Samstag, 21. April 2007

Es muss nicht immer Simmel sein: Kulturkritik-Kritik

Bislang hatte ich in meinem Blog nur eigene Texte (wenn auch häufig unter Verwendung von Zitaten anderer) publiziert. Das könnte sich jetzt ändern, da ich die Möglichkeit habe, meine Blogs zu "taggen", sie also mit Hilfe von Stichworten bestimmten (auch mehreren) Kategorien zuzuordnen (vgl. meinen Eintrag "DER GOOGLE-GULP" vom 15.04.2007). Jetzt macht es Sinn, Auszüge von Texten anderer für mich (aber auch für evtl. andere interessierte Leser) durch Veröffentlichung in meinem Blog und eine (im Rahmen der mich umtreibenden Thematiken) zweckmäßige Verstichwortung "aufzubewahren", vielleicht für eine spätere Verwendung in anderen Zusammenhängen.

Noch besser wäre es natürlich, wenn die "Favoriten" oder "Bookmarks" des Internet-Browsers die Möglichkeit bieten würden, Stichworte und Kommentare einzufügen und Textauszüge zu markieren. Anscheinend gibt es so etwas Ähnliches tatsächlich, aber dafür muss man, wenn ich das richtig verstanden habe, seine Favoriten auf fremden Servern (z. B. bei Google) speichern. Das ist mir allerdings etwas unheimlich, so gänzlich an fremden Nabelschnüren zu hängen. Beim Blog ist das zwar auch der Fall, aber natürlich verlinke ich interessante Texte auch weiterhin (zusätzlich) in meinen "Favoriten".
Schade ist nur, dass man die "Tags" oder, wie man sie bei Blogspot nennt, die "Labels" nicht hierarchisch organisieren kann, wie es bei den "Favoriten"-Ordnern möglich ist, also z. B. alle Personen in einem übergeordneten Stichwort "Personen" zusammenfassen. Denn schon jetzt wird bei mir die Vielzahl der Labels langsam unübersichtlich. Aber eines Tages wird das Problem in größerem Umfang auch bei anderen auftreten, und die Blog-Provider werden Lösungen dafür anbieten.
Sehr angenehm ist jedenfalls schon jetzt, dass ich beim Eintragen der Stichworte Vorschläge erhalte. Wenn ich also z. B. in dem entsprechenden Feld anfange, ein Wort mit "K..." einzutragen, öffnet sich sofort ein Popup-Fenster, das mir meine bisherigen K-Worte anzeigt und aus welchem ich durch einfaches Anklicken einen Begriff übernehmen kann. Zauberhaft!

[Eigentlich ist jetzt auch die Auflistung meiner Blog-Einträge auf meiner Webseite "Drusenreich – Teil 1" in der Rubrik "Aus meinem Blog-Haus" nicht mehr so wichtig. Hätte ich von vornherein die Möglichkeit der Verstichwortung gehabt, hätte ich eine derartige Aufstellung wahrscheinlich gar nicht begonnen. Aber aus reiner Gewohnheit heraus (und weil sie einige vielleicht einmal interessante Übersicht erlaubt) werde ich auch diese Titelliste mit kurzer Inhaltsangabe, vorerst zumindest, fortführen.]

Nun aber zurück zum eigentlichen Thema dieses Eintrages.

Die Kulturkritik, bzw. die Kritik an der Kulturkritik (jedenfalls der herkömmlichen: Stichwort "Entfremdungsdiskurs"), also die "Kulturkritikkritik", treibt mich schon lange um. Und dazu habe ich einen hübschen Text gefunden, der mit leichter Hand die mentalen Carceri pseudo-tiefsinniger Reflexionen demontiert (indem er z. B. Simmels mystifizierende Beschreibung der Wirkungen des Geldes auf den Menschen auf ihre wirtschaftsgeschichtliche Grundlage einerseits und auf die Präferenzen der meisten Menschen andererseits zurück führt).



Es liegt mir fern, Prof. Hubertus Busche für meine Position zu vereinnahmen. Aber seine Antrittsvorlesung bei der Fern-Universität Hagen u. d. T. (und zu dem Thema) "Georg Simmels 'Tragödie der Kultur' - 90 Jahre danach" [jetzt nicht mehr dort zu erreichen, doch finden wir eine anscheinend leicht veränderte Version im "IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse" online.] ist eine kluge Kritik an der Kulturkritik: nicht nur derjenigen des kaiserzeitlichen Soziologen und Philosophen Georg Simmel, sondern auch des gesamten Entfremdungs-Geschwafels (meinetwegen auch: Entfremdungs-Diskurses). [Meine Blog-Überschrift ist natürlich selbst eine Mystifizierung, weil sie sich nicht auf Johannes Mario Simmel und dessen Buch "Es muss nicht immer Kaviar sein" (das ich auch gar nicht gelesen habe) bezieht] Der vorliegende Eintrag dürfte der bislang passendste Ort für mich sein, einige Fundstücke aus seinem Vortrag für mich (und für eventuelle Leser und Leserinnen) aufzubewahren:

"Was Simmel in diesem Zusammenhang tatsächlich beschreibt, ist lediglich die enorme Bedeutsamkeitssteigerung, die das Geld in der modernen Welt erfährt. Weil das Geld für jeden Einzelnen zur vielleicht größten schicksalhaften irdischen Macht überhaupt geworden ist, hat Kenneth Burke in den sechziger Jahren das Geld zum »god term« erklärt (A Grammar of Motives, New York 1962, 355 f.). Und noch Luhmann hat in seinem letzten prähum veröffentlichten Buch die These vertreten, »das Geld scheint auf dem Wege zu sein, das Medium schlechthin zu werden«, nämlich das Medium, das auf alle gesellschaftlichen Funktionssysteme übergreift (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, 723). Ein Hauptgrund für diese ungeheure Bedeutsamkeitssteigerung des Geldes liegt darin, dass es nach dem historischen Übergang von der agrarisch statischen Bedarfsdeckungswirtschaft zur industriellen Lohn- und Entgeltungswirtschaft kaum noch Selbstversorger gibt. Damit brauchen fast alle das Geld als unentbehrliches Mittel der Existenzfristung. So ungemütlich und beklagenswert diese fast vollständige Geldvermitteltheit unseres Alltags auch sein mag, so ist sie doch in keiner Weise angemessen beschrieben als eine psychische Verselbständigung des Geldes zu einem ›Zweck‹ oder ›für sich befriedigenden Wert‹. Die Leute hängen am Geld nicht, weil es das ›Ziel aller Ziele‹ geworden wäre, sondern weil es das Mittel aller Mittel geworden ist, das die größte Tauschkapazität zur Realisierung immer neuer, und zwar selbstgesetzter Zwecke besitzt. Und wenn man davon ausgeht, dass die meisten Menschen in Antike wie Gegenwart das angenehme Leben und nicht das anstrengende Glück geistiger Kultur suchen, dann lieben sie das Geld allenfalls deshalb, weil es das Universalmittel zur Realisierung so vieler ungeistiger Zwecke ist. Simmels Behauptung dagegen, das Geld habe sich in der Moderne zum Endzweck verselbständigt, scheint ähnlich absurd wie die Behauptung, dass ein mittelalterlicher Bauer, der aus Not tags und nachts mit der Bewirtschaftung seines Hofes beschäftigt ist, damit den Hof zum Selbstzweck macht. .....
Simmels begriffliche Stilisierung der Sphäre gesamtgesellschaftlicher Produktionen zu einer Sphäre ›objektiver Kultur‹ zieht zweitens auch die Einseitigkeit nach sich, dass Simmel auf ein Kapazitätsproblem der Individuen reduzieren muss, was sich näher betrachtet als ein Selektionsproblem darstellt. Es scheint, dass gerade an dieser Fähigkeit zur glücklichen Selektion die Schicksals- und Überlebensfrage für die individuelle Geisteskultur, ja sogar für das geistige Immunsystem der Menschen hängt. Für eine solche wählerische Unterscheidung und Bevorzugung dessen, was aus der gigantischen Unmenge der gesellschaftlichen Produktionen überhaupt wichtig und würdig ist für geistige Assimilation, braucht das Individuum allerdings zwei Fähigkeiten: erstens Urteilskraft für die Erkenntnis dessen, was die Menschen - pathetisch gesprochen - höher und besser macht, und zweitens Widerstandskraft gegen die kulturfeindliche Innenweltverschmutzung durch die massenmediale Bedürfniserzeugungsindustrie. Hier ergibt sich allerdings das Problem, dass diese beiden Kardinaltugenden postmoderner Geisteskultur nicht einfach als natürliche Ressourcen vorausgesetzt werden können, sondern ihrerseits bereits Produkte von geistiger Kultur sind. Und deshalb scheint sich die zentrale Frage, ob Simmel wirklich einen langfristigen tragischen Untergang oder nur einen dramatischen Gestaltwandel von Kultur beschreibt, auf die Kernfrage zuzuspitzen, ob in postmodernen Gesellschaften Menschen gedeihen können, die diese Kräfte entwickeln. Dass es durch die Datenflut zwangsläufig zu einer Erosion der Urteilskraft kommen müsse, scheint mir ebensowenig ausgemacht, wie dass es durch das Dauerbombardement mit Informationen und Unterhaltungsmüll zu einer geistigen Abwehrschwäche kommen müsse. .....
Einen Punkt muss man Simmel jedoch, mit ihm über ihn hinausdenkend, einräumen, und es ist schade, dass ich ihn hier aus Zeitgründen nicht verdeutlichen kann anhand der psychologisch-pädagogischen Gegenwartsdebatten zum beschleunigten Zeitbewusstsein, nämlich dass der Zuwachs an technisch-medialer Komplexität und an gesellschaftlichem Tempo zu einer massiven Schwerpunktverlagerung innerhalb der geistig assimilierten Inhalte führen wird: Individuelle Geisteskultur wird, unter den Bedingungen jener von Simmel eindrucksvoll beschriebenen »Beschleunigung des Lebenstempos« (VI 699), immer weniger aus langen Büchern und Gesprächen schöpfen können und folglich immer weniger aus prägenden Zitaten und Grundgedanken im Langzeitgedächtnis bestehen können, sondern immer mehr bestehen müssen aus dem Know-how rascher Zugriffstechniken und abstrakter Transferleistungen. Und vielleicht ist dies die schmerzlichste Folge des Umbruchs von der Agrargesellschaft zur high-tech-medialen Variante von Industriegesellschaft: dass - in Ciceros Metaphorik - die pflegende Sorgfalt bei der Bearbeitung des eigenen Geistesackers immer weniger heimische Vertrautheit an Saat und Scholle findet und immer mehr an der Technik von Saat- und Erntemaschinen. .....
Ganz offensichtlich beschreibt Simmel hier in unzulänglicher Theorie dasjenige, was die Luhmannsche Systemtheorie als Ausdifferenzierung autonomer und autopoietischer Funktionssysteme der modernen Gesellschaft interpretiert. Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Religion oder Politik der Gesellschaft gehorchen inzwischen wohl einer funktionalen Eigengesetzlichkeit und Systemrationalität, die nach exklusiven Codes und eigenen Medien operieren. Simmels Hinweis auf die »Richtungsverschiedenheit« ... dieser Funktionssysteme ist völlig zutreffend, da sie ja unterschiedliche Methoden internalisiert haben, hochspezielle Teilprobleme der Gesellschaft zu bewältigen. Gleichwohl leuchtet seine Anspielung auf den Turmbau zu Babel nicht ein, der zufolge die einzelnen Bereiche »als Gesamtheit eigentlich schon vom Schicksal des babylonischen Turmes ereilt [scheinen] und ihr tiefster Wert, der gerade in dem Zusammenhang ihrer Teile besteht, mit Vernichtung bedroht scheint« ... . Denn schief bleibt der implizite Vergleichspunkt, die Aufsplitterung der gemeinsamen Ursprache in eine Vielzahl von Sprachen. Man könnte nämlich mit Luhmann durchaus einräumen, dass die Funktionssysteme unserer insgesamt zentrumslos gewordenen Gesellschaft sich - wie die Köpfe einer Hydra - wechselseitig beobachten und irritieren, ohne dass sie sich gegenseitig instruieren könnten. Und man dürfte ferner einräumen, dass das Recht eine völlig andere Sprache spricht als etwa die Kunst oder die Religion. Die Frage ist jedoch, welchem Subjekt man diese Vielsprachigkeit beilegt. Das Bibelwort, »daß keiner des anderen Sprache verstehe« (1. Mos. 11, 7), gilt zwar für die einzelnen Funktionssysteme als solche, nicht jedoch für die Individuen, die in irgendeinem Grad an allen Teilsystemen partizipieren und deshalb auch alle Teilsprachen erlernen können. Wie aber die Polyglottie bei Nationalsprachen ein Zeichen geistig kultivierter Individuen ist, so könnte man auch in der Beherrschung vieler Systemsprachen gerade eine Herausforderung für die individueller Kultur sehen! Simmels Furcht vor der »Vernichtung« des Gesamtzusammenhangs zwischen den Teilsystemen ist zwar nicht unbegründet, wenn man sich die massiven Steuerungsprobleme unserer Gesellschaft vor Augen hält.
Bilanziert man am Ende Simmels These von der ›Tragödie der Kultur‹, so wird man sagen müssen, dass ihre historische Großperspektive uns über folgendes belehrt: Individuelle Geisteskultur ist in fortgeschrittenen Gesellschaften strukturell erheblich schwerer geworden. Und ihr ursprünglich agrarischer Geist eines Bebauens und Wohnens im überschaubaren Vertrautheitsradius verfliegt zunehmend in einen nomadischen Geist umhergetriebener Großstadtvölker, die wie Fremdlinge durch immer weitere und virtuellere Steppen reiten. Dass aber jener agrarische Weg der Seele von sich selbst zu sich selbst der wahre oder einzige sei, könnte ein alteuropäisches Vorurteil sein. An alteuropäischen Werten gemessen muss der neue Weg als eine umweltbedingte Kümmerform von Kultur erscheinen. Falls es jedoch auch eine neonomadische Geisteskultur geben sollte, so hat sie mit der alten agrarischen immerhin eines gemeinsam. Auch sie kann sich niemals zu einem autopoietischen Funktionssystem namens ›die Kultur der Gesellschaft‹ ausdifferenzieren."
[Hervorhebung von mir]




Textstand vom 10.07.2010. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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