Sonntag, 15. Oktober 2006

VIVA - WER? oder KULTUR-WARENUNTERSCHIEBUNG

Meine Urlaubserinnerungen mehr allgemeiner Art an die Kurstadt an der Oos finden Sie unter "Impressionen aus Baden-Baden" (mit Bildern).
[Nachtrag: Mittlerweile sind auch deutlich bessere Bilder online: unter Herbsterinnerungen an Baden-Baden]

Das Badewesen habe ich in meiner mikroökonomischen Studie "Baden-Badener Thermalsozialismus" untersucht.

Was fehlt? Richtig: ein Bericht zur Kultur - und schon haben wir eine vollständige Baden-Baden-Trilogie.



Wenn Sie freilich bei "Kultur" an die Ausstellung der Bilder von Marc Chagall im Museum Frieder Burda denken, muss ich Sie enttäuschen. Chagall ist, ganz vorsichtig gesagt, nicht mein Lieblingsmaler und deshalb ersparte ich mir Geld und Gedränge und wartete geduldig auf einem Sitz im Foyer, bis meine Frau zurück kam.

Antonio Vivaldi dagegen ist einer meiner Lieblingskomponisten (kein Wunder, bei den Ohrwürmern, die der komponiert hat!).
Im Programm des Festspielhauses heißt es "Antonio Vivaldi. 'Andromeda Liberata'. Oper in konzertanter Aufführung".
Daran sind gleich -2- Dinge falsch, denn erstens handelt es sich nicht um eine Oper, sondern um eine Opernserenade, und zweitens wurde diese aller Wahrscheinlichkeit nach nicht allein von Vivaldi komponiert, sondern ist ein so genanntes "Pasticcio" mit Stücken verschiedener Komponisten. Eine Art Potpourri, wie wir heute in der Unterhaltungsmusik sagen würden, und genau diese Funktion - einer Unterhaltungsmusik - dürfte auch diese Serenade seinerzeit gehabt haben.

In der Pressemitteilung des Festspielhauses formuliert man so:

"Herbstfestspiele 2006 - Antonio Vivaldi: 'Andromeda Liberata'. ...
'Vivaldis Venedig': Die Opern-Serenade [sic!] 'Andromeda Liberata' - Di, 3. Oktober 2006, 18 Uhr. Venezianischer Barock auf höchstem Niveau.
BADEN-BADEN – Vivaldi 'groovt und swingt' zum Auftakt der Herbstfestspiele 2006 im Festspielhaus Baden-Baden: Das Venice Baroque Orchestra und Dirigent Andrea Marcon sind bekannt für ihre beschwingten Interpretationen mit Ohrwurmgarantie. Am Dienstag, den 3. Oktober 2006, um 18 Uhr präsentieren sie im Festspielhaus die Opern-Serenade 'Andromeda Liberata' von Antonio Vivaldi."

Ziemlich am Schluss heißt es dann:
" 'Vivaldis Venedig'. Die Opern-Serenade 'Andromeda Liberata'.
Oper in konzertanter Aufführung."
[Hervorhebungen von mir]

"Vivaldis Venedig" ist der offizielle Titel der Veranstaltung; auf diese Bezeichnung lauten auch die Eintrittskarten. Das könnte man rein formal als korrekt ansehen, denn zweifellos stammt das Pasticcio aus Venedig und aus der Zeit Vivaldis. Trotzdem ist natürlich auch diese Bezeichnung eine Täuschung, weil auch sie dem Unkundigen eine (Allein-)Urheberschaft von Vivaldi suggeriert.

Im
Magazin des Festspielhauses ...

... lesen wir wiederum (in einem Kasten auf S. 27 zu einem längeren Artikel über das Werk, die Stadt Venedig und über Andrea Marcon, Dirigent und Leiter der reisenden venezianischen Operntruppe "Venice Baroque Orchestra", welche das Werk aufführt) "Vivaldis Venedig" und darunter "Antonio Vivaldi. Andromeda Liberata".

Und schließlich im Programmteil (S. 50)noch einmal dasselbe, sogar dreist mit dem Zusatz "Dort [in Venedig] komponierte Antonio Vivaldi 1726 seine Opernserenade ...". [Hervorhebungen von mir]




Die Musikwelt streitet sich über den Anteil Vivaldis, aber angesichts der nicht durchgängig hoch inspirierten Musik (über welche die Arie "Sovvente il sole" herausragt, die als einzige zweifelsfrei von Vivaldi stammt) erscheint mir eine alleinige Autorschaft Vivaldis extrem unwahrscheinlich.

In dem englischsprachigen Blog eines gewissen John Wall lesen wir (Eintrag vom 03.03.05):
I started by listening to the recent DG-Archiv recording of Andromeda Liberata, a pasticcio serenata with one aria known to have been composed by Vivaldi. It is marketed as by "VIVALDI and others". Ulrike Benning wrote on the DG website that "Michael Talbot has found unmistakable signs that some of Vivaldi's contemporaries - for example, Giovanni Porta and Tomaso Albinoni - were involved in the composition." In an article in the NY Times on 21 November 2004 [s. Link am Ende], Michael White reported that Talbot "insists . . . that Vivaldi's part in it was small: perhaps no more than one aria." Talbot added that "it's almost fraudulent" for DG to put Vivaldi's name up front. [Hervorhebung von mir]

Nun, die Gestaltung der CD-Hülle kann man eigentlich nicht "fraudulent", "betrügerisch" also, nennen. Hier lesen wir eindeutig "Vivaldi and others". Und dass "Vivaldi" etwas hervorgehoben und die anderen graphisch etwas in den Hintergrund gerückt sind - na ja, das ist halt Werbung ... .

Nicht in Ordnung ist es jedoch, dass das Baden-Badener Festspielhaus Besucher mit einer Strategie anlockt, welche juristisch aus meiner Sicht als Vorspiegelung falscher Tatsachen zu qualifizieren ist.
Man sieht: nicht nur bei "Leder"gürteln wird der Kunde über's Ohr gehauen.
Es hat übrigens auch nicht viel geholfen: "Das Festspielhaus war an diesem Abend nicht gerade üppig besetzt" schreibt zutreffend die Kritik der Pforzheimer Zeitung.
(Wir hatten durch die Besprechung im Baden-Badener Tagblatt, die ich leider nicht aufgehoben habe, ebenfalls vom 05.10.2006, von der Täuschung erfahren.)

Trotz allem war es ganz nett, und allzu teuer war es ja auch nicht. Wobei uns allerdings im Vorverkauf in der Trinkhalle zuerst Karten zu 35,- € als billigste angeboten wurden; hätten wir uns nicht vorher im Internet informiert, wären wir auch da getäuscht worden. Und wenn ich 35,- € bezahlt hätte, dann wäre ich am Ende wohl doch noch richtig sauer geworden. Zumal nach meinem (freilich laienhaften) Eindruck manche der Sänger(innen) gelegentlich Schwierigkeiten mit extremen Tonlagen hatten.

Wenn ich die verschiedenen Rezensionen der CD lese, scheinen sie mir alle ein wenig hoch zu greifen in der Beurteilung.
Nur in einem französischen, nicht-kommerziellen Musikportal finde ich eine unbefangene Wertung, mit der ich mich identifizieren kann:
"Cet Andromeda Liberata n’est donc pas un indispensable du prêtre roux, si toutefois l’œuvre est bien de sa composition. Muni d’une télécommande pour zapper les récitatifs, on peut toutefois passer un bon moment, l’œuvre n’étant pas dépourvue de passages très forts. Mais le répertoire classique regorge d'oeuvres plus intéressantes et moins onéreuses alors à moins que vous ne soyez fan de Vivaldi (on dit vivaldiste, parait-il) vous pouvez passer votre chemin."
schreibt da jemand unter dem Pseudonym "CHIPSTOUILLE". In zusammenfassender Übersetzung also: "Nicht schlecht, aber es gibt Besseres auf dem Klassik-Markt".
Touché!
Ein Werk des "prete rosso", des rothaarigen Priesters Antonio Vivaldi, ist es nicht, und unverzichtbar für den Klassikfreund sicherlich auch nicht.


Hier für evtl. einschlägig Interessierte noch einige kommentierte Links:

- Frédéric Delaméa, Interview mit Andrea Marcon, Leiter des Venice Baroque Orchestra.

Zu einer Aufführung im Teatro Amilcare Ponchielli vom Juni 2006:
- Besprechung von Maria Maddalena Schito (in englischer Übersetzung) und
- Besprechung von "Videodrome" (Pseudonym wohl für Claudio Zambini).

Überraschend in beiden Fällen, das die Verfasser davon ausgehen, dass es sich um ein Pasticcio mit Stücken von Albinoni, Porpora, Porto und Biffi handelt - und von Vivaldi (nur) der Arie "Sovvente il sole". "Videodrome" gibt sogar genaue Zahlen an, wie viele Einzelstücke von welchem Komponisten stammen; in der Besprechung von Schito im "giornale della musica" wird immerhin die möglichkeit eingeräumt, dass "attribution of the work may still be open to debate".
Über die Quellen der Komponistenzuschreibungen machen die Verfasser keine Angaben; ich vermute, dass es sich um die Meinung des venezianischen Forschungsinstituts "Istituto Italiano Antonio Vivaldi" oder vielleicht von Prof. Michael Talbot, der in der Einführung zu dem o. a. Interview von Delaméa als "principal researcher" dieses Musikforschungsinstituts genannt wurde (im Jahre 2003).

- Das Programmheft zur CD von Olivier Fourès, in englischer Übersetzung (aus dem Französischen?) gibt es hier; selbst Fourès geht davon aus, dass die Komposition großenteils (aber nicht gänzlich) von Vivaldi stammt und wahrscheinlich von Vivaldi zusammengestellt wurde. Der Text war auf der Webseite der Carnegie Hall eingestellt, ist jetzt aber nur noch im Google Cache hier und dort zu finden.


- In die CD-Aufnahme reinhören (und übrigens auch diskutieren, bisher hat aber noch niemand sich geäußert) kann man bei Klassik-Akzente.

- Und schließlich hat noch ein gewisser "Gentario" die CD ausführlich besprochen (auf italienisch).


Die Fondazione Cini, die das Vivaldi-Institut in Venedig trägt, hat ein Buch über das Werk veröffentlicht. Als Textdichter wird darin Vincenzo Cassani angenommen, "librettista abile e originale che operò a Venezia nei decenni secondo e terzo del secolo XVIII".

Der Artikel "The Vivaldi Hunters" von Michael White, ursprünglich aus der New York Times vom 21.11.2004, gewährt u. a. einen kleinen Einblick in den Streit der Experten:
"British music professor Michael Talbot ... isn't much impressed by Mr. Fourés's claims. ... He insists that "Andromeda" is a pasticcio, a collective work by many hands, and that Vivaldi's part in it was small: perhaps no more than that one aria.
Some months ago he wrote to Deutsche Grammophon to say so, and as a result, the discs are being marketed as by "Vivaldi and others." But Professor Talbot considers even this to be a falsification. "I can understand why they put Vivaldi's name up front," he says, "but it's almost fraudulent. They shouldn't do it." By way of response, Mr. Marcon, Venice Baroque's founder and director, argues that Professor Talbot has his own agenda. "It's hard," he says, "for a musicologist to admit, 'I had this manuscript in my hands 10 years ago, and I didn't realize what it was.' So they attack. And Talbot's attacks make me angry. You know he wrote to Deutsche Grammophon to try and stop them from issuing the discs? As though I was stupid or naïve in doing them. Well, I'm not stupid. I do my job. Talbot should do his."
[Hervorhebung von mir]





Textstand vom 20.10.2006. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
finden Sie eine Gesamtübersicht meiner Blog-Einträge.

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