen auf bessere Datenmessungen und Datenanalysen: "Needed: A Clearer Crystal Ball" titelte er seinen Meinungsbeitrag in der New York Times vom 30.04.2011.
[Zu Shiller vgl. auch meinen Blott "Was willer, der Robert Shiller?" vom 20.07.09.]
"Did France cause the Great Depression?" fragt Douglas A. Irwin vom Dartmouth College in einem Arbeitspapier vom November 2010.
"Abstract
The gold standard was a key factor behind the Great Depression, but why did it produce such an intense worldwide deflation and associated economic contraction? While the tightening of U.S. monetary policy in 1928 is often blamed for having initiated the downturn, France increased its share of world gold reserves from 7 percent to 27 percent between 1927 and 1932 and effectively sterilized most of this accumulation. This “gold hoarding” created an artificial shortage of reserves and put other countries under enormous deflationary pressure. Counterfactual simulations indicate that world prices would have increased slightly between 1929 and 1933, instead of declining calamitously, if the historical relationship between world gold reserves and world prices had continued. The results indicate that France was somewhat more to blame than the United States for the worldwide deflation of 1929-33. The deflation could have been avoided if central banks had simply maintained their 1928 cover ratios."
Wenn es so war, stellt sich für mich die Frage, ob wir in der französischen Goldhortung von damals ein funktionelles Äquivalent für die Leistungsbilanzüberschüsse Chinas (und Deutschlands, wobei jedoch hier die Überschüsse durch die Leistungsbilanzdefizite anderer Länder der Eurozone zur 'Außenwelt' in gewisser Weise neutralisiert werden) sehen müssen?
Arthur B. Laffer, der Entdecker der Laffer-Kurve (ausführlicher ist der Eintrag "Laffer-curve" in der englischsprachigen Wikipedia), die einen Zusammenhang zwischen nominellen Steuerquoten und realem Steuereingang beschreibt, sieht die Steuerpolitik als Hauptschuldige für die Great Depression. So in seinem Beitrag vom 22.09.2009 für das Wall Street Journal
"Taxes, Depression, and Our Current Troubles":
"Tariffs, rising state and federal taxes, and currency devaluation ruined the 1930s, and they could do the same today."
Dies scheint mir freilich eine sehr ideologisch bestimmte Sicht der Dinge zu sein, denn dass die Steuernachlässe der Bush-Regierung für die Wohlhabenden die US-Wirtschaft gestärkt hätten, erscheint mir sehr zweifelhaft.
Zwar hatte der "Smoot–Hawley Tariff Act" (das von dem Senator Reed Smoot und dem Abgeordneten Willis C. Hawley erwirkte Zollgesetz vom Juni 1930, das die Einfuhren in die USA für eine Vielzahl von Gütern enorm verteuerte) mit Sicherheit eine krisenverschärfende Wirkung. Das aber wohl nicht einmal so sehr durch seine Wirkung als Steuererhöhung, sondern wegen der Vergeltungsmaßnahmen anderer Staaten, die natürlich ihrerseits Importe aus den USA mit Strafzöllen belegten. (Vgl. dazu auch das viel gelobte Buch "Peddling Protectionism: Smoot-Hawley and the Great Depression", ebenfalls von dem bereits erwähnten Douglas A. Irwin; Rezension z. B. hier.)
Nachtrag 17.05.2016
Vgl. zum vorliegenden Thema auch meinen Blott "Yes, we know! Zumindest könnten wir die eigentlichen Gründe für die neue Weltwirtschaftskrise kennen" vom 07.11.2008.
Textstand vom 01.01.2018
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