Donnerstag, 8. Oktober 2009

Volltext des Interviews von Lettre International (Frank Berberich) mit Thilo Sarrazin: Ausgerechnet die Bild-Zeitung publiziert den Gesamttext!

 
Nachtrag 30.08.2010
Zur neuen 'Sarrazin-Debatte' diesmal um sein Buch (bzw. die Vorveröffentlichungen daraus und verschiedene Interviews mit ihm) vgl. meinen Blott "Wenn des Pawlows Hunde lüllen. Zur Lexikographie des deutschen Politiker-Wortschatzes in der Debatte um Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab".

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Endlich ist der gesamte Text des Interviews (zumindest vermute ich, dass er vollständig ist) online im Internet (gratis) nachzulesen. Und wem verdanken wir das? Nicht etwa irgend einem Qualitätsmedium, sondern der Bild-Zeitung!
Bild hat offenbar die Börse gezückt und dem Verlag Lettre International die Abdruckrechte an dem vom Herausgeber Frank Berberich mit dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und jetzigen Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin abgekauft. Die haben ihrerseits das Eisen geschmiedet, solange die Diskussion noch heiß ist. [Das alles dachte ich, als ich diesen Blott niederschrieb. Später indes stellte sich heraus, dass BILD den Text einfach geklaut hatte! - s. u.]

Das öffentliche Interesse an dem Sarrazin-Interview "Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten. Thilo Sarrazin im Gespräch" währt übrigens nun schon länger als von mir erwartet und wenn ich mir die Zugriffszahlen zu meinem Blog anschaue, die sonst in einer Bandbreite um die 50 pro Tag liegen, dann hat sich das Interesse seit dem Wochenende sogar deutlich gesteigert:
SA 133 (03.10.2009
SO 158
MO 169
DI 110 (Was da los? Das ist ja ein signifikanter Ausreißer nach unten!)
MI 317 und heute am
DO 266 (gegen ca. 22 h). (301 um 23.30 h)
FR 364 - und das schon gegen 20.30 Uhr. Das Interesse insbesondere am vollständigen Interviewtext ist immer noch riesig. (Insgesamt wurden es heute 457 Zugriffe.)

Nur wegen des Interviews werden jetzt wohl ohnehin kaum noch Hefte verkauft. Und die für die Rechte einer Wiederveröffentlichung (bzw. im Internet: Erstveröffentlichung) erzielbaren Erlösen stürzen im freien Fall, wenn das öffentliche Interesse an dieser Einwanderungsdebatte oder Ausländerdebatte mit Thilo Sarrazin im Auge des Zyklons erst einmal abgeflaut ist.

Bis hierher hatte ich meinen Text fertig und klickte dann frohgemut auf die folgenden drei Links, die ich heute mittag gesichtet (und deren Textinhalt ich mir zum Glück ausgedruckt hatte), und die ich mir auf meinen PC daheim zugemailt hatte:

http://www.bild.de/BILD/politik/2009/10/07/thilo-sarrazin-kritik/hg/sarrazin-im-gespraech-klasse-statt-masse-teil1.html

http://www.bild.de/BILD/politik/2009/10/07/thilo-sarrazin-kritik/hg/sarrazin-im-gespraech-klasse-statt-masse-teil2.html und

http://www.bild.de/BILD/politik/2009/10/07/thilo-sarrazin-kritik/hg/sarrazin-im-gespraech-klasse-statt-masse-teil3.html

In drei Teilen hatte also die Bild-Zeitung im Internet den Interviewtext veröffentlicht und angesichts der Länge (über 10 S. mit relativ großem Satzspiegel und kleiner Drucktype) vermute ich, dass es sich um den Gesamttext gehandelt hat.

Die Enttäuschung war groß, als für sämtliche Teilabdrucke

- Teil 1
- Teil 2
- Teil 3

immer nur die aktuelle Seite der Zeitung insgesamt erschien.
Das Verschwinden der Texte ist äußerst ärgerlich, zumal es nicht erklärt wird. Was geht hier vor, wer oder was steckt dahinter? Hatte Bild den Interviewtext ohne Zustimmung von Lettre International publiziert?

Bleibt nur zu hoffen, dass "Bild" jetzt nicht ein Opfer von "Fisting-Attacken" empörter Leser wird!

Zumal zwei weitere Teilveröffentlichungen gleichfalls spurlos verschwunden sind:

http://www.bild.de/BILD/politik/2009/10/07/thilo-sarrazin/ist-er-ein-wahr-sager-oder-ein-hass-redner-teil1.html
und
http://www.bild.de/BILD/politik/2009/10/07/thilo-sarrazin/ist-er-ein-wahr-sager-oder-ein-hass-redner-teil2.html

Das wird aber nun wirklich verdammt mysteriös!

Und mir tut es natürlich Leid, dass ich Sie - und mich - enttäuschen muss (nun ja: ich werde mir die Texte natürlich jetzt einscannen).

Eine kleine Entschädigung habe ich aber doch parat: Zwei köstliche Zitate vom Schluss des Interviews, die ich sonst noch nirgends gelesen habe (Hervorhebungen jeweils von mir):

Frage:
"Die Medien können Sie für eine solche Elitekonzeption nicht als Partner gewinnen?"
Sarrazins prophetische Antwort:
"Die Medien lieben es, wenn Krach ist. Das finden sie toll, und wenn es unterhaltsam ist, auch. Wenn man beides bietet und den Eindruck erweckt, dass man seine Sache versteht, bekommt man mit der Zeit auch für kontroverse Stellungnahmen eine relativ hohe mediale Zustimmung".
Touché, kann man da nur sagen, oder hört hört! Und einige Sätze weiter:
"Auch Resonanz zu bekommen geht schnell, wenn man es intelligent anfängt."

Ach ja, bevor ich meinen PC runterfahre, nehmt dieses noch, was euch die Medienberichterstattung (soweit ich sie kenne oder jedenfalls in Erinnerung habe) ebenfalls verschwiegen hat: als Mittel gegen den Eindruck, dass Sarrazin nur die Ausländer kritisert habe.
"Wenn 1,3 Milliarden Chinesen genauso intelligent sind wie die Deutschen, aber fleißiger und in absehbarer Zeit besser ausgebildet, während wir Deutschen immer mehr eine türkische Mentalität annehmen, bekommen wir ein größeres Problem." 
Ergänzung 09.10.09:
Die Tendenz des Blog "StaatsReport. Ein Gebet für die Intellektuellen" ist mir zwar unklar (rechts? ironisch? anti-islamistisch?).
Aber jedenfalls war der Blogger fix: er hat den Bild-Text, also vermutlich den kompletten Text des Sarrazin-Interviews, übernommen und ins Netz gestellt(und das sogar kopierfreundlich ungeteilt - ;-) ); dafür Dank! Überschrift: "Sarazenenwitze" (Der Text folgt unten nach der Wiedergabe des satirischen taz-Artikels "Fragestunde zu Thilo Sarazzin. Interview mit einer Bestie?" vom 08.10.09:
"Auch seine Stelle als Bundesbanker kann Thilo Sarrazin nicht vergessen machen, was er als Berliner Finanzsenator hat erleiden müssen. Alles über den "Dieter Bohlen der Finanzpolitik".").
Und hier findet man ebenfalls den (wie ich annehme) Volltext des Interviews mit Thilo Sarrazin.
Dort ist auch eine "tinyurl" angegeben. Was immer das sein bzw. nützen mag: vorsichtshalber übernehme ich diese Angabe hier: tinyurl for this webpage: tinyurl.com/yao5d5m.



Durch Zufall stieß ich auf das FOCUS-Interview vom 11.08.2008 "Sarrazin attackiert Banker". Es kann nicht schaden, auch diese Äußerungen zu kennen, um auch damit die oft geäußerten oder implizierten Behauptungen zu widerlegen, wonach Sarrazin ausschließlich die Unterschicht kritisiert:
"Thilo Sarrazin nimmt selten ein Blatt vor den Mund. Angesichts der Finanzkrise nimmt sich Berlins Finanzsenator nun die Landesbanken ordentlich zur Brust. In seinen Augen sei der „Dummheitskoeffizient in deutschen Banken besonders hoch“.
Bestimmte Risikopapiere hätten weltweit nirgendwo so viele Abnehmer gefunden wie bei deutschen Landesbanken. „Diese Leute haben offenbar nicht verstanden, was sie da machen. Und sie haben nicht verstanden, dass sie es nicht verstanden haben“, sagte der Berliner Finanzsenator dem FOCUS. „Der Dummheitskoeffizient scheint leider in deutschen Banken besonders hoch zu sein. Generell gilt ja die Regel: Je dümmer einer ist, umso mehr wächst das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Das Ganze ist systemisch im öffentlich-rechtlichen Bankenbereich, obwohl beispielsweise die Landesbank Baden-Württemberg das offenbar ganz gut überstanden hat
.“
[Vgl. dazu auch meinen Blott "Deutsche Landesbanker durch die Bank finanzwirtschaftliche Fahrschüler?"]


Nachtrag 24.10.2009:
Über die Hintergründe der Veröffentlichung und das plötzlich Verschwinden des Interview-Volltextes auf der Webseite der Bild-Zeitung unterrichtet uns ein (auch sonst außerordentlich lesenswertes) Interview mit Frank Berberich, dem Herausgeber des (ebenfalls Berliner) Magazins "Lettre International" und Interviewpartner von Thilo Sarrazin, das am 14.10.2009 auf der Webseite "Tip Berlin" unter der Überschrift ""Lettre"-Chef Berberich über das Interview mit Thilo Sarrazin" erschienen ist. Hier erfahren wir u. a. auch, dass "die Bild-Zeitung das gesamte Interview gestohlen hat" (meine Hervorhebungen):
" ... Berberich: Der gesamte Text des Interviews wurde von der „Bild“-Zeitung einfach gestohlen, in Auszügen gedruckt und in voller Länge auf ihre Homepage gestellt. Ohne Genehmigung. Wir haben eine diesbezügliche Anfrage der „Bild“-Zeitung zweimal negativ beschieden, da wir als Printmedium das Einzige, das wir herstellen – nämlich gute Texte, wertvolle Informationen – verkaufen müssen. Die Selbstkannibalisierung jener Printmedien, die sich durch ihre eigene Website mit kostenlosem Content selbst Konkurrenz machen, haben wir nie betrieben. Deshalb haben wir auch diesen Text nicht auf unserer eigenen Website zugänglich gemacht. .....
Berberich: Wir mussten eine einstweilige Verfügung erwirken und haben „Bild“ gezwungen, den Text von ihrer Website zu nehmen. Wir werden nun Schadensersatz fordern. Denn die „Bild“-Zeitung hat sowohl das Wettbewerbsrecht als auch das Urheberrecht verletzt, zum Teil die Quelle unterschlagen, und hin­tergeht dadurch ihre Leser. Man schmälert die Verkaufserlöse von „Lettre“, aber auch die der Buchhändler und Vertriebsfirmen, die fast 50 Prozent des Endverkaufspreises erhalten. .....
"

Mittlerweile ist der Volltext des Interviews jedoch auf einer ganzen Reihe von Webseiten online, z. B. im Blog "Zölibat & mehr" vom 17.10.09 "Das ganze Sarrazin Interview. Thilo Sarrazin im Gespräch - Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten"
oder als pdf-Datei hier auf einer Webseite namens "Plapperstorch.de".


Nachtrag 26.10.2009:
Auch hier finden wir das Gesamtinterview.

Nachtrag 27.10.2009: 
Gleichfalls gibt es den kompletten Interviewtext hier im "FreiheitsForum" (dessen politische Tendenz ich auf die Schnelle nicht einschätzen kann).
Und auch hier auf der Seite von "Politically Incorrect" (zwar auch nicht gerade meine Leib- und Magen-Webseite).


Gesamtübersicht meiner Blog-Einträge zum Sarrazin-Interview:

1) "Feigheit siegt! Thilo Sarrazin und die deutsche Verlogenheit" vom 2.10.09 ff.

2)"Medien verkürzen Interview von Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin im "Lettre International" zur "Emser Depesche" der Ausländerdebatte!" vom 04.10.2009 ff.

3) "Volltext des Interviews von Lettre International (Frank Berberich) mit Thilo Sarrazin: Ausgerechnet die Bild-Zeitung publiziert den Gesamttext!" vom 08.10.2009 ff. (= der vorliegende Blott) und

4) "Weitere Links zu Sarrazin-Interview "Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten" im Lettre-International" vom 09.10.09 ff.


Nachtrag 21.03.2010
Auch in Sachen Griechenland-Bailout macht Thilo Sarrazin aus seinem Herzen keine Mördergrube. Die Salzburger Nachrichten haben am 19.03.2010 ein Interview mit Thilo Sarrazin veröffentlicht unter dem Titel Dann müssen die Griechen eben Insolvenz anmelden. Auszüge daraus:
"Sarrazin: Griechenland hat ein Haushaltsloch in der Höhe von 25 Prozent seiner Ausgaben. Als ich 2001 in Berlin Finanzsenator wurde, hatte ich auch ein Haushaltsloch von 25 Prozent. Am Ende hatte ich nach fünf Jahren einen Überschuss. ...
SN: Was ist, wenn Griechenland seine Schulden nicht mehr refinanzieren kann?
Sarrazin: Dann muss Griechenland das tun, was jeder Schuldner tut – es meldet eben Insolvenz an.
SN: Aber das ist doch für viele ein Schreckgespenst. Unter anderem, weil dies eine große Gefahr für den Euro wäre.
Sarrazin: Das hat mit dem Thema Währung nichts zu tun. Dass General Motors in die Insolvenz gegangen ist, hat den Dollar nicht beeinträchtigt. Wieso soll es den Euro beeinträchtigen, wenn Griechenland mit 300 Milliarden Euro insolvent geht? ...
SN: Die da wären?
Sarrazin: Die Niederlande, Deutschland, Österreich, Belgien und Luxemburg werden nicht diese Probleme bekommen, weil sie eine andere Mentalität haben. Wir werden es am Ende immer irgendwie schaffen, unsere Haushalte solid zu gestalten. Bei Griechenland geht es nicht um die Frage der objektiven Unmöglichkeit. ...
SN: Aber manche argumentieren, dass im Fall Griechenland nun auch eine Sondersituation herrsche, die für eine Ausnahme herhalten könnte.
Sarrazin: Die politische Unmöglichkeit, sich in einem Land in seinen demokratischen Organen im Dialog mit den Bürgern auf vernünftige Maßnahmen zu einigen, ist keine objektive Unmöglichkeit.
SN: Bringt Griechenland den Euro in Gefahr?
Sarrazin: Unmittelbar besteht für den Euro überhaupt keine Gefahr. Aber wenn EU-Hilfe die einzige Sicherung ist, die wir dagegen haben, dass einzelne Länder eine dauerhafte unsolide Finanzpolitik und damit ein Übermaß an Schulden machen, dann ist das eine Gefahr, aus der unabsehbare Risken wachsen.
"
Aber auch in dem aktuellen Streit über Leistungsbilanzüberschüsse und angebliches deutsches Lohndumping hört man von Sarrazin eine klare Ansage:
"SN: Jetzt kritisieren... die Franzosen Deutschland wegen ihrer Exportüberschüsse und meinen, Deutschland erziele auf Kosten anderer Erfolge. Können Sie dieser Kritik etwas abgewinnen?
Sarrazin: Die Lohnkosten in der deutschen Industrie sind auch nicht niedriger als in Frankreich. Die der Franzosen waren allerdings vor zehn Jahren niedriger. Sie haben dann das Gesetz missachtet, dass sie, wenn ihre Wirtschaft nicht so produktiv ist wie die der Deutschen, nicht die gleichen Löhne zahlen dürfen.
Die Kritik hat aber einen wahren Kern. Kein Land kann dauerhaft große Exportüberschüsse haben. Deutschland hat kein Problem der zu niedrigen Löhne, sondern des zu geringen internen Verbrauchs.
SN: Braucht es dafür nicht höhere Löhne?
Sarrazin: Nein. Wenn es gelänge, einen Teil der deutschen Arbeitslosen in Arbeit zu bringen, dann gäbe es mehr interne Absorption.
"
Und ebenso zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit:
"Sarrazin: Die Wirtschaft braucht mehr Flexibilität. Wenn man sich informeller von Mitarbeitern trennen könnte, würde man sie auch informeller anstellen. Das geht tief an deutsche und österreichische Mentalitäten. Da stehen wir uns selbst im Weg. Das erklärt einen Teil unserer Exportüberschüsse. Aber zu sagen, wir erhöhen unsere Löhne so, dass Renault besser mit uns in China konkurrieren kann, ist nicht Sinn der Sache."

Textstand vom 10.09.2022

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