Samstag, 11. Juni 2005

Der Olim-Diskurs ...


... bringt mich immer wieder auf die Palme. "Früher war alles besser", "Zu DM-Zeiten war alles billiger" oder "Man kann sagen, was man will, aber das hätte es früher (oder gar: 'beim Adolf') nicht gegeben!" sind volkstümlichere Varianten, doch versumpft diese Vorstellung eines früheren (mehr oder weniger) goldenen Zeitalters sehr weitgehend auch den gesellschaftlichen Diskurs.

[Michael Crichton hat durchaus nicht Unrecht, wenn er derartige Ideen kritisiert; nur dass er der Umweltbewegung insgesamt eine derartige nostalgische Sicht der Dinge unterstellt und sie auf dieser Grundlage lächerlich machen zu können glaubt - vgl. dazu meine Eintragung vom Dienstag, April 26, 2005: "The (b)rat in the box at the ultimate lever?" - ist nichts als konservative Propaganda.]

Konkret wurde ich jetzt wieder in Fritjof Capras Buch "Wendezeit" (amerikanischer Originaltitel: "Turning Point") (das ich durch Zufall und gratis fand und erst etwa zur Hälfte gelesen habe) daran erinnert, wie in Weltverbesserungswerken der verschiedensten Autoren dem Leser dieser "Olim-Diskurs" immer wieder unterschwellig untergejubelt wird. Präzise Daten gibt es da nicht; oft wird auch gar nicht ausdrücklich behauptet, dass früher alles besser war. Vielmehr wird diese Vorstellung über das Wörtchen (nicht) "mehr" eingeschmuggelt.

So schreibt z. B. Capra: "Bezeichnend für unsere Zeit ist, dass Personen, die als Fachleuten in den verschiedenen Sachgebieten gelten, die dort auftretenden Schwierigkeiten nicht mehr beseitigen können". (S. 19; Hervorhebung von mir). Wenn man sich dann seine Beispiele ansieht, stellt man fest, dass diese Probleme früher ebenso wenig oder noch viel weniger lösbar waren: Krebs oder psychische Krankheiten haben die Ärzte früher keineswegs besser verstanden als heute; Inflation wird heute sehr viel effizienter bekämpft als früher (und das trotz der Vermachtung des Marktes und die angebliche Unkontrollierbarkeit der international tätigen Unternehmen, die Capra in späteren Kapiteln beklagt!). Die Polizei ist mitnichten "hilflos", sondern kann zwar heute wie früher nicht alle Verbrechen aufklären, aber zumindest Kapitalverbrechen durch den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt besser als früher.
Da wundert es dann auch nicht, wenn Capra im Mittelalter einen angeblichen "organischen Zusammenhang" von Werten und Verhaltensweisen diagnostiziert (S. 210), oder behauptet, dass "in allen frühen Gesellschaften … Privateigentum .. nur in dem Maße gerechtfertigt [war], in dem es der Wohlfahrt aller diente" (S. 211). Dass sich "der moderne Industriearbeiter .. für seine Arbeit nicht mehr verantwortlich" fühlt und "unzufrieden" sowie "nicht mehr stolz darauf" ist (S. 253) kann im Umkehrschluss ja nur heißen, dass früher die Arbeitnehmer – Knechte und Mägde auf dem Bauernhof etwa? – sämtlich stolz auf ihre und zufrieden mit ihrer Arbeit waren und Produkte mit Geschmack oder gar künstlerischer Qualität erzeugten (S. 253/254).

Ich weiß nicht, ob es bereits einen Begriff für diese romantisierenden Vergangenheitsvorstellungen, und speziell für die unterschwellig durch die "nicht mehr-"Sätze ausgedrückten bzw. erzeugten Varianten, gibt. Und deshalb verwende ich versuchsweise mal den Begriff "Olim-Diskurs". Erklärt ist der Begriff "olim" z. B. in einem Blog, der sogar unter der Bezeichnung "Olim" läuft (http://olimm.free.fr/olim.html). Dieser Blog, der allerdings seit April 2003 nicht mehr aktualisiert wurde, ist übrigens auch in anderer Hinsicht interessant. Er nennt Gründe dafür, einen "Blog" zu führen, die weitgehend auch für mich gelten (http://olimm.free.fr/why.html). Und schließlich wurde er von einer Französin auf Englisch erstellt, was zweifellos ganz und gar ungewöhnlich ist.


Textstand vom 20.09.2021

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