Unter der Überschrift "Euro-Schuldenkrise. Koalitionsspitze trifft sich überraschend" berichtete heute u. a. das Handelsblatt in einer von der dpa übernommenen Meldung.:
"Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) warnte unterdessen vor gravierenden Folgen, falls der Euro-Rettungsschirm ESM und der europäische Fiskalpakt in Karlsruhe scheitern sollten. Das Bundesverfassungsgericht befasst sich am Dienstag mit Eilanträgen gegen den ESM und den Fiskalpakt. Sollten die Karlsruher Richter die Gesetze für grundgesetzwidrig erklären, hätte das heftige Folgen nicht nur für Deutschland, mahnte Lammert im SWR-„Interview der Woche“. „Deswegen habe ich keinen Zweifel, dass das Bundesverfassungsgericht auch diese Zusammenhänge in die eigene Urteilsbildung einbeziehen wird.“ Das habe das Gericht bei völkerrechtlichen Verträgen auch früher schon getan."
Sollte Bundestagspräsident Norbert Lammert (andere Politiker äußern sich ähnlich, jedoch nicht derart krass) mit dieser Erpressung durchkommen, müsste ich die Verfassungsrichter für manipulierbare Hampelmänner halten.
Deutlicher als je zuvor zeigt dieser Lammertsche Erpressungsversuch, dass die Regierungskoalition selber von einer Verfassungswidrigkeit des Vertrags über den Europäischen Stabilitäts Mechanismus (ESM) ausgeht.
Denn Lammert begründet bezeichnender Weise die von ihm an das Bundesverfassungsgericht herangetragene Abnickerwartung nicht mit einer Vereinbarkeit des Vertrages mit dem Grundgesetz, oder überhaupt demokratischer Prinzipien, sondern ausschließlich mit den angeblich verheerenden Folgen.
Das nennt man einen Erpressungsversuch, lieber Herr Bundestagspräsident!
Und zugleich wollen Sie auch noch das Grundgesetz aushebeln!
Während die Schlapphüte zur Linken und zur Rechten in obskuren Kleingruppen nach Verfassungsfeinden suchen, läuft der vom Rang her Zweite Mann im Staate mit seinen verfassungsfeindlichen Aktivitäten frei herum: DAS ist der wahre Skandal!
SIE SIND EIN VERFASSUNGSFEIND, Herr Lammert!
Andreas Vosskuhle, der Präsident des Verfassungsgericht, und seine Richterkollegen sind jetzt erst Recht aufgefordert, unsere Demokratie gegen die Erpressungen der Finanzmärkte und unserer europäischen "Freunde" zu verteidigen.
Wenn die Verfassungsrichter jetzt wieder einknicken (wie sie nach meinem Dafürhalten schon bei der Einführung des Euro eingeknickt sind), dann verlieren sie jegliche Glaubwürdigkeit und outen sich als Marionetten, die sich von der Politik am Gängelband führen lassen.
Nachträge: Vgl. zu den beim Verfassungsgericht anstehenden Klagen gegen den ESM auch meinen früheren Blott "Wenn Voßkuhle die Zustimmung des Bundestages zum ESM nicht knickt, dann können wir das Bundesverfassungsgericht und unsere ganze Demokratie knicken!" vom 26.06.12.
Eine scharfe aber treffende Beschreibung der Umstände, unter denen Bundestag und Bundesrat die deutsche Zustimmung zum ESM-Vertrag beschlossen haben, formuliert der Artikel "Regiert von Statisten" von Thorsten Hinz in der Junge Freiheit vom 07.07.12.
Nachträge 08.07.2012
Wohltuend hebt sich die Haltung unseres Bundespräsidenten Joachim Gauck von den Erpressungsmanövern der Politik ab. Auszug aus dem heutigen FAZ-Bericht "Euro-Krisenpolitik. Gauck fordert Erklärungen von Merkel":
"Selbstkritisch zeigte sich Gauck im Rückblick auf seine Äußerung vom April, wonach er keine Bedenken wegen der Verfassungsmäßigkeit des deutschen Euro-Rettungskurses habe. „Da hätte mehr Zurückhaltung mir gut gestanden“, sagte Gauck nun selbstkritisch. Er verwies aber nach ZDF-Angaben darauf, dass seine Äußerung in dem Interview von damals spontan und keinesfalls geplant gewesen sei."
Unter der Überschrift "Bundesverfassungsgericht. Europa hängt an einer Unterschrift" brachte die FAZ (Melanie Amann) gestern eine ausführliche Analyse der Lage.
In seinem Artikel "Vor der ESM-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Der Anti-Euro-Kreuzzug des Hans-Werner Sinn" vom 06.07.12 berichtet Focus Online , dass das Gericht Prof. Dr. Hans-Werner Sinn als Sachverständigen bestellt hat. Weiter lesen wir:
" 'Das Verfassungsgericht tagt nächste Woche. Wir wollten unsere Meinung auf jeden Fall noch vorher der Öffentlichkeit präsentieren', sagte Walter Krämer, der Koordinator des Appells. Wollen die Euro-skeptischen Ökonomen das Gericht in seiner Entscheidung beeinflussen? Krämers Antwort gegenüber FOCUS Online: 'Immerhin ist Herr Sinn als Sachverständiger nach Karlsruhe geladen – das ist ein gutes Zeichen'. ..... Beim Verfassungsgericht selbst will man sich zu Sinns Rolle und dem umstrittenen Appell nicht äußern. Hinter vorgehaltener Hand heißt es lediglich, ein Sachverständiger habe immer eine eigene Meinung. Das Gericht könne das aber einordnen und werde sich nicht beeinflussen lassen."
Nachträge 09.07.2012
Auch Alexander Graf Lambsdorff, der Vorsitzende der FDP im Europäischen Parlament, geifert gegen das Bundesverfassungsgericht. In einem heute von der Passauer Neuen Presse
veröffentlichten Interview u. d. T. "Schweres Geschütz gegen Bundesverfassungsgericht" vom behauptet er: "Manche Beobachter kritisieren zu Recht, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht mit allen Vorgängen in Europa ausreichend vertraut sind. Deshalb kommt es gelegentlich zu Fehleinschätzungen aus Unkenntnis. Das ist besorgniserregend, schließlich wird so der größte Mitgliedsstaat Europas in seinem Handeln eingeschränkt."
Aber warum sollten die Richter "mit allen Vorgängen in Europa ausreichend vertraut" sein? Ihre Aufgabe ist es ja, Gesetze und völkerrechtliche Verträge auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Grundgesetz zu überprüfen, und nicht je nach vermeintlicher Opportunität, und auch nicht nach scheinbarer "Alternativlosigkeit" Gesetze und Verträge durchzuwinken!
Richtig muss es also heißen, dass Alexander Graf Lambsdorff nicht ausreichend mit den Aufgaben eines Verfassungsgerichts vertraut ist!
In einem (sehr maßvoll formulierten) FAZ-Kommentar "Rettungspolitik. Die Karlsruhe-Rempler" gelangt heute auch Heike Göbel zu dem Schluss:
"Die Nervosität, die aus den vielfältigen Äußerungen der deutschen Politik vor der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe spricht, ist jedenfalls ein Indiz dafür, dass man sich viel näher an den vom Grundgesetz gezogenen Grenzen sieht, als nach außen zugegeben wird. Die verbalen Rempeleien Richtung Karlsruhe ..... sind dabei nicht nur schlechter Stil, sondern auch Indikator des schlechten Gewissens."
Nachträge 10.07.2012
Nicht nur in der FAZ, sondern auch in anderen Medien wird die versuchte Einflussnahme der Politik auf das Bundesverfassungsgericht konstatiert und kritisiert. (Hervorhebungen in den nachfolgenden Zitaten jeweils von mir.)
In der Wirtschaftswoche vom 09.07.12 schreibt Christian Ramthun u. d. T. "Euro-Rettung. Massiver Druck auf Karlsruhe":
"Die Karlsruher Richter müssen darüber befinden, ob ESM und Fiskalpakt die grundgesetzlich geschützten Hoheitsrechte Deutschlands, insbesondere des Bundestages, in unzulässiger Weise beschränken. Diese Frage könnte oder müsste man streng juristisch prüfen. Doch genau davor scheinen gerade die Befürworter der Rettungsmaßnahmen Angst zu haben. Nicht anders ist die fast schon rüde Art mancher Argumente zu werten. ..... Wie kann der FDP-Vorsitzende im Europa-Parlament, Alexander Graf Lambsdorff, in einem Zeitungsinterview sagen: „Manche Beobachter kritisieren zu recht, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht mit allen Vorgängen in Europa ausreichend vertraut sind.“ ..... Das sind gleich zwei Frechheiten. Erstens zieht er die Kompetenz der Richter in Zweifel, und zweitens muss es bei diesem Verfahren allein um die Verfassungsmäßigkeit auf der Basis des Grundgesetzes gehen – und nicht um irgendwie mögliche europäische Konsequenzen."
Außerordentlich informativ, was die Kanäle der versuchten Einflussnahme angeht, ist der WELT-Bericht "ESM und Fiskalpakt. Politiker machen Stimmung gegen Verfassungsrichter" von Thorsten Jungholt vom 09.07.12. Dort erfährt man einiges, was die anderen, meist wohl auf Agenturmeldungen bzw. anderen Presseveröffentlichungen aufbauenden Kommentare nicht enthalten:
"Immer hat Karlsruhe der Übertragung von weiteren Hoheitsrechten aus Berlin nach Brüssel zugestimmt, allerdings mit stets lauter werdenden Mahnungen. Beispielhaft sei aus der Urteilsbegründung des Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle aus dem September 2011 zitiert. "Der Tenor der Entscheidung ist knapp", sagte Voßkuhle zur höchstrichterlichen Billigung der Hilfen für Griechenland und des ersten Euro-Rettungsschirms EFSF. "Er sollte aber nicht fehl gedeutet werden in eine verfassungsrechtliche Blanko-Ermächtigung für weitere Rettungspakete. ..... . Hans-Gert Pöttering (CDU), ehemaliger Präsident des Europäischen Parlamentes und aktuell Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung, hatte zwei Juristen aus Karlsruhe zur rechtspolitischen Konferenz seines Hauses geladen: den Vizepräsidenten des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, und Herbert Landau, Mitglied des zweiten Senates, der an diesem Dienstag erstmals über die Klagen verhandelt. Pöttering (CDU) las ihnen gründlich die Leviten. Die von Karlsruhe in früheren Urteilen entwickelten Grenzlinien zur europäischen Integration könne er dem Grundgesetz nicht entnehmen, sagte der Gastgeber. Das vom Gericht behauptete Demokratiedefizit in der EU gebe es so nicht, stattdessen aber eine "gewisse Geringschätzung des Europäischen Parlamentes" durch die deutschen Richter. ..... Starker Tobak. Zu stark für Kirchhof, der entgegnete: "Das war etwas viel, Herr Pöttering!" Der Richter, Mitglied des nicht für das Thema zuständigen ersten Senats, nannte die Rede des CDU-Politikers "nicht angemessen" und mahnte einen anderen "Stil der Auseinandersetzung" an. ..... Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio ..... hatte ..... als federführender Berichterstatter des Lissabon-Urteils 2009 den Boden für diese Diskussion bereitet. Darin heißt es sinngemäß, dass irgendwann mit der scheibchenweisen Übertragung von Souveränitätsrechten nach Brüssel Schluss sei und das Volk den in Artikel 146 Grundgesetz vorgezeichneten Weg gehen – und mithin über eine neue Verfassung abstimmen müsse. Davon wollte di Fabio nun nichts mehr wissen: Der Artikel habe rein deklaratorische Bedeutung, sagte der Ex-Richter und mahnte: "Hände weg vom Grundgesetz!" ..... Ein weiterer Beitrag dazu kam von Angela Merkel, die ihrem Ärger über die Richter vor zwei Wochen im CDU-Präsidium Luft gemacht haben soll. Wie der "Spiegel" berichtet, klagte sie dort über die ständigen Ordnungsrufe aus Karlsruhe, den Bundestag in alle Brüsseler Verhandlungen einzubeziehen."
Sehr informativ ist auch der lange Handelsblatt-Artikel "Euro-Rettung. Warnschüsse auf Karlsruhe lösen Empörung aus" vom 09.07.12.
Auch der noch längere HB-Bericht "Schuldenkrise. Das wortreiche Scheitern der Euro-Erklärer", ebenfalls vom 9.7., der hauptsächlich die 'Frontlinien' im innerdeutschen Eurettungsstreit beschreibt, beschäftigt sich am Rande mit den in Karlsruhe anhängigen Verfassungsbeschwerden.
Eher kurz ist der SPON-Artikel "Verhandlung zur Euro-Rettung. Regierung hofft auf Gnade aus Karlsruhe" vom 9.7.12. Allerdings gibt es vom gleichen Datum einen weiteren Bericht zur Lage unter "Verhandlung über Euro-Rettungsschirm. Politiker setzen Verfassungsrichter unter Druck".
Einen anderen Aspekt beleuchtet die Süddeutsche Zeitung am 9.7. unter "Verfassungsgericht prüft ESM und Fiskalpakt. Welche Folgen ein Veto aus Karlsruhe hätte".
Ähnlich wie sein Kollege Heribert Prantl (vgl. dazu meinen Blott "Wenn Voßkuhle die Zustimmung des Bundestages zum ESM nicht knickt, dann können wir das Bundesverfassungsgericht und unsere ganze Demokratie knicken!") kritisiert Marc Beise inn der SZ die Versuche der Politik, die Diskussion um die europäische Schuldenunion zu unterdrücken und fordert eine breite Beteiligung der Bürger - egal, wie die Sache am Ende ausgeht: "Debatte um die Euro-Rettung. Streitet euch, solange ihr noch könnt!" (08.07.12).
Weitere Stimmen in der Debatte über die Verfassungsklage zitiert heute die SZ in "ESM und Fiskalpakt. Leutheusser-Schnarrenberger rügt Druck auf Verfassungsrichter". Die Überschrift ist Musik, für die Ohren des Volkes bestimmt; in Wahrheit versucht aber auch die Bundesjustizministerium, die Verfassungsrichter zu beeinflussen - nur etwas subtiler: " 'Die Richter wissen auch um die Bedeutung, die ihre Entscheidung auf die Wirtschaft hat." Sie habe "überhaupt keine Sorge, dass die Entscheidung zu Irritationen führen wird", sagte die Ministerin.". Mit anderen Worten: 'Selbstverständlich erwarte auch ich, dass das Gericht den Bundestagsbeschluss abnickt'.
Unter der Überschrift "Wir wollen ein besseres Europa" hat die FAZ am 9.7.12 ein Interview mit Herta Däubler-Gmelin veröffentlicht, die auch mich als Kläger (d. h. als jemanden, der sich der Massenklage angeschlossen hat) vertritt:
"Das Bundesverfassungsgericht hatte bisher über ähnliche Fragen zu entscheiden und hat in diesen Entscheidungen „rote Linien“ bestimmt, die nicht überschritten werden dürfen. Wir sagen: Sie sind im Fall der jetzt anstehenden Verträge überschritten, weil dauerhafte Haftungsmechanismen völkerrechtlich vereinbart werden sollen, die Verpflichtungen enthalten, die der Bundestag nicht in jedem Einzelfall ablehnen oder gestalten kann. Deshalb ist jetzt die Lage anders. ..... Europa wird Bestand haben, wenn es seinen eigenen Prinzipien von Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit folgt. Dann haben die Bürger Vertrauen. Wir wollen ein besseres Europa, keines der Bürokraten, das Frau Merkel uns als „alternativlos“ verkaufen will. ..... Die Auseinandersetzung geht quer durch alle Parteien und Fachleute. Das ist gut. Entscheidungen zur Rettung des Euro und zur Übertragung von Hoheitsrechten auf Europa sind nie „alternativlos“, obwohl leider viele, auch viele Journalisten das nachplappern. Solche Entscheidungen hängen immer von den Interessen ab, denen sich Regierung oder Parteien verpflichtet fühlen. Mir sind die Banken zu stark vertreten. Karlsruhe prüft jetzt nach den Festlegungen unserer Verfassung. ..... Die Forderung nach einem Volksentscheid ist bekanntlich vom Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen ins Gespräch gebracht worden. „Mehr Demokratie“ fordert dies – im Internet seit April nachzulesen - schon lange."
Nach dürfen wir hoffen. Soeben lese ich im "Live-Ticker aus dem Verfassungsgericht" er Financial Times Deutschland (FTD) (meine Hervorhebung):
"Im übrigen nimmt Voßkuhle eine Aussage von Altkanzler Helmut Schmidt [der ja auch versucht hatte, Druck auf das Gericht zu machen] auf: "Das Gericht wird der Versuchung widerstehen, sein Herz über eine Hürde zu werfen, sondern mit beiden Füßen auf dem Grundgesetz stehend über die Anträge entscheiden"."
Das ist ein hübscher Konterschlag gegen Helmuts Erpressungsmanöver!
Nachtrag 12.07.2012
Gegenwind bekommen die Erpressungsmanöver jetzt von einem ehemaligen Verfassungsrichter: Unter "Verfassungsnot!" schreibt Paul Kirchhof heute in der FAZ (meine Hervorhebung):
"Die Finanzautonomie jedes Staates ist Voraussetzung für eine Demokratie, in der die Steuerzahler die staatlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens und ihres Wirtschaftens finanzieren und in der sie selbst, repräsentiert durch ihre Abgeordneten, über die Staatsaufgaben, die Staatsausgaben, die Steuern und die Schulden entscheiden. ..... Mancher Interpret des Unionsvertrages begleitet diese Entwicklung mit einer überdehnenden Interpretation der Vertragsinhalte. Das, was um der Stabilität des Euro willen ausgeschlossen werden sollte, sei durchaus erlaubt. Andere bemühen das Stichwort von der Not, die kein Gebot kenne, empfehlen für eine Übergangszeit, sich um Rechtlichkeit und Vertrauenswürdigkeit nicht sonderlich zu bemühen. Das ist ein riskantes Unterfangen. Ohne Recht gibt es keinen Frieden. ..... Ohne Recht fehlt dem politischen Mandat seine Grundlage. ..... sind viele bereit, im Heute ein Stück des Weges in die weitere Illegalität voranzuschreiten, weil dieser Weg beachtliche Gewinne verheißt oder auch nur die Chance bietet, drohende Verluste auf andere zu verschieben. Wir spielen mit dem Feuer, wollen selbstverständlich niemals den großen Brand. Doch dieser droht ernstlich. ..... Verfassungsnot fordert Deutlichkeit: Eine Instabilität des Rechts wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen. Niemand wird leichtfertig über Wirtschaft, Markt und Finanzen sprechen, schon gar nicht leichtsinnig wirtschaftspolitische Entscheidungen treffen. Aber wenn die Autorität des Rechts nur durch einen vorübergehenden Verzicht auf Wachstum, durch eine zeitweilige Prosperitätseinbuße zurückgewonnen werden könnte, müssten wir diesen Weg gehen. Der umgekehrte Weg, Finanzstabilität durch immer weniger Rechtsstabilität zu erreichen, ist nicht gangbar. ..... Das Verschuldensproblem wird im Euro-Raum weiter gesteigert und strukturell verändert, wenn die als finanzstark geltenden Schuldenstaaten zu Finanzhilfen an die finanzschwachen Staaten gedrängt werden, ohne die Verwendung dieses Geldes verlässlich rechtlich durch Bedingungen und Auflagen begleiten zu können. Die Verwendung von Steueraufkommen oder eine Zusatzverschuldung wird nicht mehr im eigenen Parlament vor den Steuerzahlern verantwortet, sondern den Entscheidungen anderer Staaten anheimgegeben. Eine solche Entscheidung dürfte das Parlament nicht treffen, wäre für die Regierung unzumutbar und würde den Steuerzahler empören. ..... Die Europäische Union steht und fällt mit ihrer Rechtlichkeit. Sie braucht ein festes Verfassungs- und Vertragsrecht, das die Institutionen - der Erstinterpret Parlament und Regierung, der Zweitinterpret Bundesverfassungsgericht - unbeirrt ins Werk setzen." Der Artikel hat noch eine weitere Dimension, die ich hier ausgeklammert habe, nämlich die Kritik am Bailout der Kapitalbesitzer durch die Steuerzahler. Jedenfalls fordert Kirchhof nach meinem Textverständnis das Bundesverfassungsgericht ganz massiv dazu auf, die Bundestagsbeschlüsse über den ESM-Vertrag und den Fiskalpakt aufzuheben.
Bravo, bzw. danke!
Nachtrag 23.07.2012
Immer mehr komme ich jetzt zu der Überzeugung, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der Eilanträge bzw. der Klagen gegen den ESM lediglich eine Schau abziehen will. Die Financial Times Deutschland berichtete jetzt in einem ganz anderen Zusammenhang ("IWF droht Griechenland mit Zahlungsstopp") beiläufig:
"Auch die ebenfalls am 12. September stattfindende Parlamentswahl in den Niederlanden muss abgewartet werden, da die derzeitige Regierung nur geschäftsführend tätig ist und keine Grundsatzentscheidungen in der Euro-Schuldenkrise treffen kann."
Dem entsprechend vermute ich, dass das BVerfG seine Entscheidung nach Absprache (bösartiger könnte man auch sagen: in kollusivem Zusammenwirken) mit der Bundesregierung auf den 12.09.2012 gelegt hat, weil bis dahin der ESM schon wegen der Lage in den Niederlanden nicht in Kraft treten kann.
Und dann werden die Karlsruher Richter, nachdem sie dem Volke eine intensive Prüfung vorgegaukelt haben, unsere totale Ausplünderung wohl abnicken.
In der Wirtschaftswoche vom 09.07.12 schreibt Christian Ramthun u. d. T. "Euro-Rettung. Massiver Druck auf Karlsruhe":
"Die Karlsruher Richter müssen darüber befinden, ob ESM und Fiskalpakt die grundgesetzlich geschützten Hoheitsrechte Deutschlands, insbesondere des Bundestages, in unzulässiger Weise beschränken. Diese Frage könnte oder müsste man streng juristisch prüfen. Doch genau davor scheinen gerade die Befürworter der Rettungsmaßnahmen Angst zu haben. Nicht anders ist die fast schon rüde Art mancher Argumente zu werten. ..... Wie kann der FDP-Vorsitzende im Europa-Parlament, Alexander Graf Lambsdorff, in einem Zeitungsinterview sagen: „Manche Beobachter kritisieren zu recht, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht mit allen Vorgängen in Europa ausreichend vertraut sind.“ ..... Das sind gleich zwei Frechheiten. Erstens zieht er die Kompetenz der Richter in Zweifel, und zweitens muss es bei diesem Verfahren allein um die Verfassungsmäßigkeit auf der Basis des Grundgesetzes gehen – und nicht um irgendwie mögliche europäische Konsequenzen."
Außerordentlich informativ, was die Kanäle der versuchten Einflussnahme angeht, ist der WELT-Bericht "ESM und Fiskalpakt. Politiker machen Stimmung gegen Verfassungsrichter" von Thorsten Jungholt vom 09.07.12. Dort erfährt man einiges, was die anderen, meist wohl auf Agenturmeldungen bzw. anderen Presseveröffentlichungen aufbauenden Kommentare nicht enthalten:
"Immer hat Karlsruhe der Übertragung von weiteren Hoheitsrechten aus Berlin nach Brüssel zugestimmt, allerdings mit stets lauter werdenden Mahnungen. Beispielhaft sei aus der Urteilsbegründung des Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle aus dem September 2011 zitiert. "Der Tenor der Entscheidung ist knapp", sagte Voßkuhle zur höchstrichterlichen Billigung der Hilfen für Griechenland und des ersten Euro-Rettungsschirms EFSF. "Er sollte aber nicht fehl gedeutet werden in eine verfassungsrechtliche Blanko-Ermächtigung für weitere Rettungspakete. ..... . Hans-Gert Pöttering (CDU), ehemaliger Präsident des Europäischen Parlamentes und aktuell Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung, hatte zwei Juristen aus Karlsruhe zur rechtspolitischen Konferenz seines Hauses geladen: den Vizepräsidenten des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, und Herbert Landau, Mitglied des zweiten Senates, der an diesem Dienstag erstmals über die Klagen verhandelt. Pöttering (CDU) las ihnen gründlich die Leviten. Die von Karlsruhe in früheren Urteilen entwickelten Grenzlinien zur europäischen Integration könne er dem Grundgesetz nicht entnehmen, sagte der Gastgeber. Das vom Gericht behauptete Demokratiedefizit in der EU gebe es so nicht, stattdessen aber eine "gewisse Geringschätzung des Europäischen Parlamentes" durch die deutschen Richter. ..... Starker Tobak. Zu stark für Kirchhof, der entgegnete: "Das war etwas viel, Herr Pöttering!" Der Richter, Mitglied des nicht für das Thema zuständigen ersten Senats, nannte die Rede des CDU-Politikers "nicht angemessen" und mahnte einen anderen "Stil der Auseinandersetzung" an. ..... Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio ..... hatte ..... als federführender Berichterstatter des Lissabon-Urteils 2009 den Boden für diese Diskussion bereitet. Darin heißt es sinngemäß, dass irgendwann mit der scheibchenweisen Übertragung von Souveränitätsrechten nach Brüssel Schluss sei und das Volk den in Artikel 146 Grundgesetz vorgezeichneten Weg gehen – und mithin über eine neue Verfassung abstimmen müsse. Davon wollte di Fabio nun nichts mehr wissen: Der Artikel habe rein deklaratorische Bedeutung, sagte der Ex-Richter und mahnte: "Hände weg vom Grundgesetz!" ..... Ein weiterer Beitrag dazu kam von Angela Merkel, die ihrem Ärger über die Richter vor zwei Wochen im CDU-Präsidium Luft gemacht haben soll. Wie der "Spiegel" berichtet, klagte sie dort über die ständigen Ordnungsrufe aus Karlsruhe, den Bundestag in alle Brüsseler Verhandlungen einzubeziehen."
Sehr informativ ist auch der lange Handelsblatt-Artikel "Euro-Rettung. Warnschüsse auf Karlsruhe lösen Empörung aus" vom 09.07.12.
Auch der noch längere HB-Bericht "Schuldenkrise. Das wortreiche Scheitern der Euro-Erklärer", ebenfalls vom 9.7., der hauptsächlich die 'Frontlinien' im innerdeutschen Eurettungsstreit beschreibt, beschäftigt sich am Rande mit den in Karlsruhe anhängigen Verfassungsbeschwerden.
Eher kurz ist der SPON-Artikel "Verhandlung zur Euro-Rettung. Regierung hofft auf Gnade aus Karlsruhe" vom 9.7.12. Allerdings gibt es vom gleichen Datum einen weiteren Bericht zur Lage unter "Verhandlung über Euro-Rettungsschirm. Politiker setzen Verfassungsrichter unter Druck".
Einen anderen Aspekt beleuchtet die Süddeutsche Zeitung am 9.7. unter "Verfassungsgericht prüft ESM und Fiskalpakt. Welche Folgen ein Veto aus Karlsruhe hätte".
Ähnlich wie sein Kollege Heribert Prantl (vgl. dazu meinen Blott "Wenn Voßkuhle die Zustimmung des Bundestages zum ESM nicht knickt, dann können wir das Bundesverfassungsgericht und unsere ganze Demokratie knicken!") kritisiert Marc Beise inn der SZ die Versuche der Politik, die Diskussion um die europäische Schuldenunion zu unterdrücken und fordert eine breite Beteiligung der Bürger - egal, wie die Sache am Ende ausgeht: "Debatte um die Euro-Rettung. Streitet euch, solange ihr noch könnt!" (08.07.12).
Weitere Stimmen in der Debatte über die Verfassungsklage zitiert heute die SZ in "ESM und Fiskalpakt. Leutheusser-Schnarrenberger rügt Druck auf Verfassungsrichter". Die Überschrift ist Musik, für die Ohren des Volkes bestimmt; in Wahrheit versucht aber auch die Bundesjustizministerium, die Verfassungsrichter zu beeinflussen - nur etwas subtiler: " 'Die Richter wissen auch um die Bedeutung, die ihre Entscheidung auf die Wirtschaft hat." Sie habe "überhaupt keine Sorge, dass die Entscheidung zu Irritationen führen wird", sagte die Ministerin.". Mit anderen Worten: 'Selbstverständlich erwarte auch ich, dass das Gericht den Bundestagsbeschluss abnickt'.
Unter der Überschrift "Wir wollen ein besseres Europa" hat die FAZ am 9.7.12 ein Interview mit Herta Däubler-Gmelin veröffentlicht, die auch mich als Kläger (d. h. als jemanden, der sich der Massenklage angeschlossen hat) vertritt:
"Das Bundesverfassungsgericht hatte bisher über ähnliche Fragen zu entscheiden und hat in diesen Entscheidungen „rote Linien“ bestimmt, die nicht überschritten werden dürfen. Wir sagen: Sie sind im Fall der jetzt anstehenden Verträge überschritten, weil dauerhafte Haftungsmechanismen völkerrechtlich vereinbart werden sollen, die Verpflichtungen enthalten, die der Bundestag nicht in jedem Einzelfall ablehnen oder gestalten kann. Deshalb ist jetzt die Lage anders. ..... Europa wird Bestand haben, wenn es seinen eigenen Prinzipien von Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit folgt. Dann haben die Bürger Vertrauen. Wir wollen ein besseres Europa, keines der Bürokraten, das Frau Merkel uns als „alternativlos“ verkaufen will. ..... Die Auseinandersetzung geht quer durch alle Parteien und Fachleute. Das ist gut. Entscheidungen zur Rettung des Euro und zur Übertragung von Hoheitsrechten auf Europa sind nie „alternativlos“, obwohl leider viele, auch viele Journalisten das nachplappern. Solche Entscheidungen hängen immer von den Interessen ab, denen sich Regierung oder Parteien verpflichtet fühlen. Mir sind die Banken zu stark vertreten. Karlsruhe prüft jetzt nach den Festlegungen unserer Verfassung. ..... Die Forderung nach einem Volksentscheid ist bekanntlich vom Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen ins Gespräch gebracht worden. „Mehr Demokratie“ fordert dies – im Internet seit April nachzulesen - schon lange."
Ebenfalls in der FAZ schrieb Reinhard Müller am 09.07.12: "Bundesverfassungsgericht. Die Barbiere von Karlsruhe": "Das Bundesverfassungsgericht, das ab heute über die Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung entscheidet, hat längst die Rolle einer Opposition übernommen. Es ist ein Ort der Überzeugungsarbeit." Der Kommentar erscheint mir tendenziell letztlich eher für Eurettungsmaßnahmen einzutreten, ist aber doch sehr abgewogen.
Ganz besonders ist noch auf ein Porträt von Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgericht, hinzuweisen, das Joachim Jahn in der FAZ am 08.07.2012 unter "Andreas Voßkuhle. Moderator und Außenminister" veröffentlicht hat. Auszüge:
"Voßkuhle ist zwar parteilos, hat aber einst in einem Interview eine Nähe zur SPD kundgetan. Als Gerichtspräsident hat er gegenüber den anderen Richtern keine Weisungsbefugnis. ..... Eine gewisse Skepsis [gegen den ESM-Vertrag] wird man Voßkuhle ... durchaus unterstellen dürfen. Schon im vergangenen September wandte er sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gegen eine schleichende Übertragung von Macht auf eine europäische Wirtschaftsregierung. „In der Informalisierung politisch weitreichender Entscheidungen liegt eine Gefahr“, sagte er: „Versuche, Recht und Regeln im Hinterzimmer oder unter Hinweis auf konkrete Nöte zu umgehen, haben Langzeitwirkungen, vor denen ich nur warnen kann.“ Das Grundgesetz erlaube weitere Kompetenzübertragungen an europäische Institutionen ohnehin kaum: „Der Rahmen ist weitgehend ausgeschöpft. ..... Voßkuhle [will] nicht nur durch seine Urteile und Fachaufsätze sprechen [sondern auch durch öffentliche Äußerungen]. Denn selbst die oberste Instanz braucht Akzeptanz auch in der Öffentlichkeit. Voßkuhle kann zwar so blumig und zugleich gestochen scharf formulieren, wie dies unter Staatsrechtslehrern zum guten Ton gehört, wirkt dabei aber unprätentiös und umgänglich."
Ganz besonders ist noch auf ein Porträt von Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgericht, hinzuweisen, das Joachim Jahn in der FAZ am 08.07.2012 unter "Andreas Voßkuhle. Moderator und Außenminister" veröffentlicht hat. Auszüge:
"Voßkuhle ist zwar parteilos, hat aber einst in einem Interview eine Nähe zur SPD kundgetan. Als Gerichtspräsident hat er gegenüber den anderen Richtern keine Weisungsbefugnis. ..... Eine gewisse Skepsis [gegen den ESM-Vertrag] wird man Voßkuhle ... durchaus unterstellen dürfen. Schon im vergangenen September wandte er sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gegen eine schleichende Übertragung von Macht auf eine europäische Wirtschaftsregierung. „In der Informalisierung politisch weitreichender Entscheidungen liegt eine Gefahr“, sagte er: „Versuche, Recht und Regeln im Hinterzimmer oder unter Hinweis auf konkrete Nöte zu umgehen, haben Langzeitwirkungen, vor denen ich nur warnen kann.“ Das Grundgesetz erlaube weitere Kompetenzübertragungen an europäische Institutionen ohnehin kaum: „Der Rahmen ist weitgehend ausgeschöpft. ..... Voßkuhle [will] nicht nur durch seine Urteile und Fachaufsätze sprechen [sondern auch durch öffentliche Äußerungen]. Denn selbst die oberste Instanz braucht Akzeptanz auch in der Öffentlichkeit. Voßkuhle kann zwar so blumig und zugleich gestochen scharf formulieren, wie dies unter Staatsrechtslehrern zum guten Ton gehört, wirkt dabei aber unprätentiös und umgänglich."
Nach dürfen wir hoffen. Soeben lese ich im "Live-Ticker aus dem Verfassungsgericht" er Financial Times Deutschland (FTD) (meine Hervorhebung):
"Im übrigen nimmt Voßkuhle eine Aussage von Altkanzler Helmut Schmidt [der ja auch versucht hatte, Druck auf das Gericht zu machen] auf: "Das Gericht wird der Versuchung widerstehen, sein Herz über eine Hürde zu werfen, sondern mit beiden Füßen auf dem Grundgesetz stehend über die Anträge entscheiden"."
Das ist ein hübscher Konterschlag gegen Helmuts Erpressungsmanöver!
Nachtrag 12.07.2012
Gegenwind bekommen die Erpressungsmanöver jetzt von einem ehemaligen Verfassungsrichter: Unter "Verfassungsnot!" schreibt Paul Kirchhof heute in der FAZ (meine Hervorhebung):
"Die Finanzautonomie jedes Staates ist Voraussetzung für eine Demokratie, in der die Steuerzahler die staatlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens und ihres Wirtschaftens finanzieren und in der sie selbst, repräsentiert durch ihre Abgeordneten, über die Staatsaufgaben, die Staatsausgaben, die Steuern und die Schulden entscheiden. ..... Mancher Interpret des Unionsvertrages begleitet diese Entwicklung mit einer überdehnenden Interpretation der Vertragsinhalte. Das, was um der Stabilität des Euro willen ausgeschlossen werden sollte, sei durchaus erlaubt. Andere bemühen das Stichwort von der Not, die kein Gebot kenne, empfehlen für eine Übergangszeit, sich um Rechtlichkeit und Vertrauenswürdigkeit nicht sonderlich zu bemühen. Das ist ein riskantes Unterfangen. Ohne Recht gibt es keinen Frieden. ..... Ohne Recht fehlt dem politischen Mandat seine Grundlage. ..... sind viele bereit, im Heute ein Stück des Weges in die weitere Illegalität voranzuschreiten, weil dieser Weg beachtliche Gewinne verheißt oder auch nur die Chance bietet, drohende Verluste auf andere zu verschieben. Wir spielen mit dem Feuer, wollen selbstverständlich niemals den großen Brand. Doch dieser droht ernstlich. ..... Verfassungsnot fordert Deutlichkeit: Eine Instabilität des Rechts wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen. Niemand wird leichtfertig über Wirtschaft, Markt und Finanzen sprechen, schon gar nicht leichtsinnig wirtschaftspolitische Entscheidungen treffen. Aber wenn die Autorität des Rechts nur durch einen vorübergehenden Verzicht auf Wachstum, durch eine zeitweilige Prosperitätseinbuße zurückgewonnen werden könnte, müssten wir diesen Weg gehen. Der umgekehrte Weg, Finanzstabilität durch immer weniger Rechtsstabilität zu erreichen, ist nicht gangbar. ..... Das Verschuldensproblem wird im Euro-Raum weiter gesteigert und strukturell verändert, wenn die als finanzstark geltenden Schuldenstaaten zu Finanzhilfen an die finanzschwachen Staaten gedrängt werden, ohne die Verwendung dieses Geldes verlässlich rechtlich durch Bedingungen und Auflagen begleiten zu können. Die Verwendung von Steueraufkommen oder eine Zusatzverschuldung wird nicht mehr im eigenen Parlament vor den Steuerzahlern verantwortet, sondern den Entscheidungen anderer Staaten anheimgegeben. Eine solche Entscheidung dürfte das Parlament nicht treffen, wäre für die Regierung unzumutbar und würde den Steuerzahler empören. ..... Die Europäische Union steht und fällt mit ihrer Rechtlichkeit. Sie braucht ein festes Verfassungs- und Vertragsrecht, das die Institutionen - der Erstinterpret Parlament und Regierung, der Zweitinterpret Bundesverfassungsgericht - unbeirrt ins Werk setzen." Der Artikel hat noch eine weitere Dimension, die ich hier ausgeklammert habe, nämlich die Kritik am Bailout der Kapitalbesitzer durch die Steuerzahler. Jedenfalls fordert Kirchhof nach meinem Textverständnis das Bundesverfassungsgericht ganz massiv dazu auf, die Bundestagsbeschlüsse über den ESM-Vertrag und den Fiskalpakt aufzuheben.
Bravo, bzw. danke!
Nachtrag 23.07.2012
Immer mehr komme ich jetzt zu der Überzeugung, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der Eilanträge bzw. der Klagen gegen den ESM lediglich eine Schau abziehen will. Die Financial Times Deutschland berichtete jetzt in einem ganz anderen Zusammenhang ("IWF droht Griechenland mit Zahlungsstopp") beiläufig:
"Auch die ebenfalls am 12. September stattfindende Parlamentswahl in den Niederlanden muss abgewartet werden, da die derzeitige Regierung nur geschäftsführend tätig ist und keine Grundsatzentscheidungen in der Euro-Schuldenkrise treffen kann."
Dem entsprechend vermute ich, dass das BVerfG seine Entscheidung nach Absprache (bösartiger könnte man auch sagen: in kollusivem Zusammenwirken) mit der Bundesregierung auf den 12.09.2012 gelegt hat, weil bis dahin der ESM schon wegen der Lage in den Niederlanden nicht in Kraft treten kann.
Und dann werden die Karlsruher Richter, nachdem sie dem Volke eine intensive Prüfung vorgegaukelt haben, unsere totale Ausplünderung wohl abnicken.
ceterum censeo
Lagerinsassen der Euro-Zone: Befreit euch aus dem EZ des Kapitalsozialismus! Verjagt die Berliner Politwärter des Euronen-EntZiehungslagers (und ihre medialen Schläferhunde)!
Textstand vom 10.09.2022
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen