Sonntag, 9. November 2008

Meinen Kommentar zu Barack Obama und zur europäischen Obamania 'klaue' ich mir von Jean Bricmont


Jean Bricmont ist Physiker, und mir sympathisch als Ko-Autor des Buches "Fashionable Nonsense", gemeinsam mit Alan Sokal, ebenfalls Physiker, der den Philosophen, bzw. genauer: den postmodernen Dummschwätzern unter den Philosophen, im Jahre 1996 mit einem Nonsense-Papier "Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity" einen genialen Streich gespielt hatte ("Sokal-Affair").

Auf der fundamental kritischen (im amerikanischen Polit-Spektrum wohl als "links" einzuordnenden) US-Webseite "Counterpuch" hat sich der Belgier Jean Bricmont in der Ausgabe 7.-9.11.08 über den jetzt zum neuen amerikanischen Präsidenten gewählten Barack Obama geäußert. Der "Counterpunch" ist ohnehin außerordentlich kritisch eingestellt gegenüber Obama, von dem in der Innenpolitik allenfalls kleinere Korrekturen erwartet werden und in der Außenpolitik weitgehend eine Fortführung des bestehenden Kurses. Bricmont untersucht aber speziell unsere europäischen Erwartungen bzw. Einstellungen in seinem Essay "A View From Europe. Our Obama Problem".
Eine Lektüre des ganzen Artikels kann ich allen 'Obamamaniacs' in Europa nur dringend ans Herz legen; ich beschränke mich hier auf eine Wiedergabe der beiden Schlussabsätze (meine Hervorhebungen):
"But the deepest problem is that, sixty years after the end of WW2, Europeans still see themselves as somehow dependent on the United States. For their elites, the reasons are clear and understandable, but the rest of us, including a big part of the Left, still put too much of our hopes in expecting the US population to elect a “good prince”, as they have just done with Obama. We should determine our foreign policy, and our social model irrespective of American choices and we should not be afraid of talking with other countries, like Russia, China or Iran without worrying what Uncle Sam thinks. Europeans often view the United States as a model of democracy, but there can’t be anything more undemocratic than for us to determine our policies in a way that depends on elections in which we do not participate.
The US population elects its president, not the Master of the Universe. This seems to be understood nowadays in Russia, Asia, Latin America and the Muslim world. Only in Europe do we still need to decolonize our minds.
"

Deutlich zahmer, aber ebenfalls skeptisch gegenüber der europäischen Obama-Euphorie, äußert sich Fritz-Vannahme in der ZEIT ONLINE vom 5.11.2008 u. d. T. "Europas Hoffnungen in Obama. Eine neue transatlantische Zeit? Was die Europäer mit Barack Obama erwartet – und was sie besser von ihm nicht erwarten sollten." "Obama wird ihnen nicht im Stil, aber in der Sache jede Menge Kontinuität vorsetzen" schreibt er u. a.. Zum Schluss macht er zwar eine Pirouette ins Positive ("Alles ruft also nach einem vernünftigen Umgang gerade zwischen Europäern und Amerikanern. Dafür müssten beide Seiten, zusammen mit anderen Nationen, eigentlich nur die Agenda der Herausforderungen sorgfältig studieren – und dann abarbeiten"), aber der Artikeltitel verrät mehr (und ist aussagekräftiger) aus als der arg vorsichtige Text selbst sich traut.

Well: let's wait and see.
Nicht warten sollten wir allerdings damit, die politische Einigung (Kern-)Europas voranzutreiben. Durch die Überdehnung der Mitgliederzahlen der Europäischen Union haben sich die Bedingungen dafür zwar stark verschlechtert. Andererseits sollte uns die aktuell schon erkennbare und sich mit Sicherheit schnell verschärfende Welt-Wirtschaftskrise vor Augen führen, dass auch ein im europäischen Vergleich relativ großes Land wie Deutschland im weltweiten Ringen (zukünftig insbesondere: um die Rohstoffe) kein Gewicht in die Waagschale werfen kann.
Warum nehmen wir den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy nicht beinahe beim Wort und springen auf seine Forderung nach einer europäischen Wirtschaftsregierung auf? Nur das einschränkende "Wirtschafts-" müssten wir amputieren. Was wir brauchen, ist eine europäische Regierung!
Wir sollten auch nicht zögern, ggf. "Europa" in der Weise zu reorganisieren, dass einige Länder, die jetzt der EU angehören, eher den Status von assoziierten Mitgliedern erhalten. Ein Europa also, dass sehr deutlich ein solches der "zwei Geschwindigkeiten" ist.
Wir werden vor solchen radikalen Maßnahmen zurück schrecken, und wollte jemand derartige Gedanken als Erster auf dem politischen Felde äußern, wäre er oder sie "verbrannt". Jedoch: es muss sein, das Schicksal will's. Entweder vereinen wir uns entschlossen, oder der Laden wird bei einer Verschärfung des Kampfes um die Rohstoffe auseinander fliegen.
Muss es wirklich sein? Nein, es müsste zwar sein, aber in der Realität werden wir Europäer weiter wurschteln wie gehabt - bis sich die Welt irgendwann so verändert hat, dass die subtile Statik unseres europäischen Bauwerks kollabiert.
Dann ist es aus mit einem europäischen Haus.
Schade.


Nachtrag 09.12.08
Eine positive Meinung über Europas Obamamania vertritt dagegen Jan Buruma auf der Webseite von "Project-Syndicate".


Nachtrag 15.12.09
"Banken-Rettungsplan. So nicht, Herr Geithner!" ruft Mark Schieritz in der ZEIT ONLINE vom 11.02.2009 dem US-amerikanischen Finanzminister zu (meine Hervorhebung):
"Es ist sicher nicht angenehm für eine Regierung, einen ganzen Wirtschaftssektor zu verstaatlichen. Gerade in Amerika. Aber es ist die sauberste Lösung, so haben es auch die Schweden einst erfolgreich gemacht. Desillusionierend ist insbesondere die Begründung, mit der Obama diesen Weg ablehnt. Auf seiner ersten Pressekonferenz kam der Präsident auf das schwedische Modell zu sprechen – um es dann mit dem Argument, es gebe in den USA eben "andere Traditionen" zurückzuweisen. Das ist nicht Ökonomie, sondern Ideologie. Solche Töne bestimmten die Debatte in Washington in den vergangenen acht Jahren. Es fällt schwer, an einen Neuanfang zu glauben."
Dem habe ich nichts hinzuzufügen außer allenfalls, dass ich nicht überrascht bin. Spätestens bei der Auswahl der Minister war klar, wohin die Reise der Obama-Regierung gehen würde. Schon damals, als Obama gigantische Summen für seinen Wahlkampf zuflossen, dachte ich so bei mir: 'Die alten Interessen brauchen einen neuen Frontman'.
Obama persönlich mag ein guter Mensch sein; 'das System' kann er ebenso wenig durchbrechen (oder gar zerbrechen) wie ein Papst das 'vatikanische System'.
Möglich indes, dass das Finanzsystem zumindest in seiner bisherigen Entwicklung derzeit zusammenbricht wie das kommunistische Regime in der Sowjetunion unter Gorbatschow. Aber das würde weder wegen noch trotz Obama geschehen, sondern wäre das Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung, auf welche ein geschickter Politiker zwar reiten, die er aber kaum nennenswert steuern kann.


Nachtrag 20.12.2009
Es würde mich übrigens nicht wundern wenn Barack Obama, als jemand, der nicht aus der traditionellen Herrschaftselite stammt, für die USA die gleiche Rolle hätte, wie die Illyrerkaiser (illyrischen Soldatenkaiser) einst für das Römische Reich (Imperium Romanum). Wenn dieser Analogie eine historische Funktionsidentität zu Grunde liegt könnte das bedeuten, dass auch die zukünftigen Präsidenten nicht mehr aus der WASP-Gemeinschaft (White, Anglo-Saxon, Protestant) stammen werden.
Aber natürlich waren im Alten Rom und sind heute in den USA die fremdstämmigen Herrschaftsspitzen von der alten Machtelite im Senat (Rom und USA) wie im Repräsentantenhaus (USA) eingemauert. Deswegen können wir von Obama auch keine Wunder z. B. bei der Zügelung des Finanzwesens erwarten.


Textstand vom 16.06.2023

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