Sonntag, 4. Oktober 2009

Medien verkürzen Interview von Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin im "Lettre International" zur "Emser Depesche" der Ausländerdebatte!

 
Nachtrag 01.09.2010
Zur neuen 'Sarrazin-Debatte' diesmal um sein Buch (bzw. die Vorveröffentlichungen daraus und verschiedene Interviews mit ihm) vgl. meinen Blott "Wenn des Pawlows Hunde lüllen. Zur Lexikographie des deutschen Politiker-Wortschatzes in der Debatte um Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab".

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Die reinste Quelle ist es nicht, von der wir (unter dem Titel "Thilo, ich liebe Sie: Sarrazin-Interview im Original!!!") jene Passagen online erhalten, die Thilo Sarrazin gewaltigen Ärger, und Deutschland eine heiße Debatte beschert haben.

Tatsächlich enthält die unter dem sachlich klingenden Titel "Fakten - Fiktionen Politik Medien Zeitgeschichte" auftretende Webseite, die sich als "transatlantic press network based in the USA" bezeichnet, Hetze der übelsten Art. Schwerpunkt der Tendenz scheint ein fanatischer Anti-Islamismus zu sein, aber auch sonst geht es "rund": Unter "Der SPIEGEL - Sturmgeschütz der Zensur und Diktatur" heißt es z. B. "Wer etwas sagt, was ihnen nicht paßt, soll zurechtgestutzt und entlassen werden und schnell zurücktreten. Das wertet der SPIEGEL als Erfolg, und dann lehnen sich die Goebbels-Schüler im Goebbels-Blatt zurück und fühlen sich bedeutend" und ein Titel wie "Fall Sarrazin: Bundesbank holt Befehle in Istanbul" ist definitiv im Stil des antisemitischen Nazi-Hetzers Julius Streicher im "Stürmer" unseligen Angedenkens formuliert.
[Ob allerdings wirklich eine braune Gesinnung hinter dieser Webseite steckt, oder nicht vielleicht eine kalkulierte Provokation - von welcher Seite und für welche Interessen auch immer - das frage ich mich angesichts derart plakativer Sprüche schon.]

Auf der Webseite des Kulturmagazins "Lettre International" kann man ebenfalls einen Auszug aus dem (von Herausgeber Frank Berberich geführten) Interview lesen, allerdings fehlen hier ausgerechnet Thilo Sarrazins "heiße" Sprüche über Probleme mit verschiedenen Immigrantengruppen in Berlin.

Man kann natürlich verstehen, dass das Magazin seine Hefte verkaufen will und letztlich Informationen nicht gratis liefern kann.
Dennoch bin ich der Meinung, dass die Verantwortlichen in diesem Falle ihre unmittelbaren ökonomischen Interessen zurückstellen sollen und (moralisch betrachtet) auch zurückstellen müssen.
Wenn ein Interview derartige Debatten in einer breiten Öffentlichkeit (vorerst in Deutschland, aber langsam auch bereits im Ausland; s. a. hier bei Bloomberg) entfacht, dann halte ich es für ein Gebot einerseits sozusagen der "Meinungshygiene", andererseits und ganz besonders aber auch der Verantwortung des jeweiligen Publikationsorgans gegenüber dem Interviewten, den Text insgesamt der Öffentlichkeit (gratis) verfügbar zu machen.

In diesem Sinne habe ich "Lettre International" jetzt auch angemailt:

"Sehr geehrter Herr Berberich,
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich hoffe, dass meine Mail nicht in der Fülle von Zuschriften untergeht, die derzeit zweifellos ihre Server verstopfen. Meine Bitte ist, dass Sie nicht nur einen Auszug aus dem umstrittenen Sarrazin-Interview allgemein zugänglich im Internet veröffentlichen, sondern den Text insgesamt. Selbstverständlich verstehe ich, dass Sie Ihre Hefte verkaufen wollen letztlich Informationen nicht gratis liefern können. Dennoch bin ich der Meinung, dass Sie in diesem Falle ihre unmittelbaren ökonomischen Interessen zurückstellen sollten und (moralisch betrachtet) auch zurückstellen müssen. Wenn ein Interview derartige Debatten in einer breiten Öffentlichkeit entfacht (und zumal bei einer in Deutschland äußerst sensiblen Thematik), dann halte ich es für ein Gebot einerseits sozusagen der "Meinungshygiene", andererseits und ganz besonders aber auch Ihrer Verantwortung gegenüber dem Interviewten, der Öffentlichkeit den Gesamttext uneingeschränkt verfügbar zu machen. Denn wenn [ich] mir die inkriminierten Passagen in dieser (äußerst trüben) Quelle anschaue, und sie mit jenen Bruchstücken vergleiche, welche die Medien in ihren Berichten zitieren, dann kommt es mir vor, als hätte ich Bismarck in Potenz vor mir: bei der Formulierung seiner Emser Depesche. Aus meiner Sicht haben Sie die moralische Verpflichtung, durch Veröffentlichung des Volltextes dafür zu sorgen, dass der Interviewte vor der Welt nicht derart fragwürdig dasteht, wie ihn die Berichterstattung aussehen lässt.
Mit freundlichen Grüßen
Burkhardt Brinkmann
"
Mal seh'n, ob was geschieht.

Denn dass die Medienberichterstattung ein schiefes Bild von Sarrazins Aussagen vermittelt, ist nicht nur meine Meinung.Soeben kommt mir der Kommentar "Skandal Sarrazin? Prüfen statt prügeln" von Robert von Becker vom 04.10.09 aus dem Tagesspiegel (am 05.10.09 auch in der ZEIT - mit zahlreichen Leserkommentaren im Gefolge) vor Augen, der genau das aussagt (meine Hervorhebungen):
"Nein, politisch korrekt hat sich Berlins Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin nicht ausgedrückt in seinem so schnell skandalisierten Gespräch mit der in Berlin erscheinenden Kulturzeitschrift „Lettre international“. Nun kursieren in den Medien allerlei anstößige Sätze, vor allem über die „unproduktiven“ Berliner „Unterschichten“, zu denen der jetzige Bundesbankvorstand Sarrazin neben Hartz-IV-Empfängern die Mehrzahl der angeblich integrationsunwilligen türkischen und arabischen Immigranten in der Hauptstadt zählt.
Das riecht nach starkem Tobak, und dieser ist naturgemäß braun. ..... Zur Wahrheit muss ... gesagt werden: Es wirkt ziemlich pornografisch, sich bei Sarrazin bloß auf möglicherweise pikante „Stellen“ zu stürzen – oder nur diese Stellen zu zitieren, ohne den ganzen Text zu kennen.
Tatsächlich wurde das Gespräch von „Lettre“-Chefredakteur Frank Berberich für eine hoch anregende Sonderausgabe mit dem sozioanalytischen Titel „Berlin auf der Couch – Autoren und Künstler zu 20 Jahren Mauerfall“ geführt; es umfasst schätzungsweise zwei normale Zeitungsseiten und ist weniger ein Interview als ein mündlicher Essay. Der eröffnet hoch über allen Stammtischen einen oft intelligent-brisanten, weit in die politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschichte der Stadt eingreifenden Diskurs: als Bestandsaufnahme der Miseren wie auch Chancen Berlins gestern, heute und morgen. .....
Augenmaß jedenfalls hat der von einer Golfplatzaffäre und seinen Sottisen über das angeblich so fett bestrichene Brot der Armen vorbelastete Banker auch jetzt nicht unbedingt gezeigt. ..... Andererseits legt der Provokateur S. mit ätzender, gewiss nicht mitleidvoller, aber kenntnisreicher Schärfe den Finger in viele Wunden der Berliner Sozial- und Bildungspolitik. Und diese Anregung erscheint wichtiger als die Aufregung über ein paar polemische Zuspitzungen.
Man muss kein elitärer [und auch kein nicht-elitärer!] Ausländerfeind sein, um wie Sarrazin zu fragen, warum bestimmte Immigrantengruppen auch in der dritten Generation signifikant weniger sozial und ökonomisch integriert sind als andere. Wer gestaltende statt verwaltete Stadtbürger will und Einwanderung als Bereicherung statt Belastung eines Gemeinwesens wünscht, der sollte Sarrazin erst mal prüfen statt prügeln
."

Wer die Medienhäppchen liest, fragt sich in der Tat manchmal, wie Sarrazin einen solchen Interviewtext autorisieren konnte. Der Text war ihm vor der Publikation vorgelegt und von ihm gutgeheißen worden, d. h. anders als bei einem Live-Fernsehinterview hätte er durchaus die Möglichkeit gehabt, Stellen zu ändern. Dazu berichtet (in einem auch sonst sehr breit angelegten Artikel) die Berliner Morgenpost vom 3.10.09 unter dem Titel "Diskriminierende Äußerungen. Sarrazin verweigerte Änderungen am Interview" wie folgt:
"Schlimmer noch. Der Skandal kommt für Sarrazin wohl auch nicht ganz überraschend: Angeblich musste er das Interview vorher bei seinem Chef Weber vorlegen. Der war dem Vernehmen nach alles andere als begeistert. Weber forderte grundlegende Änderungen, heißt es im Umfeld der Bundesbank. Sarrazin aber habe sich den Text keinesfalls ausreden lassen wollen. Er lasse sich nicht zensieren, soll er Weber gesagt haben, behauptet man zumindest."

Was Robert von Becker abstrahierend beschreibt, möchte ich nachfolgend 'hart am Text' mit einigen Beispielen konkretisieren. Es wird dann vielleicht verständlich, warum Sarrazin die Brisanz einiger Äußerungen nicht erkannt hat: im Kontext wirken sie überhaupt nicht als Provokation, sondern wie eine (von Sarrazin durchaus gewollte) veranschaulichende Zuspitzung.

Der Satz "Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln"
verliert im Kontext deutlich an Schärfe, und das nicht nur deshalb, weil Sarrazin hier auch das Vorhandensein einer deutschen Unterschicht konstatiert:
"Die Stadt hat eine überdimensionierte Infrastruktur für 4,5 Millionen Menschen, das sieht man an der Breite der Straßen. Die Stadt hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich auswachsen.
Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in den subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat. Diese Jobs gibt es nicht mehr. Berlin hat wirtschaftlich ein Problem mit der Größe der vorhandenen Bevölkerung.
"

Die Sätze:
"Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin"
stehen in diesem Textzusammenhang:
"Die Integration hat Stufen. Die erste Vorstufe ist, daß man Deutsch lernt, die zweite, daß man vernünftig durch die Grundschule kommt, die dritte, daß man aufs Gymnasium geht, dort Examen macht und studiert. Wenn man durch ist, dann braucht man gleiche Chancen im öffentlichen Dienst. So ist die Reihenfolge. Es ist ein Skandal, daß die Mütter der zweiten, dritten Generation immer noch kein Deutsch können, es allenfalls die Kinder können, und die lernen es nicht wirklich. Es ist ein Skandal, wenn türkische Jungen nicht auf weibliche Lehrer hören, weil ihre Kultur so ist. Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert.
Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin. Viele von ihnen wollen keine Integration, sondern ihren Stiefel leben. Zudem pflegen sie eine Mentalität, die als gesamtstaatliche Mentalität aggressiv und atavistisch ist
."

Besonders anstößig wird vielen die folgende Aussage erscheinen:
"Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate."
Sarrazins erläuternde Vorbemerkung fällt in den verkürzenden Medienberichten weg:
"Ich war 1978 zum ersten Mal in der Türkei, dienstlich mit meinem damaligen Chef, Herbert Ehrenberg, der Arbeitsminister war. Ich war in seinem Stab. Wir kamen von Ankara, fuhren vom Flughafen rein, vorn saß mein Minister mit dem türkischen Minister, und ich saß im Wagen dahinter mit dem türkischen Staatssekretär auf der Rückbank. Der Staatssekretär sprach Deutsch und fragte mich, wie viele Einwohner Deutschland habe und wie unsere Geburtenraten seien, und dann sagte er, im Jahre soundso werden wir Deutschland an Bevölkerungsgröße überholt haben. Darauf war er stolz. Das ist dieselbe Mentalität, die Erdogan dazu verleitet hat, diese Rede in der Kölnarena zu halten, wie er sie gehalten hat. Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung. Ich habe dazu keine Lust bei Bevölkerungsgruppen, die ihre Bringschuld zur Integration nicht akzeptieren, und auch, weil es extrem viel Geld kostet und wir in den nächsten Jahrzehnten genügend andere große Herausforderungen zu bewältigen haben."
Zu diesem Kontext gehört, wenn man Sarrazin unvoreingenommen beurteilen will, nach meinem Verständnis auch diese Aussage:
"Wenn die Türken sich so integrieren würden, daß sie im Schulsystem einen anderen Gruppen vergleichbaren Erfolg hätten, würde sich das Thema auswachsen. Der vietnamesische Kioskbesitzer wird immer gebrochen Deutsch sprechen, weil er erst mit dreißig eingewandert ist und ungebildet war. Wenn seine Kinder Abitur machen oder Handwerker werden, hat sich die Sache erledigt. Türkische Anwälte, türkische Ärzte, türkische Ingenieure werden auch Deutsch sprechen, und dann wird sich der Rest relativieren. So aber geschieht nichts",
auch wenn es sich um den Teil von einer Antwort Sarrazins auf eine Anschlussfrage handelt.

"Meine Vorstellung wäre: generell kein Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch keine Transferleistungen mehr für Einwanderer" klingt ebenfalls hart (insbesondere der letzte Teil).
Der empirische Hintergrund von Sarrazins Position wird aber von der Berichterstattung ganz oder fast ganz (ich zumindest erinnere mich nicht an eine Wiedergabe in denjenigen Artikeln, die ich überflogen habe) unterschlagen:
"In den USA müssen Einwanderer arbeiten, weil sie kein Geld bekommen, und werden deshalb viel besser integriert. Man hat Studien zu arabischen Ausländergruppen aus demselben Clan gemacht; ein Teil geht nach Schweden mit unserem Sozialsystem, ein anderer Teil geht nach Chicago. Dieselbe Sippe ist nach zwanzig Jahren in Schweden immer noch frustriert und arbeitslos, in Chicago hingegen integriert. Der Druck des Arbeitsmarktes, der Zwang des Broterwerbs sorgen dafür."
[Werden bei uns derartige vergleichenden Studien überhaupt angestellt? Wenn nein: aus welchem Grund nicht?]

Eine sehr kluge Bemerkung Sarrazins will ich hier noch wiedergeben, weil sie ebenfalls in der öffentlichen Debatte fehlt, obwohl sie m. E. zentral in der deutschen Einwanderungsdebatte sein müsste (meine Hervorhebung):
"..... wir haben noch nicht verstanden, daß wir ein kleines Volk sind. Wir verstehen uns immer noch als ein großes Volk. 1939, als der Zweite Weltkrieg begann, hatte Deutschland 79 Millionen Einwohner, die USA 135, Rußland 160 und England 50. Die Proportionen haben sich völlig verschoben. Wenn von unseren 80 Millionen praktisch dreißig Prozent im Rentenalter sind, sind wir bereits eine relativ kleine Bevölkerung. Wir sind näher an den Holländern und Dänen als an den USA. Daß diese kleinen Völker ihre Ausländer heute mit viel radikaleren Programmen als wir forciert integrieren, hat einen guten Grund. Heute muß man Sprachtests in den Botschaften machen, davor darf man gar nicht einreisen. Sie haben spät angefangen, aber sie haben wenigstens angefangen."

Die Debatte um die (Nicht-)Erblichkeit von Intelligenz ("Man muß davon ausgehen, daß menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich.") hätte Sarrazin allerdings auch nach meiner Auffassung besser außen vor gelassen. Nicht deswegen, weil ich sie für falsch halte. Sondern weil ihre Verifikation oder Falsifikation nur schwer möglich und immer stark umstritten sein wird. Das überfrachtet ein ohnehin schon kontroverses Thema, und außerdem ist ja Intelligenz keineswegs gleich zu setzen mit sozialer Nützlichkeit: Al Capone war ganz bestimmt kein Dummkopf.

Ergänzung: Irgendwo fand ich jetzt auch eine vollständigen bibliographische Beschreibung des Interviews (d. h. Titel usw.): "Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten. Thilo Sarrazin im Gespäch", Lettre international. Nr. 86, Herbst 2009, S. 197-201"


Das mag aber nun genügen; allzu sehr möchte ich mich in diese doch recht komplexe Problematik schon aus Zeitmangel nicht hereinsteigern.
Da die "Emser Depesche" seinerzeit den Französisch-Deutschen Krieg von 1870/1871 auslöste, stelle ich vielleicht besser klar, wer hier aus meiner Sicht wem den Krieg erklärt hat: nicht die Medien den Ausländern, eher schon die Medien Thilo Sarrazin. Aber eigentlich geht es mir nicht um die Frage einer "Kriesgerklärung", sondern einfach um einen Vergleich mit einer anderen Situation, wo ein Text durch Verkürzung verändert wurde und dadurch eine öffentliche Wirkung bekam, die der Gesamttext nicht gehabt hätte. Die Medien verfälschen natürlich nicht vorsätzlich, wie damals Bismarck; sie müssen zwangsläufig verkürzen. Zum einen können sie schon aus Rechtsgründen nicht das ganze Interview abdrucken; zum anderen würden die meisten Menschen das ohnehin nicht lesen. Erst dadurch, dass die Journalisten zielsicher die kritischen Stellen herauspicken, wird das Interview zum Gegenstand eines breiten öffentlichen Interesses. Sarrazin kennt auch grundsätzlich diese Funktionsweise. " 'Äußerungen gewinnen immer dann ihre Dynamik, wenn sie den Kontext verlassen', hat Sarrazin selbst einmal gesagt" berichtet Volker Zastrow in seinem Kommentar "Kopftuchmädchen" auf FAZ.net vom 03.10.09. In der konkreten Situation hat er sich aber vielleicht doch verschätzt, welche Unterstellungen man aus seinen aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen fabrizieren kann.


Nachträge 07.10.09

Mehr und mehr wird den Debattenteilnehmern die Notwendigkeit bewusst, auf den Gesamttext des Interviews zu schauen. Entsprechend werden Auszüge aus dem Volltext veröffentlicht (ich habe sie nicht untereinander verglichen) z. B. von bzw. bei:
Der Frankfurter Rundschau am 7.10.09 (übrigens in der Sparte "Wirtschaft"): "Dokumentation. Sarrazin im Wortlaut":
"Die Zeitschrift Lettre International veröffentlichte in ihrer Herbst-Ausgabe zu Berlin 20 Jahre nach dem Mauerfall ein Interview mit dem Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin. Die Thesen sorgen für Empörung. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft, ob ein Anfangsverdacht wegen Volksverhetzung vorliegt. FR-online.de dokumentiert Auszüge."
[Komisch: per 23.10.09 heißt es auf der verlinkten Seite der Frankfurter Rundschau: "Der angegebene Artikel ist nicht mehr verfügbar!" - Muffensausen oder Copyright-Probleme, das ist hier die Frage. Wenn in der Bild-Zeitung der Interviewtext erst publiziert wird und unmittelbar danach verschwindet - vgl. dazu meinen u. a. Blott Nr. 3 - dann ist das ärgerlich aber, na ja: es ist halt die Bild-Zeitung: da stellt man von vornherein keine hohen Ansprüche. Das aber nicht einmal die FR das Verschwinden eines derartigen Artikels begründet, wirft kein gutes Licht auf diese Zeitung.]
Auf der Webseite "Gemeindenetzwerk" vom 6.10.09.
Im Blog "Kochsiek.org Gedanken zur Zeit" erscheint (ohne Datum) u. d. Überschrift "Thilo Sarrazin im Zusammenhang" ein vom Zeitschriftentext eingescannter länger Textauszug.

Mechthild Küpper geht in ihrem FAZ-Artikel vom 3.10.09 "Sarrazins umstrittenes Interview. Die Liebeserklärung" u. a. fachkundig auf die "technische" Seite des Interviews ein:
"Das „Lettre“-Interview ist keins im journalistischen Sinn: Hin und wieder werden Fragen gestellt, Sarrazin darf reden, reden, reden - ohne Rückfragen, ohne Einwände oder andere Darstellungen des Sachverhalts hören zu müssen."

Christian Thiele hält es nicht für erforderlich, seinen Namen so schlicht und einfach in seiner Selbstbeschreibung ("Zu mir") zu enthüllen. Immerhin erfahren wir dort, dass er Textchef beim Playboy (Deutschland, vermute ich mal) und dort für Interviews zuständig ist. Über das Thema "Interviews führen" hat er ein Buch geschrieben und kritisiert die Interviewführung der Fragenden bei Lettre International wie folgt:
"Was war los, Lettre International? Interview Thilo Sarrazin" vom 05.10.09:
"Wen Google hierhergeschickt hat, damit er das komplette Interview lesen könne, das Lettre International mit Thilo Sarrazin geführt hat – den schicke ich weiter an den Kiosk. .....
Krawallig genug liest sich schon der Teil, der online steht (http://www.lettre.de/aktuell/86-Sarrazin.html). Erstaunlich, angesichts solcher lahmer Mehrfachfrage-Raketen, die die Kollegen da abgefeuert haben:
„Wie würden Sie die Etappen der Entwicklung Berlins seit 1989 beschreiben, die Meilensteine der Entwicklung? Sie sagten im Jahre 2006, der Schutt sei abgeräumt, man sei nicht mehr im Jahre 1945, sondern schon im Jahre 1947 angekommen. Wo befindet sich Berlin heute?“
Was genau, lieber Herrschaften Interviewenden, wollten Sie noch mal wissen?
So kann sich der Befragte schön raussuchen, was aus dem Fragemenü ihm passt und was er mit einer Antwort zu beehren gedenkt – und was nicht.
"

Aber was soll die Beckmesserei? Das Interview war doch ein Volltreffer!
Sogar ich selbst habe schon mit dem Gedanken gekauft, 17 Euronen für das Heft hinzulegen. Andere, die genug Geld haben, gehen sparsamer damit um, wie wir hier in der WELT erfahren: "Vor der Tür war der "Lettre"-Verkäufer nicht ganz zufrieden. Nur eine Handvoll Exemplare hatte er abgesetzt. Den meisten Berliner Mittelständlern waren die 17 Euro für ein Heft wohl zu teuer."
["Vor der Tür" bezieht sich darauf, dass Thilo Sarrazin am 05.10.09 auf dem Mittelstandstag der Berliner Industrie- und Handelskammer im Berliner Ludwig-Erhard-Haus ein Impulsreferat gehalten und der Hefteverkäufer natürlich auf massenhaft neugierige Kundschaft gehofft hatte.] Nun ja, letztlich habe auch ich das Heft nicht gekauft, das in 2 großen Stapeln in (zumindest einer) der Frankfurter Bahnhofsbuchhandlungen ausliegt. Der Kassierer wusste gestern aber gleich Bescheid: "Dort links an der Wand liegt das Heft". Heute habe ich nochmal nachgeschaut; jetzt liegt ein großer Stapel gleich am Eingang. Ob es wirklich der große Renner ist?
Interessant ist es mit Sicherheit; aber früher oder später wird es auch bei Ebay, und auf den Flohmärkten, zu haben sein. Doch was nützt das alles, wenn man keine Zeit zum Lesen hat? Und nicht einmal Berliner ist - für die das umfangreiche Themenheft "Berlin auf der Couch" (Auflage 32.000 lesen wir in den Mediadaten auf der Verlagswebseite) in allererster Linie interessant sein dürfte.
Und wenn man vor allem keinen Platz mehr hat, um noch mehr Gedrucktes zu lagern.


Nachträge 24.10.2009:

Frank Berberich hat eine Gratis-Veröffentlichung des Sarrazin-Interviews abgelehnt. Dennoch ist es auf mehreren Webseiten online (vgl. meinen Blott "Volltext des Interviews von Lettre International (Frank Berberich) mit Thilo Sarrazin: Ausgerechnet die Bild-Zeitung publiziert den Gesamttext!").
Es spricht für die Reife der deutschen Debattenkultur, dass sehr viele Menschen offenbar den Volltext lesen wollen, ehe sie sich ein Urteil bilden. Zu diesem Eindruck komme ich jedenfalls, wenn ich mir die Suchanfragen anschaue, mit denen die Interessierten in meinem Blog landen. Fast immer geht es um Begriffe wie "Volltext des Interviews", "ganzer Text", "Originaltext", "vollständiger Text", "Gesamttext" usw.
Ergänzung 26.10.2009: Das Informationsbedürfnis einfacher Internet-Nutzer ist deutlich ausgeprägter als dasjenige vieler Journalisten. Von denen haben nämlich, wie Frank Berberich in einem Interview berichtet, das von Wendelin Hübner geführt und auf der Webseite V.i.S.d.P. unter "Dilettantismus, Phrasen, Irreführung, Parolen" (... "das ist Frank Berberichs Urteil über einige deutsche Journalisten")veröffentlicht (23.10.09) wurde, nicht wenige Sarrazins Äußerungen kommentiert, ohne sich die Mühe zu machen, den Volltext zu lesen:
"..... Fr.: Wie bewerten Sie die heftigen Reaktionen nach Veröffentlichung?
B.: Ich halte sie zum Teil für albern und zu einem größeren Teil für interessengeleitet. Die Sensationalisierung und Skandalisierung wurde vor allem von Medien inszeniert, die damit Geld verdienen wollten. .....
Fr.: Abgesehen von der Skandalisierung ist das doch legitim.
B.: Legitimes, verantwortungsvolles Vorgehen wäre gewesen, das Interview insgesamt zur Kenntnis zu nehmen und auch den Kontext darzustellen, nämlich darauf hinzuweisen, dass die Äußerungen in einem Interview gefallen sind und Antworten auf bestimmte Fragen waren. Ich habe drei Interviewanfragen von Berliner Rundfunksendern abgelehnt, weil die Interviewer nicht bereit waren, vor dem Interview den ganzen Text zu lesen. ..... Ich habe auf der Frankfurter Buchmesse ziemlich bekannte Kommentatoren getroffen, die auf Medien-Websites zu dem Interview bereits Stellung genommen hatten, ohne es jedoch ganz zur Kenntnis genommen zu haben. „Ich kann doch nicht alles lesen“, sagt man dann. .....
"

Dass Thilo Sarrazin die potenzielle Brisanz seiner Äußerungen nicht erkannt hat, wird noch besser verständlich nach der Lektüre des langen (und äußerst wichtigen) Hintergrundberichts "Sarrazin und Weber. Kabale unter Bundesbankern" von Volker Zastrow auf FAZ.net vom 18.10.2009. Dort nämlich erfährt man unter anderem, dass selbst der Bundesbank-Kommunikationschef Benedikt Fehr keine substantiellen Bedenken gegen die veröffentlichten Passagen hatte:
"Viele der Thesen waren, nach Fehrs Einschätzung, zwar „natürlich höchst provokant“, sie würden ein Echo finden. 'Aber ich habe sie beim Lesen nicht als diffamierend empfunden'."


Gesamtübersicht meiner Blog-Einträge zum Sarrazin-Interview:

1) "Feigheit siegt! Thilo Sarrazin und die deutsche Verlogenheit" vom 2.10.09 ff.

2)"Medien verkürzen Interview von Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin im "Lettre International" zur "Emser Depesche" der Ausländerdebatte!" vom 04.10.2009 ff. (der vorliegende Blott)

3) "Volltext des Interviews von Lettre International (Frank Berberich) mit Thilo Sarrazin: Ausgerechnet die Bild-Zeitung publiziert den Gesamttext!" vom 08.10.2009 ff. und

4) "Weitere Links zu Sarrazin-Interview "Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten" im Lettre-International" vom 09.10.09 ff.

Textstand vom 10.09.2022

2 Kommentare:

  1. Also der Blog von Kewil "Fakten und Fiktionen " ist einfach ein geiler Blog - Kewil ist ein Typ der kein Wort vor den Mund nimmt und sagt was er denkt .
    Das ist mehr als alle anderen fertig bringen , die immer über jedes Wort nachdenken müssen bevor sie es niederschreiben können .
    Echte Freiheit fängt nunmal im Geiste an - politische Korrektheit hingegen ist ein moderner Ungeist - der den Gedanken schwächt und die Freiheit schwächt .
    Wenn wir so wollen ist Kewil die eiegtnliche Form von "gelebter Demokratie" - den er sagt einfach offen raus was er von den Dingen hält.
    Da diese Freiheit der Gedanken aber einigen in diesem Land nicht zu passen scheint , versuchen sie diese menschen des freien geistes immer wieder zu diskreditieren - sei es mit Nazivergleichen oder dem Schlagwort der Islamophobie .
    Aber es sind und bleiben nichts weiter als hohle Schlagwörter und Phrasen . Substaniell kann man gegen solche Freigeister wenig ausrichten - den das Volk weiß in seiner Mehrheit das diese freien Geister recht haben und das offen aus und ansprechen was sich andere nicht getrauen`zu sagen .
    Deswegen sprengt alle Eure Ketten der selbst auferlegten politischen Korrektheit , fangt an nachzudenken und seht das des Kaisers Kleider garkeine sind . Es lebe die Freiehit , es lebe Deutschland und lang lebe unser Volk.

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  2. Also die USA als Land der gelungenen Integration zu loben, das beweist nicht gerade eine umfassende Sachkenntnis.

    Jeder der das anders sieht, möge sich doch in einer der Schwarzen- oder Hispanics-Siedlungen in amerikanischen Großstädten umsehen. So sieht eine ganz und gar misslungene Integration aus - und davon sind wir hierzulande zum Glück noch sehr weit entfernt.

    Auch die anderen Passagen - selbst im Kontext gelesen - sind eines Vorstandes der Bundesbank unwürdig. Das ist allemal besseres Stammtischgeprahle, mehr nicht!

    Und wenn Herr Sarrazin sich schon so gerne in markigen Worten über die Mißstände in unserem Land zu äußern gedenkt, ohne zu ihner Lösung beizutragen, dann kann er ja gerne als Kabarettist durch die Lande touren - vielleicht reichts auch für eine eigene TV Show bei RTL2 - aber nicht als Bundesbankvorstand im Mäntelchen einer Privatperson.

    Dennoch, vielen Dank für die Veröffentlichung der erweitereten Passagen und die Pflege dieses gut recherchierten Blogs.

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