Sonntag, 2. September 2007

DIE HELDEN VON LIMBURG oder EINSAM IN DER MASSE


Limburg ist für seinen Käse bekannt. Der stinkt. Und ebenso verhält es sich mit dem Mut mancher Männer in Limburg. Und das, obwohl die Gegend des Käse-Limburg in Belgien liegt, das Limburg mit mutlosen Männern dagegen in Deutschland.

Alle Jahre wieder fahren (bzw. jetzt: fuhren) wir nach Limburg an der Lahn, zum alljährlich am 1. Sonntag im September veranstalteten Groß-Flohmarkt, der sich vom Bahnhof durch die Straßen der Kernstadt in die Gassen und Gässchen der Altstadt hinzieht.
Damals, als mein allzu früh verstorbener Internet-Freund Sigmund Krauss noch die schöne und informative Webseite "Flohmarktfreunde" betrieb, charaktersisierte ich den Limburger Flohmarkt mit "Volksfeststimmung". Aber, wie es auch bei Volksfesten gelegentlich etwas rauer zugeht, hatten wir schon früher im Vergleich mit zahlreichen anderen Flohmärkten den Eindruck gewonnen, dass in Limburg etwas sagen wir mal: burschikoser geschubst und gedrängelt, sowie gelegentlich auch gestritten wird, als andern Orts.

Dieses Mal entwickelten sich die Dinge allerdings etwas heftiger: In der Werner-Senger-Straße, etwa auf der Höhe der dortigen "Nordsee"-Filiale, hätte es beinahe Senge gegeben.

Ein Mann, ca. 40, von kleiner Statur, hielt dort gewaltsam eine kleine ältere Dame, mit hellblauen Jeans und hellblauem Sweatshirt bekleidet, fest. Diese versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien und drängte im übrigen durch das Gedränge in der Straße vorwärts.
Mangelnde Höflichkeit kann man den Limburger Flohmarktbesuchern an dieser speziellen Stelle nicht vorwerfen: sie gingen dem seltsamen Paar aus dem Weg. Gleichzeitig aber gingen sie auch ihrer Wege: niemand kam der Frau zu Hilfe bzw. griff ein, um die Sache zu klären.

Bis ich die beiden sah. Ich bin ein älterer Herr, durchschnittlich groß und, wenn auch nicht mager, dann doch nicht gerade mit Muskeln bepackt. Der "Angreifer" war aber kleiner und es gelang mir ohne allzu große Mühe, ihn von der Frau zu trennen. Schwieriger war es, von ihm zu erfahren, warum er sie eigentlich festzuhalten versuchte. Ausgesprochen aggressiv war er nicht; es klang beinahe etwas kindlich oder weinerlich als er sagte "Die Frau soll das Foto löschen". Die Frau war ziemlich verstört, aber nach einigem Hin und Her nahm ich die Kamera an mich, während sich drei Damen als barmherzige Samariterinnen der durch den Angriff psychisch ziemlich mitgenommenen Frau annahmen (Danke!).

Ich glaubte natürlich, dass die Frau ein Foto von dem Manne aufgenommen hätte. Im 19. und noch im frühen 20. Jahrhundert hatten sich Missionare, Abenteurer und Anthropologen gewundert, dass manche unzivilisierten Wilden erschraken, wenn sie Porträtphotos von sich sahen, bzw. keine Fotoaufnahmen dulden wollten. Völlig hirnrissig erschien deren Begründung: dass ihnen damit ihre Seele gestohlen würde.
Wir Heutigen sind, in Deutschland und anderen westlichen Kulturen jedenfalls, natürlich viel zivilisierter und haben die irrationale Angst vor Seelendiebstahl durch das Recht am eigenen Bild rationalisiert.
Aber egal, wie man dazu steht: es ist zu respektieren.

Erstaunt war ich freilich, als ich die (beiden) Bilder sah: es ging gar nicht um Aufnahmen der Person des Verfolgers. Seine Erregung war allein dadurch entstanden, dass die kleine ältere Frau etwas von seinem Eigentum geknipst hatte, das er auf dem Bürgersteig vor seinem Flohmarktstand zum Verkauf ausgelegt hatte.
Nun kann man sicherlich auch mit dem Fotoapparat Eigentum stehlen. Betriebs- und Staatsgeheimnisse sowie geistiges Eigentum waren schon früher nicht vor der Minox sicher, und heute ist in manchen Betrieben das Mitführen von Handys verboten, weil die Konkurrenz damit geheime Objekte und Dokumente fotografieren könnte.

Eine solche Absicht verfolgte die Fotografin allerdings nicht; das wäre auch ein völlig untauglicher Versuch am gänzlich untauglichen Objekt gewesen:

Irgendwie hat er aber vielleicht gefürchtet haben, dass man ihn in die Pfanne hauen wollte (was bei einem rostigen Objekt wie diesem zweifellos ziemlich unangenehm wäre).


Die andere Fotografie war auch nicht gefährlicher.

So lässt sich die Szene, wenn man ihr eine weiter gehende Bedeutung zuweisen will, nur als Ausfluss eines (hier zwar individuellen, letztlich aber auf dem geistigen Mist unserer Gesellschaft gewachsenen) hypertrophierten Besitzanspruches deuten: "Mein Besitz, meine Seele".


Ich weigerte mich, die Bilder zu löschen, und der Flohmarkt-Verkäufer gab sich schließlich damit zufrieden, meine Anschrift von meinem Personalausweis zu notieren.
Die drei barmherzigen Samariterinnen hatten die weinende ältere Dame inzwischen auf einen Stuhl gesetzt und sprachen ihr beruhigend zu. Nach einiger Zeit hatte sie sich hinreichend gefasst, um schnurstracks zurück zum Bahnhof gehen zu können.
Für diesmal war ihr der Flohmarkt,
und Limburg für immer verleidet.


Erwähnen sollte ich vielleicht noch, dass die angegriffene ältere Dame meine Ehefrau ist (da wir unterschiedliche Interessen haben, und entsprechend an einzelnen Ständen unterschiedlich lange verweilen, sind wir auf Flohmärkten nicht immer nahe zusammen).
Und empfehlen will ich allen bei dem Geschehen anwesenden Männern, die so bereitwillig eine Gasse für das seltsame Spießrutenlaufen gebildet haben, in den Spiegel zu schauen: so sehen Helden aus, Limburg style jedenfalls.


Textstand vom 16.06.2023

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