Wie Moses mit dem Herrn oder Martin Luther mit dem Teufel habe ich gerungen – um einen Einstieg in das Thema Kassel zu finden.
Versuchen wir es halt mit einem Multiple-Choice-Test. Bitte kreuzen Sie den zutreffenden der beiden nachfolgenden Sätze an:
1) „Kassel ist eine Kunststadt.“
2) „Es ist eine Kunst, in Kassel zu leben.“
Ob Sie richtig gewählt haben, können Sie aus den nachfolgenden schriftlichen und fotografischen Informationen erkennen.
Manches lässt sich vorbringen für die Annahme, dass Kassel eine Kunststadt ist. Zunächst einmal natürlich die documenta (in diesem Jahr die "d12"), jene Weltausstellung moderner Kunst, die alle 5 Jahre in Kassel stattfindet und dann
eine Menge Menschen (darunter dieses Mal zur documenta12 auch wieder einmal uns) veranlasst, den Ruf „ab nach Kassel“ auszustoßen.
Freilich gibt es auch Stimmen, die vor dem Besuch der documenta warnen.
Um als Kunststadt durchzugehen, braucht es jedenfalls mehr als nur Museen und Ausstellungen: Künstler müssen dort leben, große Kunst muss hier entstehen. Tatsächlich bietet, wenn man nur genau hinsieht, die Stadt Anregungen für Maler und Bildhauer der unterschiedlichsten Stilrichtungen.
Edward Hopper z. B. hätte hier einen „field day“ gehabt.
Auch Hans Bellmer hätte sich zumindest auf dem Kunsthandwerkermarkt in der Straße "Schöne Aussicht", zwischen Friedrichsplatz und Neuer Galerie am Hang über den Fulda-Auen gelegen, bestimmt gleich heimisch gefühlt.
Hinter dem Fridericianum kommen auch Konstruktivisten auf ihre Kosten.
Fritz Behn hätte sich den Tierskulpturen widmen können (und diese Tierplastiken, welche den Besucher gleich vor dem Kasseler Bahnhof erwarten oder überfallen, zweifellos graziöser gestaltet).
Aber bei den Tierplastiken geht es um Höheres als Kunst; es geht um die unantastbare Schweine-Würde, aber auch um Schweine-Wünsche. Außerdem wird die Art (bunt oder schwarz) der Welt-Anschauung von Kühen in Abhängigkeit von ihrer Lebensdauer untersucht. [Sie lachen? Das Lachen wird Ihnen schon noch vergehen - wenn die Veganer erst mal an der Macht sind!]
Ein Veganer ist es offenbar welcher versucht, der Öffentlichkeit mit den Skulpturen vor dem Hauptbahnhof und mit Plakaten auf dem Weg durch die Kurfürsten- und Treppenstraße zum Dokumenta-Ausstellungsgelände die Meme seiner Tierliebe zu implantieren. Und ich verbreite das hier noch, wenn auch in kritischer Absicht: ob das weise ist? Das ist wohl das Schicksal unseres sensationsgierigen Medienzeitalters, in welchem die Meme einen evolutionären Sprung von der Imitation [jetzt schleppe ich auch noch die Memetik-Meme durch die Gegend!] zu "novarum rerum avidus"? gemacht haben. [Andererseits: Auch über die alten Heiden und Ketzer wissen wir das Meiste, wenn nicht gar alles, durch die Berichte ihrer Gegner und Verfolger.]
Also, ehrlich gesagt: zum Jahr 1943 fallen mir ganz andere Sachen ein als einige tierische Kollateralschäden bei dem Abwurf eines Bombenteppiches: Stalingrad z. B., oder Auschwitz. Und zu Bombenangriffen andere Dinge als die Zerstörung eines Heimes für verwaiste Tiere: Coventry, Kassel (was dort bei dem großen Bombenangriff vom 22.10.1943 außer einigen Tieren sonst noch so kaputt gegangen ist), und viele, viele andere.
Sollte das Epitaph außer für die umgekommenen Tiere auch für Menschen als Bombenopfer gedacht sein, kann ich dem „sie hatten nichts getan“ nur zustimmen: Sie hatten wirklich nichts getan - gegen Hitler.
Gut zu wissen ist es aber allemal, dass wir Deutschen als wahres Kulturvolk uns mitten im Trubel des Jahres 1943 noch liebevoll um herrenlose Viecher gekümmert haben.
Doch zurück zur Kunst. Wenn man der Stadt den Rücken zuwendet, bieten sich dem Auge schöne Blicke.
Ich bin mir freilich nicht sicher, ob „Kassel blank book“ als Skizzenbuch für Künstler gedacht ist oder aber als Reiseführer durch das unbeschriebene Blatt Kassel Stadt. Letzteres könnte man als Indiz für einen gesunden Realismus der Kassler, Kasseler oder Kasselaner ansehen.
Ein solcher Realismus wäre dann allerdings nicht universal verbreitet, denn hier hat jemand Kassel tapfer als Kulturstadt apostrophiert.
Ergreifend war der Anblick eines jungen Mädchens in der Blüte ihrer Jugend, das ich im Dämmerlicht des Ausstellungsraumes in Friedericianum leider nicht fotografieren konnte. Mit dem heroischen Gestus einer der Sinnlosigkeit unserer Existenz trotzenden Existenzialistin verkündete sie mit großen Buchstaben auf ihrer Handtasche: „Ich bin freiwillig in Kassel“. (Vielleicht war sie aber gar keine Philosophin, sondern einfach Realistin? Oder Masochistin?)
Auch wir waren zwar freiwillig dort, denn schließlich wird niemand (Kinder und Kunststudenten vielleicht ausgenommen) zum Besuch der documenta gezwungen. Doch kamen wir nur tagsüber, am Freitag, 07.09.07 und Samstag, 08.09.07, von Bad Sooden-Allendorf herüber.
Trotz allem ist Kassel eine weltläufige Stadt;
nur hier und da (hier z. B. am Notausgang der Documentahalle) sind die Sprachkenntnisse partially de-ceased. (Dieses Verb erinnert mich daran, dass auch das Museum für Sepulkralkultur (oder Sepulkralmuseum), dessen ich bereits an anderer Stelle würdig gedacht hatte, von seinen Gründern wohl nicht ohne Hintersinn in Kassel positioniert wurde).
[Sie wundern sich, dass ich beim Besuch einer Kunstausstellung die Notausgänge inspiziere? Na also: ich will schließlich auch meinen Spaß haben, während meine Frau die Kunstwerke betrachtet! Im übrigen stehe ich der sozialen Rolle der Kunst und Künstler in unserer heutigen Gesellschaftsordnung einigermaßen reserviert gegen über - vgl. Eintrag "Künstler rächen Kaiser an der Kirche :-)".]
Wo die Stadt zu Ende ist, ist sie aber wirklich wunderschön.
Beinahe märchenhaft schön.
Und sogar günstig und nicht schlecht essen kann man in Kassel. Das ist doch immerhin etwas.
Textstand vom 21.09.2007. Auf meiner Webseite http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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Oh, Ihrem Beitrag kann ich uneingeschränkt zustimmen. Erstaunlich, daß es doch noch Menschen gibt, die Kassel mit ähnlichen Augen sehen wie ich.
AntwortenLöschenIch bin Kassel-Bewohner weder aus Überzeugung, noch aus Liebe zu dieser Stadt. Und tatsächlich ist Kassel (wie fast jede heutige Großstadt) überall dort schön, wo Kassel aufhört.
Der Tag auf der diesjährigen Documenta wäre, wenn ich nicht so eine reizende Begleitung gehabt hätte, ein verlorener Tag gewesen. Überall ist es schöner, intelligenter, geistreicher, als auf einer solchen - - - "Kunst"-Ausstellung.
Aber das sind ja alles ganz subjektive Meinungen!!!! ;-)