Sonntag, 22. März 2009

Twingly als teuflische Versuchung: Intellektuelle Jingle Mail von mir zum Handelsblatt?


In einer ganzen Reihe von amerikanischen Bundesstaaten (darunter dem für den Immobilienmarkt sehr wichtigen bzw. für die Immobilienkrise in hohem Maße "verantwortlichen" Kalifornien) besteht die gesetzliche Möglichkeit, eine Immobilienhypothek als "nonrecourse debt" oder rückgriffslose Verbindlichkeit, aufzunehmen. Dem Gläubiger gegenüber haftet dabei lediglich die Immobilie, nicht der Hauskäufer persönlich mit seinem sonstigen Vermögen. Das bietet natürlich einen erheblichen Anreiz, bei einem starken Preisverfall aus dem Haus auszuziehen und es dem Leihgeber zu übergeben.

Auf der Webseite des National Public Radio (ja ja, auch so etwas gibt es in den USA!) wird der Sachverhalt in einem Beitrag vom 13.02.2008 unter der Überschrift "Why Not Just Walk Away from a Home?" anschaulich beschrieben.
Die Kreditbranche mag ein solches "walk away" (für das im Internet sogar Beratung - allerdings kostenpflichtig - angeboten wird, s. a. hier) weniger und nennt es deshalb "ruthless default" - rücksichtslose Zahlungseinstellung.
(Zur Diskussion über dieses Verhalten bzw. dessen mögliche Auswirkungen vgl. z. B. auch hier, und da .)

Der Volksmund hat einen einprägsameren Begriff gefunden: "Jingle Mail", nach dem Klingeln der Schlüssel im Briefumschlag, welche der Schuldner seiner Gläubigerbank (bzw. dem Service Provider für die Hypothekenabwicklung?) zurückschickt. Hier taucht der Begriff z. B. auf der Webseite RGE Monitor von Nouriel Roubini alias Dr. Doom auf, dort im Blog von Paul Krugman.


Einem Anreizproblem anderer Art sehe ich mich selbst konfrontiert. Das Handelsblatt "wird ab morgen neben jedem Artikel Weblogs verlinken, die diesen Artikel zitieren, beziehungsweise verlinken" konnte man am 28.01.2009 im Handelsblatt-Blog "Indiskretion Ehrensache. Notizen aus dem Journalistenalltag von Thomas Knüwer" lesen.

Und am 29.01.2009 im Handelsblatt-Artikel "Blogwelt. Handelsblatt.com nutzt Twingly":
"Handelsblatt.com geht neue Wege: Die Online-Ausgabe der deutschen Wirtschaftszeitung Handelsblatt setzt ab heute den Blogservice Twingly Blogstream ein. Handelsblatt.com ist damit die erste deutsche Zeitung online, die ihre Artikel mit der Blogwelt verknüpft.
Mit Hilfe von Twingly Blogstream verlinkt Handelsblatt.com zurück zu Blogs, die ihrerseits direkt auf bestimmte Artikel verweisen
."

Nicht zu Unrecht beschreibt Ole Reißmann das in seinem ausführlichen Eintrag vom 28.01.2009 "Handelsblatt verlinkt uns alle" auf "Medienlese.com" als eine "Win-Win-Situation": Das Handelsblatt erhöht den Pagerank für seine Artikel bei Google (und vermutlich auch anderen Suchmaschinen); der Blogger kann sich über Zugriffe neugieriger Leser (möglicherweise auch der Autoren oder der Handelsblatt-Redaktion) freuen.
[Auf der Twingly-Webseite wird die Ratio für die Redaktionen, Bloglinks zu ihren Artikeln zu publizieren, so beschrieben:
"Twingly Blogstream helps you stimulate the global blogosphere to cover your content. With the Blogstream widget on your site you link back to the bloggers that link to you, giving them the attention that they value to continue to link to your content. You enrich your content with an increasing number of incoming links. This drives traffic to your site and helps improving your SEO results.
With Blogstream the number of weekly bloglinks increases by on average 250% within a few weeks time. You enrich your content and get more incoming links which drive traffic to your site."]

Die Zugriffszahlen ("Rückgriffe" auf den eigenen Blog) kann man als Blogger wahrscheinlich erheblich steigern, indem man unverzüglich auf die Handelsblatt-Artikel verlinkt. Schon am nächsten Tag wird die kaum noch jemand anschauen.
Das kann einen in die Versuchung bringen, rasch irgendeinen Blott rauszuhauen, nur um verlinkt zu werden. Und zu möglichst vielen Artikel zu verlinken, auch wenn deren Substanz dünn ist, und/oder sie nicht in den Kontext des eigenen Blogs passen usw.

Ein weiteres Problem rührt hauptsächlich von meinen ganz persönlichen Blogstil (möglicherweise aus Lesersicht eher eine Unart) her: die Einträge sind häufig recht lang und werden, wie ich heute an anderer Stelle formuliert habe, im Laufe der Zeit mit Informationen angereichert wie das Plutonium in iranischen Zentrifugen.

Twingly ist aber wohl eher eine Dünnbrettbohrmaschine. Wenn ich also beispielsweise in meinem Langblott "Opel: Rettung für lebendige Tote? Steuergroschen für GM? Ist Deutschlands Politik plemplem?" ziemlich weit am Schluss den Handelsblatt-Artikel "Opel – ein Autobauer entzweit die Republik" verlinke, wird man dort (sofern man überhaupt die Geduld aufbringt, das Verschwinden der Werbeschaltung abzuwarten, welche zunächst die Blogkommentaranzeige am rechten Rand überlagert) keinen Rücklink zu meinem Blott finden. (Deshalb bin ich auch nicht motiviert, dort die zahlreichen aktuellen Beiträge zur Opel-Krise zu verlinken, was an sich insofern nicht schlecht wäre, als es einen chronologischen Überblick über die Entwicklung dieses Themas in der öffentlichen Debatte geben könnte. Aber das wäre für mich insofern mit erheblichem Aufwand verbunden, als ich dann nicht einfach nur die Überschriften einkopieren und verlinken würde, sondern auch eine kurze Inhaltsangabe und/oder eigene Positionierung. Ohne Rücklink ist ein solcher Aufwand aber unrationell: ich möchte ja noch zahlreiche andere Felder in Politik und Wirtschaft observieren.)

Ich werde also meinen Stil und mein Bemühen um Erreichung des mir möglichen Qualitätsniveaus meiner Einträge beibehalten; "Echoverlinker" gibt es in der Bloggerszene schon genügend. Und ich verfolge mit meiner Bloggerei andere Zielsetzungen als diejenige, ein Handelsblatt-Symbiose-Blogger zu werden.
Es kann jedoch nicht schaden, wenn ich mich von Zeit zu Zeit selbstreflexiv mit jenen Versuchungen auseinander setze, welche mich vom Pfad der intellektuellen Redlichkeit abzubringen drohen.


Nachträge 15.05.09

Da schau her: bei der Rückverfolgung eines Zugriffs auf einen meiner Karstadt-Blotts stelle ich fest, dass es auch bei der Wirtschaftswoche twingelt. Auch hier ist mein Blott aufgeführt neben dem Artikel "Die Todsünden von Arcandor" vom 12.05.09. Ich habe gewiss nichts dagegen! ;-)

Auf dieser Twingly-Unterseite sind übrigens diejenigen Medien aufgelistet, die mit Twingly kooperieren.

Mittlerweile bin ich bei der Rückverfolgung von Suchzugriffen auf meinen Blog auch in Blogs auf Twingly-Spuren gestoßen und habe bei weiterer Verfolgung festgestellt, dass man ein "Widget" in seine Blog-Software einbauen kann, durch welches Bezugnahmen anderer Blogger auf den eigenen Text automatisch zu einem Link zum Fremdblog führen. Habe es jetzt tatsächlich geschafft, dieses Feature in meinen Vorlagencode einzubauen (siehe unten). Fragt sich nur, sich die Mühe überhaupt lohnt: Fremdreferenzen zu mir habe ich bislang so gut wie keine konstatiert.


Textstand vom 16.06.2023

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