Sonntag, 31. Oktober 2010

Backfisch, Fuckbitch - oder Lonely Kraut?

Der Urlaub ist für mich häufig auch eine Zeit des intellektuellen Lotterlebens. Ich lese dann Bücher, die ich sonst - mangels hinreichendem spezifischen Interesse, wegen geringer Erwartungen an die Intensität oder aus anderen Gründen - nicht lese, oder die ich sonst gar nicht zu Gesicht bekommen hätte.
Lesend konsumiert wird dann nicht selten einfach das, was mir die Vorsehung günstig vor's Portemonnaie positioniert. Oder was vom Markt zu nehmen mir ein moralisches Anliegen ist.
Wären Sie etwa herzlos genug gewesen, beim Bücherflohmarkt der katholischen Pfarrbücherei der St. Nikolaus-Kirche in Bad Reichenhall das Büchlein "Fanny Hill. Memoiren [auch: Geschichte] eines Freudenmädchens" von John Cleland im Regalständer stehen zu lassen? Verharrend dort wie ein Raubtier in der Bereitschaft, arglose gläubige Seelen zu ruinieren?
Nein, da bin ich mir ganz sicher, Sie hätten genau so verantwortungsbewusst gehandelt wie ich: Beherzt in die Börse gelangt, 50 ct. rausgeholt und diese Schmutz- und Schundliteratur rasch entschlossen konfisziert!

Und wäre es gerecht, oder fair, ein solches - immerhin recht berühmtes - Werk dem Mülleimer zu überantworten, ohne sich zu überzeugen, ob denn der Inhalt wirklich so schlimm sei? Und zugleich sich der Gelegenheit zu berauben, kulturhistorisches und soziologisches Wissen über das Leben in London in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu extrahieren?


Auch das hätten Sie nicht über sich gebracht, und ebenso wenig ich. Also ward es denn gelesen, im Herbsturlaub in Bad Reichenhall anno 2008, jenem denkwürdigen Jahr, in welchem die Börsen krachten - und wo man doch schon erwarten konnte, dass [noch für eine gewisse Zeit?] der Kasino-Kapitalismus fröhlich fortgesetzt werden würde.
Sex and Dime, gewissermaßen.

Dass ich hier mit einem Erotik-Buch beginne, will wenig bedeuten. Im Osterurlaub des gleichen Jahres im gleichen Urlaubsort war es "Die Unsterblichkeit" von Milan Kundera gewesen, welche mich zwar noch weniger faszinieren konnte als der oder die (je nachdem, ob amerikanisch oder britisch gedacht; allerdings spielt "der" fanny nach meiner Erinnerung keine große Rolle im Buch: gewisse Tabuzonen gab es damals halt doch noch) fanny der Fanny Hill, aber immerhin zu einem Blog-Katalysator ausreichte.

In Oberstdorf, vor der majestätischen Kulisse einiger der höchsten Gipfel der Allgäuer Alpen, konnte ich in einem (hier nur beiläufig bebloggten) Herbsturlaub (der mich im Übrigen auch nach Kempten-Shanghai sowie zum Kempten-Keynes führte) der Versuchung nicht widerstehen, im Geiste nach Island zu verreisen, jenem Saga-Land, das man wahrscheinlich um so mehr liebt, je weniger man es - jedenfalls in seiner Existenz als "Wall Street on the Tundra" (Michael Lewis) - kennt.
Das Verführer räkelte sich jungfräulich unberührt auf einer Fensterbank im Treppenhaus, darauf wartend, dass irgend ein Urlaubsgast sein jus primae (äh: was heißt bitte "Lektüre" auf lateinisch?) an ihm ausübe: ein anscheinend nagelneues Exemplar des Kriminalromans "Brandstifter" von Jon Hallur Stefansson. Den Inhalt habe ich zwar (wie übrigens das Meiste aus den Büchern, die ich lese) weitestgehend vergessen; immerhin war es spannend genug gewesen, um seinerzeit bei einem Flohmarkt in der Kemptener Viehhalle einen Folgekauf (und dann auch eine Folgelektüre) auszulösen: "Nordermoor" von Arnaldur Idridason.

Die Lektüre einer Wagner-Biographie in einem Urlaub in Garmisch-Partenkirchen katapultierte mich bloggend sogar in eine Zeit-Reise in meine Kindheit zurück.

Anspruchsvoller, zumindest aber anstrengender, war da schon ein 50 Cent-Fund aus der Wühlkiste der Immenstädter Stadtbücherei (in einem Urlaub, von welchem sich lediglich eine Kritik des Thermalbades in Oberstdorf in einem meiner Blotts niedergeschlagen hat): Die "Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität" des Österreichers Franz Xaver Eder (hier auf der Verlagswebseite eine Besprechung). Tapfer habe ich mich aber auch durch dieses Werk (das ich als einen Bericht über den aktuellen Stand der internationalen Sexualitätserforschung für Laien charakterisieren würde) durchgebissen, wofür freilich die Urlaubszeit nicht ausgereicht hat.


LIEBE IM ZEITALTER DES FINALKAPITALISMUS

Flach wie (nach ihrem eigenen Bekunden) die Brüste der Autorin (die sie bei sich selbst immerhin mit diesem Begriff belegt, während sie ansonsten die Möpse weitestgehend nur als "Titten" kennt, und nicht einmal die Lektüre von "Josefine Mutzenbacher - Die Lebensgeschichte einer Wiener Dirne, erzählt von ihr selbst" ihr Begriffsreservoir um ein paar hübsche Dutteln aufgefüllt hat), ist auch die intellektuelle Penetrationstiefe von Ariadne von Schirachs [hier ein Portraitfoto von hier] häufig (und - nicht nur von 'Laien'-Lesern - fast durchweg recht kritisch) rezensierten Buches "Der Tanz um die Lust".

Gleichwohl durchschimmert akademische Bildung ihr Buch, denn immerhin kennt sie nicht nur einen, sondern sogar zwei Ausdrücke für's Kopulieren: "Ficken" ist ihr Favorit, aber auch "vögeln" ist des Öfteren angesagt. Bibelkundig ist sie wohl auch, denn von dorten entnimmt und paraphrasiert sie das (in der Tat als Bezeichnung für den Beischlaf ebenso interessante wie für uns Heutige ungewohnte) Verb "erkennen": "Und er erkannte sie nicht, bis sie ihren ersten Sohn gebar; und hieß seinen Namen Jesus", beschreibt die Bibel, bzw. der Evangelist Lukas, die angebliche Parthenogenese Jesu durch die "Jungfrau" Maria.

Davon, dass diese Begriffstrinität durchaus noch Raum für Erweiterungen lässt, hätte sich Ariadne von Schirach leicht überzeugen können, wenn sie das Lexikon "Sex im Volksmund. Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes" des (hier - mit Berlin-Bezug - kurz vor seinem Tode gewürdigten) Sexualforschers Ernest (Wikipedia: Ernst) Bornemann konsultiert hätte. 600 Vokabeln von "abern" bis "zwitschern": hey, Babe, wäre das nicht cool, wenn du auf diesem Gebiet wenigstens verbal mal ein wenig variieren könntest? Und "cool" oder "lässig" (parbleu: da halten sich doch hier und da noch hartnäckig einige altdeutsche Sprachreste; obwohl das "lässig sein" schon einen Bart hat, denn dieses war schon in den frühen 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das hohe Ziel meiner bourgeoisen Klassenkameraden auf der höheren Schule des Hohen Rates der Stadt Bielefeld gewesen) willst du doch sein, Mädchen?

Wahrscheinlich würde sie die weitestgehende Verwendung eines dürftigen pornographischen Vokabulars für sexuelle Aktivitäten irgendwie literarisch rechtfertigen: als ironisch, oder (im Sinne der 68er) als denunziatorisch, oder als wie auch immer dekonstruktivistisch. Eine befreiende Funktion vermag ich in ihrer sprachlichen Verarmung allerdings nicht zu erkennen. Jedenfalls keine Befreiung der Leser aus ihren eventuellen pornographischen Verstrickungen. Tatsächlich glaube ich, dass sich die Autorin einfach irgendwie selbst besser fühlt, wenn sie dieses - immer noch - Tabu-Verb - "ficken" in die Welt schleudert. Vielleicht hat es ihr in ihrer Jugend als magische Beschwörungsformel geholfen, sich sexuell zu befreien; vielleicht verhält sie sich aber auch nur sprachkonform mit dem Rest ihrer Clique: Was würden die von ihr denken, wenn sie ihre Figuren plötzlich beischlafen, bumsen oder kohabitieren ließe?
Anglophone können sich übrigens auf der Webseite www.reuniting.info der Autoren des Buches "Cupid's Poisoned Arrow" - dt. u. d. T. "Das Gift an Amors Pfeil: Von der Gewohnheit zum Gleichgewicht in sexuellen Beziehungen" - von ihrer Position als Sukkubi der visuellen und/oder literarischen Pornographie befreien lassen. Auf dieser Seite kann man unter "Over-Sexed Society. From Pornography to Withdrawal" auch jenen Spiegel-Essay "ZEITGEIST. Der Tanz um die Lust" von Ariadne von Schirach vom 17.05.2005 auf Englisch lesen, der sowohl intellektuell als auch ökonomisch (indem er nämlich entsprechende Verlagsangebote auslöste) zur Keimzelle ihres Buches wurde.

Mir selbst begegnete das Werk (in der Taschenbuchausgabe der 1. Auflage vom August 2008; die Ersterscheinung als Hardcover erfolgte in 2007) als Remittendenexemplar in der Hanauer Bahnhofsbuchhandlung, als wir auf unserem Weg in unseren diesjährigen Herbst"urlaub" in Schwangau (ein untypischer Urlaub - deshalb die Anführungszeichen -, weil wir ihn in unserer zukünftigen Ruhestandswohnung verbrachten, statt wie ursprünglich geplant in Pfronten-Ried) im Bahnhof Hanau einen längeren Aufenthalt hatten. 2,95 € kostete es noch, und tatsächlich waren sämtliche Exemplare beschädigt: mit (nur leichten) Kratzern auf dem Rücken. Ich frage mich freilich, ob die Beschädigung - die dann schon bei der Produktion erfolgt sein müsste - die Ursache der Preissenkung war, oder ob nicht (was ich für wahrscheinlicher halte) der Verlag eine spezielle Bücherbeschädigungsmaschine beschäftigt, um den Begriff "preisreduziertes Mängelexemplar" und eben die Preisreduzierung zu rechtfertigen.

Denn wenn auch das Buch als "Spiegel-Bestseller" beworben wird halte ich es für wahrscheinlich, dass die Nachfrage sehr schnell abgeebbt ist nachdem sich die zahlreichen und z. T. scharfen Kritiken ihren Weg ins Bewusstsein der (potentiellen) Lesergemeinde gebahnt hatten.

Diese kannte ich damals natürlich noch nicht, und so war außer dem "Spiegel-Bestseller" für meine Kaufentscheidung auch ein Zitat aus einer Rezension der FAZ am Sonntag (am 27.02.2007 unter dem Titel "Sex als Gebet" erschienen) entscheidend, wo von einem "essayistischen Feuerwerk" die Rede war. Diese Begriffskombination erscheint dort tatsächlich; im folgenden Kon-Text:
"Das liest sich, als sei man in eine deutsche Version von „Sex and the City“ geraten und kann ähnlich vergnüglich sein. Mitunter nervt es auch. Relevanz gewinnt diese Jagd nach Erfüllung, weil sie eingebettet ist in grundsätzliche Beobachtungen über das grassierende Unvermögen, Beziehungen einzugehen. Die Fiktion dient nur dazu, ein essayistisches Feuerwerk zu erden."
Ich frage mich, ob der oder die Rezensent(in) bei der Formulierung "essayistisches Feuerwerk" sich gerade im Schritt stimuliert hat und nicht mehr so recht unterscheiden konnte zwischen dem eigenen Geisteszustand und dem geistigen Gehalt von Frau von Schirachs Buch. Denn ansonsten ist dieser Artikel, der eine Kombination aus Buchbesprechung und Interview darstellt, keineswegs unkritisch (in der Summe ist der dennoch allzu wohlwollend und unter jenem Niveau, dass die Leser von der FAZ erwarten) (Hervorhebungen von mir):
"... natürlich - spielt ihr Buch in Berlin-Mitte, denn wo sonst können sich aufgebrezelte, szenebewusste Berufsjugendliche so hartnäckig die Nächte um die Ohren schlagen, ohne je mit der Realität in Konflikt zu geraten. Nie kämpft „König Gunter“ mit Müdigkeit. Nie muss „SusiPop“ einen Zwölfstundentag durchstehen oder die Ich-Erzählerin aus Geldnot auf ihren fünften Wodka verzichten. Das ganze Sinnen und Sein der Protagonisten, die aus dem privaten Umfeld der Autorin destilliert sind, gilt der ewigen Balz. ... Von Schirach hält eine altmodische Form der Erlösung parat. ... Wer die spätadoleszente Welt der Ariadne von S. hinter sich gelassen hat, mag Diagnose und Rezept belächeln ... . Sie ergötzt sich an Begriffen. ... Sie greift einen Strauß an Debatten auf: vom Wir-wollen-nicht-erwachsen-werden übers Online-Dating hin zur Technisierung des Alltags und Geschlechterfragen. Ihr Artikel von einst ist überzeugender, weil er stringenter ist. Ariadne von Schirach lächelt unbeeindruckt. ... Ihr Buch sei eben „total barock“, sagt sie fröhlich."
Die Leserkommentatoren in der FAZ jedenfalls fallen nicht auf das Buch herein.

Gleich zwei Besprechungen beschert die TAZ ihren Lesern, beide gut, die zweite, von Ines Kappes ("Trink- und Sprechgewohnheiten aus der Provinz" vom 13.03.2007), mehr zuspitzend durch das Resümee am Schluss (meine Hervorhebungen):
"Sie will sich lossprechen von dem in ihrer Szene so tief verwurzelten Glauben an Glamour. Dabei tappt sie in die Falle ihres Referenzsystems. Pornografie lebt vom Versprechen, dass es etwas unter der Oberfläche, unter den Kleidern gibt - und dass dies superspannend ist. Da dem leider nicht so ist, muss sie unentwegt neue Oberflächen herstellen. Auch die Welt der Schirachs erschöpft sich in der hippen Oberflächlichkeit und reproduziert sich durch die Distinktion von Trink- und Sprechgewohnheiten in der Provinz. Aber, ach, das allein trägt nicht. Weshalb am Ende erwartbar das Hoch auf die "Widerständigkeit des Herzens" steht; also die hilflose Flucht in den Kitsch."

Tiefer und schärfer schaut aber ERIK HEIER unter "Die Frau von der Triebabfuhr" (27.02.2007) hin (meine Hervorhebungen):
" ... Aber zeitgeistig, das schon. Berlin, Berlin. So ist auch der Sound ihres Buches. Reihenweise übliche Verdächtige für den Hauptstadt-Hype. Die Clubs, die Bars. ... Und dann die Leute. Da gibt es keine Beamten, keine Maurer, keine Busfahrer. Stattdessen Videokünstler, DJs, Models. Ein Journalist ist auch dabei, immerhin. Jedenfalls meist Freiberufler. Wir sind ja so frei. Frei von festen Einkommen, frei von wirklichen existenziellen Nöten. ... Bei der Sekundärliteratur, die die Vielleserin vor allem in der ersten Buchhälfte meist kurz zitiert, wird man das Gefühl nicht los, sie wollte vor allem zeigen: Hab das Zeug gelesen, ehrlich. Jörg Metelmanns Reader "Porno Pop", Ulf Poschardts "Cool", Martin Amis' "Pornoland", unvermeidlicherweise viel Michel Houellebecq. Walter Benjamin aber auch. [Und, nicht überraschend: Franz Xaver Eder, oder ähnliche Werke mit soziologischem Anspruch, fehlen.] Das musste alles in ihre hochtourige [aber leider nicht mit Super-Saft betankte!] Gedankenmaschine. Dazu reichlich Google. Dann dreimal gut durchgerührt. Was unten rauskommt, ist alles pornoinfiziert, mehr oder minder. ... Sex ist die Antwort auf alle unsere Fragen. Falls jemand fragt. Wenn also Porno aus der Schmuddelecke heraustritt, in unsere Lebenswirklichkeit eindringt, dann ist das die pornografische Strategie. Von wem auch immer. Neu ist ihre Sichtweise natürlich nicht. ... Porno ist ambivalent. Ihr Buch ist es auch. Gibt es denn wirklich keinen wahren Sex im falschen? Ist Liebe nur eine vage Möglichkeit? Oder, wie sie schreibt, nicht mehr als "das letzte große Versprechen"? Mit derlei Reflexionen im Rücken seziert Ariadne von Schirach das Nachtleben von Leuten kurz vor dem Lebensabschnitt, in dem es ernst werden müsste: mit dem Job, mit einer Beziehung, einer Familie. Aus ihrem Freundeskreis destilliert sie pointierte Dialoge, fast eine Soap in Buchform, "Sex in the Berlin-City". ... Das liest sich dann wie eine Reportage, ist aber eher eine Kolportage. Essayistische Notizen vom Tresengelaber auf schwankendem Niveau. ... Ist schon übel, diese Postadoleszenz. So wirre. ...
... gegen Ende, wenn aller wilder Thesenüberbau abgearbeitet ist, [ist das Buch] die melancholische Bilanz eines Abschieds. Des Abschied von einer Jugend, in der alles möglich schien und Spaß über allem stand. Eines Abschieds, den man immer weiter vor sich hin schiebt. Das könnte vor allem ein Berlinphänomen sein. Wegen der Fluchtwege vor dem Erwachsenwerden, die diese Stadt öffnet wie keine andere im Land.
"

Auf der Schweizer Webseite "Das Magazin" hat Finn Canonica das recht ausführliche Interview "Leben in der Porno-Welt" (07.04.2007) mit Ariadne von Schirach geführt und spricht darin mehrfach explizit an, was in anderen Buchbesprechungen nur implizit gesagt wird oder lediglich mitschwingt: den Klassencharakter ihres Themas, bzw. der Pornographie überhaupt. Eine Lektüre der einschlägigen Passagen ist insofern interessant, als sie Strategie enthüllt, mit denen die Autorin die objektiv doch zweifellos vorhandenen Klassendimension leugnet (Hervorhebungen von mir; F = Frage, A = Antwort):
"F: Pornografie ist an unserem Narzissmus schuld?
A: Das ist mir zu einfach. Aber in einer pornografisierten Welt wird einem ständig eingeredet, dass man einen geilen Körper haben muss und ohnehin immer geil und verdammt gut drauf zu sein hat.
F: Ist das nicht ein Unterschichtenproblem? ...
A: Ich mag diese Einteilungen in Unter- und Oberschicht nicht. Ich stelle nur fest, dass Werte wie Bildung, Geist und Humor zum Beispiel nicht mehr viel zählen, und zwar in allen Schichten. An deren Stelle ist der Körper getreten. Es geht nur noch um Sexyness, Sexyness! Alles läuft auf diese blöde Frage hinaus: Bin ich sexy genug? Weckt mein Körper bei anderen sexuelles Begehren?
F: Gibt es eigentlich Strategien, um sich dieser Allgegenwart von Porno zu entziehen?
A: Ich denke, man muss die Kraft, die Möglichkeiten oder die Bildung haben, um sich eine Gegenwelt aufzubauen. Wer das nicht schafft, der ist von Pornografie ernsthaft bedroht.
F: Also ist es doch ein Klassenproblem.
A: Ich will mich in dieser Frage nicht festlegen.
"

"Nicht festlegen" erscheint zunächst als nachvollziehbare Position; tatsächlich ist es aber nur ein Euphemismus dafür, dass sich die Autorin diese Frage gar nicht stellen will.
Wenn sie selbst die "Die 120 Tage von Sodom" des Marquis de Sade nicht als Pornographie einordnen will, sondern dafür (natürlich unter Berufung auf 'Autoritäten' aus der französischen Philosophie der letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts) die Kategorie des "Obszönen" reserviert, erinnert mich das doch stark an die Finesse mancher Jungmädchen-Akt-Bildbände (ich erinnere mich noch an einen Kalender oder Bildband "Junge Aphroditen": nach dem gleichnamigen Film von Nikos Koundourous?). Oder an die Knabenakte des Barons Otto von Gloeden aus der Belle Epoque.
Wenn Pädophile solche Fotos machen oder gar veröffentlichen würden, wären sie reif für die Gitterstäbe. Hier (und in anderen Fällen und auf anderen Ebenen, z. B. der Literatur) aber sind sie als "Kunst" strafrechtlich privilegiert. Natürlich haben sie eine andere ästhetische Qualität; aber speziell bei von Gloedens Fotografien würde ich mich unbedingt dem Urteil der Amerikanerin VICKI GOLDBERG in ihrem Artikel "Man-Made Arcadia Enshrining Male Beauty" anschließen:
"... today, von Gloeden's photographs do not seem subtle in the least. Nineteenth-century ideas about sexuality were sometimes primitive and hazy, but 19th-century powers of self-deception were highly developed. So was the ability to devise legant stratagems to legitimize sexual display."

Im Gegensatz zu den Fotografien dieser Art sind die 120 Tage von de Sade allerdings völlig eindeutig pornographisch. Zweifellos ist de Sade in seiner Zeit eine außerordentlich interessante Figur; das ändert aber nichts daran, dass sein Werk durch die Beschleunigung und Massierung von sexuellen Aktivitäten einen klar pornographischen Charakter hat. Unabhängig davon, ob (bzw. in welchem Grad) man es für wenig appetitlich hält, wird es sehr schnell langweilig.

Anders als bei de Sade würde ich der Autorin zustimmen, wenn sie "Die Gespräche des göttlichen Pietro Aretino" (auch: "Kurtisanengespräche"; italienischer Kurztitel: "Ragionamenti") nicht als Pornographie werten will (obwohl sie natürlich ein Einstieg in diese Literaturgattung sind).

Pornographie gab es freilich auch schon zu Zeiten des Pietro Aretino; mir spielte einst ein Kurzurlaub in Quedlinburg das Werk "LA CAZZARIA" von Antonio Vignale in die Hände. Ich hatte mir seinerzeit notiert: "Das Vorwort macht mehr aus dem Buch, als es wirklich wert ist - ein ziemliche grobes und primitives Machwerk! Kein Vergleich zum Zeitgenossen Pietro Aretino" und das Büchlein rasch entsorgt. Auch hier ist es die Massierung, speziell des Wortes "cazza" (Schwanz), die abstößt.

Generell vermisse ich bei Ariadne von Schirach die historische Dimension der Analyse. Herbert Marcuse schätze ich nicht sonderlich, doch drängt sich beim Lesen ihres geschichtslosen 'Lust-Tanzes' unweigerlich sein Begriff des "eindimensionalen Menschen" in meinen Sinn.

Historische Unwissenheit (oder alternativ: schlampige Begriffsverwendung) ist z. B. auch ihre Behauptung S. 46 "Die ersten Pornos entstanden wahrscheinlich zeitgleich mit den ersten Filmen". Zwar könnte eine wohlwollende Interpretation hier "Pornos" mit "Pornofilmen" gleichsetzen, doch geht es in den vorausgehenden Sätzen (und auch sonst teilweise in dem Buch, z. B. bei ihrer Analyse von Werbeplakaten und Lifestylemagazinen) ganz allgemein um Bilder: "Aber wie fing alles an? Wo kommen die Bilder her, denen man zu gleichen oder die man zu verdrängen versucht?"
Pornographische Bilder hat (als erster in der abendländischen Kultur?) schon Giulio Romano, ein Zeitgenosse von Pietro Aretino, produziert. (Ein anderer Künstler der Hochrenaissance, der Kupferstecher Marcantonio Raimondi, hat dessen pornographische Zeichnungen einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Sie wurden allerdings konfisziert und sind, bis auf einige Fragmente und schlechte Kopien, verloren gegangen (s. ausführlich hier).
Mehr pornographischer Natur als seine o. a. "Ragionamenti" sind anscheinend auch - zum Lesen fehlt mir die Zeit - Aretinos "SONETTI LUSSURIOSI".

Zur gleichen Zeit, bzw. sogar schon etwas früher, gab es in urbanen Kontexten auch bereits so etwas wie eine (kleine Anzahl von) Jeunesse dorée. Literarisches Zeugnis davon legen z. B. die berühmten Verse von Lorenz dei Medici ('Il Magnifico') ab:
Quant’è bella giovinezza / che si fugge tuttavia! / Chi vuol essere lieto, sia: / di doman non c'è certezza.
(„Wie schön ist die Jugend / Die so schnell entflieht / Wer ausgelassen sein will, der soll es / Was morgen kommt, ist ungewiss.“)

Das Zitat entnehme ich dem Wikipedia-Eintrag "Der Triumph des Bacchus", was insofern recht passend ist, als Ariadne von Schirach dem Kult des (Alkohol- und Drogen-)Rausches sehr weit gehend huldigt.
Das wiederum kann nicht überraschen, denn es gilt bekanntlich der Satz:
"Dummheit frisst, Intelligenz säuft".
Schon die studentischen Burschenschafter des 19. Jahrhunderts wussten um diesen Zusammenhang, und auch sie waren ja Mitglieder der Oberschicht (oder wollten und würden das nach erfolgreichem Studienabschluss werden).

Ich glaube zu wissen, wie man Frau von Schirach auf die Palme bringen könnte, denn ein zentraler Begriff ihres Wertesystems ist "cool" (bzw. "lässig").
Und Backfische wie Burschenschafter dürften sie und ihre Clique als ausgesprochen uncool ansehen. ("Postadoleszent", ja, mit diesem Begriff übt sie sogar Selbstkritik; das klingt ja auch bedeutungsschwanger, philosophisch, hochgeistig - und eben nicht backfischig.)

Ein weiterer zentraler Wertbegriff ist bei ihr die "Schönheit". So sehr sie auch sonst bemüht ist, ihre eigenen Einstellungen zu hinterfragen: Schön, hübsch oder wenigstens attraktiv müssen ihre Partner und diejenigen ihrer Cliquenmitglieder auf jeden Fall sein. Insoweit ist auch sie leider der pornokratischen Gehirnwäsche erlegen.
Auch ich schätze natürlich, wie vermutlich die meisten Menschen, die Schönheit. Immerhin versuche ich aber, daneben noch ein Bewertungssystem zu kultivieren, das nicht ausschließlich von der Augenlust beherrscht und nicht den herrschenden Schönheitsvorstellungen verpflichtet ist.
Dass Ariadne von Schirach ihr optisch dominiertes Beurteilungssystem nirgends hinterfragt, überrascht und enttäuscht mich einigermaßen.


Wieder zerrint mir die Zeit unter den Fingern. Vieles hatte ich mir noch zu ihrem Buch notiert, doch muss ich hier etwas abrupt und nur äußerlich motiviert abbrechen bzw. füge nur noch einige lose Notizen, insbesondere Verweise auf Rezensionen und Interviews, an.

Einen nicht-pornographischen Logenplatz reserviert Ariadne von Schirach auch der "Geschichte der O." (Dieses Buch wird hier von einer Buchhändlerin sehr systematisch besprochen). Tatsächlich ist das Werk wohl eine Klasse für sich, doch hätte man in einem Essay über Sexualität erwartet, dass sich die Autorin mit dem Entstehungshintergrund des Buches auseinandersetzt: es war nämlich gewissermaßen ein "Balzbuch" einer Frau um die Liebe eines Mannes.
(Dieser Hintergrund wird u. a. auch - meine 3. Gemeinheit gegen die Autorin, welche dieses Massenblatt ganz und gar nicht goutiert? - in einem Artikel in der Bild-Zeitung erläutert, und selbstverständlich auch hier und noch ausführlicher dort in der Wikipedia.)

Zum familiären Hintergrund der Ariadne von Schirach zitiere ich nur zustimmend ihren Satz:
Ich glaube nicht an Sippenhaft und stehe zu meinem Namen“. (Auch das Satiremagazin Titanic steht Frau von Schirach zwar kritisch gegenüber, lehnt es aber ab, sie für ihre Verwandtschaft mit Baldur von Schirach, Reichsjugendführer in der Nazizeit, gewissermaßen verantwortlich zu machen. Unter dem Titel "Mad Matussek" lesen wir dort u. a.:
"Daß Sie alter Sack [i. e. Matthias Matussek vom SPIEGEL] dem Aufschneiderschnittchen [!] A.v. Schirach erliegen, wundert uns wenig; aber wie Sie dafür Opa Baldur hervorzerren, das scheint uns doch auf bemerkenswert unintellektuelle Art obszön. "

Zustimmung auch zu der treffsicheren Kritik von Andrea Ritter im STERN:
"Die Ent-Körperlichung, die sie "unserem Alltag" attestiert, findet man schon im Dandytum des 18. Jahrhunderts und ihre Betrachtungen über Porno und Perversion führen sie direkt zum Marquis de Sade, bekanntlich auch kein Zeitgenosse. Das Ganze liest sich wie das Tagebuch einer Geisteswissenschaftstudentin, die beim Abarbeiten ihrer Seminar-Lektüre jede Menge Aha-Erlebnisse hatte. Und die neuen (Selbst-)Erkenntnisse werden nun mit Freunden diskutiert. "Bei mir gibt es eine Kopplung zwischen dem Sexuellen und dem Heiligen.
Buch ist assoziativer Durchlauferhitzer
"Ficken als Gebet," heißt es an einer Stelle. Das ist zwar nicht besonders originell, liest sich aber ganz gut. So wie der Rest des Buches. Charmant und voller Begeisterung geschrieben, unausgegoren und widersprüchlich - der assoziative Durchlauferhitzer einer Berliner Szene-Schönheit, die genug Geld hat, um sich eine große Altbauwohnung für all ihre schönen Bücher zu leisten. Und am Wochenende gibt's Edelwodka am Szenetresen.
"

Auf ihre umfangreiche Belesenheit ist die Autorin stolz*; das Literaturverzeichnis sieht mir allerdings (obwohl ich fast keines der Bücher kenne) doch sehr nach intellektueller Dünnbrettbohrerei aus. Da wollen wir der Essayistin doch jene gigantische Bibliographie "bibliography of the history of western sexuality" ans Herz legen, welche Franz Xaver Eder ins Internet eingestellt hat.
* vgl. z. B. S. 351: "Bei mir ist das etwas schwierig, das mit der Welterklärung [durch männliche Kommilitonen, die sich intelligenter dünken]. Das endet des Öfteren damit, dass ich dem Herren irgendwelche Bücher empfehle. Nun ja, das ist halt die Ware, die ich anzubieten habe".

Nicht nur ich vermisse allerdings (in der essayistischen Dimension) einen überzeugenden roten Faden im Werk der Autorin; auch zahlreiche Rezensenten (vgl. exemplarisch unten W. Seibel) finden ihn nicht. Bücher lesen ist ja schön und gut, doch reicht es nicht aus, sie dann zu einem Zitatenkonglomerat zu verwursten: Als Leser(in) darf man wohl eine gewisse Strukturiertheit in der Argumentation einer Autorin erwarten, wenn die Autorin einen Essay zu präsentieren vorgibt oder den Anschein erweckt.

Besser (und ehrlicher) hätte sie den Text komplett als Roman publiziert, etwa unter dem (Arbeits-)Titel "Meine Clique, meine Welt" oder "Wir Kinder vom Bahnhof Disco".
Denn die Referenz auf die anderen Cliquenmitglieder ist das eigentlich tragende Gerüst des Ganzen, das, was ihr Buch (insoweit durchaus angenehm) lesbar macht. Dieser Meinung ist, zusammengefasst, wohl auch Alexander Lachwitz in seiner sehr lesenswerten Rezension "Ariadne von Schirach: Der Tanz um die Lust". (Wie Lachwitz es getan hat war auch ich versucht gewesen, die Lektüre mittendrin abzubrechen, und wohl aus den gleichen Gründen: Frust über die Dürftigkeit der eigentlich versprochenen essayistischen Dimension.)

Mit am schärfsten, aber unbedingt berechtigt, bringt Wolfgang Seibel unter "Der Tanz um die Lust. Die Pornografisierung der Gesellschaft" im österreichischen Rundfunk seine Kritik auf den Punkt (Hervorhebungen von mir):
" 'Der Tanz um die Lust' ist eine konfuse Zeitgeist-Collage, ein wirres Patchwork* aus Angelesenem, flapsig Recycletem und Halbliterarischen**, dem es nicht an pointierten Formulierungen, wohl aber an einem roten Faden, einer überzeugenden These mangelt. Und auch an einer Prognose über die Zukunft der "pornografischen" Gesellschaft. Mit diesem puffroten Paperback hat die 28-jährige Ariadne von Schirach ein großes Thema zu schultern versucht. Sie hat sich ziemlich verhoben."
* Auch abgesehen von der monotonen 'Fickerei' ist die Sprache der Autorin gelegentlich etwas lieblos oder leblos. Auffallen oft leitet sie Zitate mit "dazu sagt" oder "XXX bemerkt dazu ..." ein. Besonders unpassend ist das auf S. 120, wo sie sagt "Elvis sagt dazu": der "sagt" nämlich nichts, sondern singt; die Aussage stammt von seinem Textdichter. (Weitere Passagen im "er sagt dazu"-Stil u. a. S. 176, 291, 296, 304, 338, 341.)
** Auf der Suche nach den "Dutteln" entdeckte ich den wunderhübschen Begriff "Futfetzerl" [Vorsicht: Porno!]. Das sind für mich auch von Schirachs Zitate: intellektuelle Futfetzerl.

Informativ sind auf jeden Fall die Interviews, z. B.
"Ich habe den schlimmsten Chef: mich selbst" im Ehemaligen-Magazin der Freien Universität Berlin (aus 2010) oder
"Überall ist Porno, aber keiner redet drüber" [stimmt natürlich nicht, darüber reden eine ganze Menge Leute - nur vielleicht nicht in ihrer Clique] auf Spiegel online kurz nach Erscheinen ihres Buches.


Ohne tiefere Erläuterung stelle ich diese Meldung in einen Zusammenhang mit dem Schirach-Opus:
"Teure Tierliebe: Kater Maxi aus Hannover leidet unter einer chronischen Nierenschwäche und soll nach dem Willen seines Besitzers Thomas Räsch in den USA für 7.000 Euro ein neues Organ bekommen. Räsch will die Spenderkatze in einem Tierheim finden und nach der Transplantation adoptieren. In Deutschland ist es verboten, einem gesunden Tier Organe zu entnehmen."
Zwei Seiten derselben Münze: Dekadenz?


Eine Erklärung bin ich Ihnen indes für meinen Titelbegriff "Lonely Kraut" noch schuldig. Für mich ist das Buch eindeutig die Äußerung einer Außengeleiteten, einer Angehörigen der "Lonely Crowd", also von David Riesmans "Einsamer Masse". Ohne ihre Clique wäre die Autorin wohl sehr einsam.


Trotz aller scharfen Kritik: immerhin war das Buch für mich ein anregender Blog-Katalysator, und auch die anderen Rezensentinnen und Rezensenten zeigen sich sprachlich recht inspiriert. Dafür dürfen wir der Autorin durchaus dankbar sein.



Nachträge 01.11.2010 ff.
Wirklich befriedigend ist der vorliegende Eintrag nicht; vieles fehlt und die Darstellung ist irgendwie nicht "rund".
Mein Zeitmangel lässt mir aber keine andere Wahl, als einige weitere wichtige Punkte nur in Form kurzer Notizen anzuhängen.

Edelpornographie der Hochrenaissance: Leda mit dem Schwan. Auch andere mythologische Themen aus der Antike mussten als Vorwände für Fleischbeschau herhalten - Softpornos im Vergleich zu manchen Leda-Beschwänern.

18. Jahrhundert: Starke Erotisierung in Kunst und Literatur.

19. Jahrhundert: Die Präraffaeliten hatten's drauf - zu zeigen, was drunter war. Freilich konnten sie eine beinahe schon pornographische Erotik sogar ohne Striptease allein schon aus den Gesichtern der Portraitierten (Frauen) herausholen.

Ebenfalls 19. Jh.: "Salonmalerei", besonders ausgeprägt die Orientalisten (womöglich noch Haremsszenen darstellend): Eindeutig Edel-Pornographie, oder manchmal nicht einmal edel.

Erotische Daguerrotypien des 19. Jh.: schon sehr eindeutig das, was man auch heute noch als Pornographie ansehen würde.

Erotic Art Museum Paris-Hamburg

Recht informativ über die Entwicklung der Porn-Industrie in der jüngsten Zeit sind -3- Webseitentexte von Rainer Sacht:  Gegen Porno (1)     Gegen Porno (2) und   Gegen Porno (3)


Weitere Informationen (auch zur Begriffsgeschichte) im Wikipedia-Stichwort "Pornographie".

Eine passende Kontrastlektüre zum Räusche-erfüllten Lust-Tanz-Buch wäre der Zeit-Artikel "Sucht. Frauen wollen beim Alkohol mithalten" vom 01.11.10 über alkoholabhängige Frauen.


Nachtrag 27.11.10
Wie üblich, führt mich die Rückverfolgung von Suchzugriffen zu neuen Internet-Links.


Auf der (mir bislang völlig unbekannten) Webseite "Urbia.de" ("Deutschlands größte Familiencommunity")  hatten (fast ausschließlich:) Frauen die Problematik des unterschiedlichen Sexualinteresses an am Partner z. B. mal unter dem Titel "Ich bin am Platzen und er guckt Pornos" diskutiert.


In die Zeit der Fanny Hill, ins England des 18. Jahrhunderts, führt uns Jenny Skip, Doktorandin an der Universität Leeds. Unter dem Titel "Sex and the 1700s" beschreibt die Webseite der Uni den Inhalt ihrer Doktorarbeit.
"Jenny Skipp's three-year PhD study examined, catalogued and categorised every known erotic text published in eighteenth-century Britain: "I tried to get a grip on just how many were published, detail the various types of sexual behaviour portrayed and find out who was doing what - and to whom." It proved a surprisingly rich field: "Most people have heard of Fanny Hill, but there was a huge amount of erotic literature published in the 18th century. .....the reading of erotic literature was already a social activity 300 years ago."
Über die Porno-Texte von damals erfahren wir:

"The works range from books, down to single-sheet pamphlets. "The price and content of this material suggests it was available to merchants, traders, skilled and semi-skilled men and even labourers," Skipp went on. Its accessibility allowed sexual attitudes to percolate down the social strata."
Und, wie ich oben schon sagte, kommt derartigen Texten auch ein kulturhistorischer Informationsgehalt zu:
"Dr Simon Burrows of the University's school of history, one of Skipp's PhD supervisors, described the study as "pioneering work." He said: "Jenny has shown that erotic texts are about much more than sexual fantasy. They can give us genuine new insights into cultural attitudes, sexual norms and social customs."
Einen wesentlichen Unterschied gab es wohl doch, wenn man die Texte von damals mit heutiger Pornographie vergleicht. Die alten Werke hatten
"... a literary quality to the writing which you might struggle to find in modern erotic fiction or top-shelf pornography. "It is very different to today's erotica," she said. "It is more humorous, more literary and more engaged with the wider issues of the life and politics of the times."
Unverändert blieb allerdings das breite Interesse an Skandalen von Prominenten:
"Readers were interested in gossip about their social betters and fascinated by the sordid details of marital breakdown - just like modern-day readers. ..... Eighteenth century readers were just as fascinated with public figures as we are today - especially when they had skeletons in their closet!"
Wer freilich den Welt-Artikel "Erotik-Forschung. Sex, Sünden, Skandale? Gab es schon vor 300 Jahren!" vom 23.04.2007 liest, wird Mühe haben, zu Jenny Skipp vorzudringen. Denn dort (wie übrigens auch auf einigen italienischsprachigen Webseiten) hatte man wohl Probleme mit dem Genitiv-S (obwohl es ja deutlich durch ein Apostroph vom Namen getrennt steht) und hat den Familiennamen der Forscherin zu "Skipps" verunstaltet.
Die Autorin hat auch einen Fachartikel "Masculinity and Social Stratification in Eighteenth-Century Erotic Literature 1700 - 1821" verfasst; außerdem die Beiträge  "The Hostile Gaze: Perverting the Female Form, 1688–1800" und "Rape in early eighteenth-century London : a perversion ’so very perplex’d’ " zu dem 2009 erschienenen Sammelband "Sexual perversions, 1670-1890", herausgegeben von Julie Peakman (hier das Inhaltsverzeichnis und einige Leseproben aus anderen Beiträgen).
Das alles fand ich heraus, während ich doch eigentlich nur nach dem Titel ihrer Dissertation suchte, den ich erst nach längeren Irrwegen herausfand: "British Eighteenth-Century Erotic Literature: A Reassessment". Leider ist es weder im "Eletronic Theses Online Service" der Dissertationsseite der British Library, noch auf der Webseite der Universität Leeds elektronisch verfügbar, noch anderweitig über Google auffindbar (auch nicht, wenn man die Vornamen der Autorin - Jennifer Anne Skipp - korrekt und vollständig eingibt).

Zahlreiche Links zu seinen bisherigen Sendungen über das Thema Porno bietet das Schweizer Fernsehen in einem "Dossier".

Jens von Fintel erzählt uns alles über die "Dekonstruktion des pornographischen Diskurses" in Elfriede Jelineks Buch Lust. Na also - ein solcher Titel hört sich doch richtig geil an?

Nochmals zur Fanny Hill: Über dieses Buch erfahre ich z. B. in dem Artikel "Fanny-Hill-Urteil: Als das Verbot für Pornos fiel" (Märkische Oderzeitung), dass es uns im Sommer 1969 die freie Fahrt ins Porno-Paradies gebahnt hat.

Auch wenn Karl Pawek mir nicht traut [jedenfalls hat er auf seiner Webseite einen Artikel "Traut den Alten nicht" gepostet ;-) ] finde ich manches, dass ich im Vorübergehen aus seinen Texten aufnehme, recht interessant und insgesamt die Seite individuell und anspruchsvoll. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert von seinem breit gefächerten Themenspektrum aber lediglich die sehr umfangreiche "Geschichte der Sexualität", deren Lektüre noch dadurch gewinnt, dass zwischendrin immer mal anzügliche Witze eingeschaltet sind (Beispiel aus Kapitel 4: "Mama, ich weiß, warum Papi einen so dicken Bauch hat. Ich habe heute früh gesehen, wie das Kindermädchen ihn aufgeblasen hat.").
 16 von dieser Seite aus auf einzelne Unter-Webseiten verlinkte Kapitel enthält Paweks Geschichte der Sexualität:
Auch Tiere tun es nicht viel anders
Der Verlust der Unschuld

Die Kultur des Frauenhasses

Vom Vergnügen zur Pflicht

Gewalt und Aberglaube

Neue Lust im alten Gewand

Die Entdeckung der Scham

Sexualität in der Revolution

Trivialisierung der Sexualität

Erfindung der Sexualwissenschaft

Prüderie treibt Lust zum Wahnsinn

Wer befreit uns von Freud?

Problematische Naturen

Der große Unterschied

Sittsam dem Markt ergeben

Sex in Zeiten der Korrektheit

Lexikon der Sexualität

Bibliografie

Eigentlich eine gute Idee, wenn man den Leuten die Geilheit austreiben will: Man setzt ihnen so viel Lektürematerial vor, dass sie gar nicht mehr zur Praxis kommen ;-).
Ähem.

"Das 18. Jahrhundert [ist] das erste, aus dem Abbildungen überliefert sind, die man noch heute als Porno bezeichnen würde" erfahren wir auf der Webseite "Marquise", die sich der Kostümgeschichte (Modegeschichte) widmet. Dieses Gemälde von Francois Boucher, im Webseitentext als "frühe Variante des Softpornos" bezeichnet, würden wir allerdings heute kaum noch als solche erkennen.

Unter "Pornografie. Die Lust am Zuschauen" informiert uns Monika Preuk in einem längeren Artikel (der sich allerdings häufig nur auf den Sexualforscher Peer Briken stützt) über die unterschiedlichsten Aspekte dieses Phänomens. U. a. erfahren wir, dass sogar Tiere (Menschenaffen zumindest) von pornographischen Filmen - mit tierischen oder menschlichen Akteuren - stimuliert werden.

Eine Reihe von Studien zur Wirkung von Pornographie auf Jugendliche hat ein Christian Scholz in seinem Blog "mrtopf.de" unter dem Titel "Mal was über Pornos" besprochen und verlinkt.

Erotik (die natürlich nicht gleichzusetzen ist mit Pornographie) in der Kunst präsentierte u. a. die Düsseldorfer Austellung "Diana und Actaeon. Der verbotene Blick auf die Nacktheit" (2008). Mit manchen (modernen) der dort ausgestellten Kunst(?)werken hat sogar die BILD-Zeitung ihre Schwierigkeiten:
"Kunst muss nicht gefällig sein. Sie kann wachrütteln, Voyeurismus und Jugendwahn kritisieren und wie bei Thomas Ruff, Cindy Sherman oder Chloé Piene pornographische Inhalte künstlerisch verarbeiten.Doch wenn eklige Detailaufnahmen, Sadomaso-Fantasien und persönliche Obsessionen wie bei Nobuyoshi Araki und Hannah Villiger gezeigt werden, ist das abstoßend und effektheischend."

Was Iwan Turgenjew mit erotischer Literatur zu tun hat werde ich erst herausfinden, wenn ich den langen (und illustrierten) Text "Nachwort zu Iwan Turgenjew und eine kleine Geschichte der erotischen Literatur und der Sitten" von Hanns-Martin Wietek im Literatur-Blog des ZVAB ("Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher" - übrigens eine von mir sehr geschätzte Einkaufsquelle für gebrauchte und für vergriffene Bücher) gelesen habe.

In dem (konservativen) (Chemnitzer) (Schüler-)Magazin "Blaue Narzisse"  wirft
Benjamin Jahn Zschocke  die Frage auf "Sex im 21. Jahrhundert: Die Sonderform als neue Normalität?" (01.09.10). Ebenso wie Ariadne von Schirach häufig in ihrem Tanz um die Lust geht auch Zschocke von den Werken des französischen Schriftsteller Michel Houellebecq [eigentlich Michel Thomas] aus. Der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag kennzeichnet dessen Werke so:
"In seinen meist in der Ich-Form erzählten Romanen zeichnet Houellebecq, ähnlich wie sein Freund Frédéric Beigbeder, das provokante Bild einer narzisstischen westlichen Konsumgesellschaft. Seine Protagonisten leiden unter ihrer Egozentrik, ihrem Unerfülltsein und ihren Schwierigkeiten, in einer kontakt- und gefühlsgehemmten Gesellschaft menschliche Nähe und gegenseitige Hingabe zu erleben. Insbesondere die sexuelle Frustration erscheint als ein Leitmotiv. Eine von Houellebecqs Spezialitäten, die besonders in Plateforme zum Tragen kommt, besteht darin, regelmäßig halb- bis anderthalbseitige Sexszenen in die Handlung einzufügen. Hierbei werden die Vorgänge (die sich i. d. R. im Rahmen des „Normalen“ halten) teils sachlich, teils einfühlsam dargestellt. Ein anderes Merkmal sind die ebenfalls oft en passant eingefügten essayistischen, zeitkritischen oder populär-wissenschaftlichen Betrachtungen. Insgesamt ist Houellebecqs Sprache schnörkellos und präzise; sein Erzählstil wirkt nüchtern und beiläufig."
Wieso Houellebecq für Konservative anscheinend attraktiv ist, enthüllen vielleicht diese Sätze aus der Wikipedia-Besprechung seines Romans "Elementarteilchen":
"Die dritte metaphysische Revolution sieht er in der Überwindung der individuellen Freiheit, die für ihn eine Quelle des Leids ist. Diese soll durch die Vision der Schaffung eines neuen Menschen mit Hilfe der Biotechnologie möglich werden. Im übrigen greift der Autor im Roman die schon im Vorgängerroman Ausweitung der Kampfzone vertretene These auf, dass mit der sexuellen Befreiung die Menschen nun neben einem kapitalistischen Kampf um die Lebensgrundlagen auch noch verstärkt um Sexualpartner konkurrieren müssen. Deutlich kritisiert er dabei auch den Jugendwahn der heutigen westlichen Gesellschaft."
Der oben zitierte Wikipedia-Eintrag zur Person geht sogar noch weiter:
"Houellebecqs Romane werden häufig kritisiert wegen bestimmter Passagen, die den Autor als Rassisten, Frauenhasser, Reaktionär oder Religions- (meist Islam-)Feind erscheinen lassen. Auch hat der als „nouveau réactionnaire“ diffamierte Houellebecq selbst wenig getan, um negative Vorstellungen über sich zu relativieren, vielmehr hat er die genannten Aussagen in Interviews bestätigt und bekräftigt. Indes positioniert er sich – nicht ohne Koketterie – als weder „links“ noch „rechts“. Wie für seinen literarischen Weggefährten Frédéric Beigbeder ist für ihn der Skandal zunächst Teil einer Strategie, sich auf dem literarischen Markt zu behaupten".
In seinem Roman "Plattform" thematisiert Houellebecq anscheinend auch den Islam wegen der erotikfeindlichen Tendenzen in dieser Religion (zu diesen vgl. auch das Buch "Sex, Djihad und Despotie. Zur Kritik des Phallozentrismus" von Thomas Maul). Also, ich würde mal sagen: Wenn für Houellebecq die "individuelle ... Freiheit ..... eine Quelle des Leids ist", die es zu überwinden gilt, sollte er doch eigentlich mit dem Islam bestens bedient sein?*
Aber vielleicht reflektiert er diese Widersprüchlichkeit, oder überhaupt seine Gesellschaftsanschauungen, ja gar nicht systematisch.
[* Einem Hinweis in der online verfügbaren Vorbemerkung zu Thomas Mauls o. a. islamkritischen Buch ( über dieses mehr in meinem Blott "Thilo der Waisenknabe]) folgend, finde ich eine Äußerung von Oskar Lafontaine (an der Quelle, im Neuen Deutschland nämlich, leider nur gegen Anmeldung zugänglich) , der den Gemeinschaftsbezug des Islam positiv bewertet:
Anm. 13: "Der ehemalige sozialdemokratische Kanzlerkandidat und Finanzminister, später Vorsitzender der Linkspartei, machte im Winter 2006 mit folgender Äußerung auf sich aufmerksam: “Es gibt Schnittmengen zwischen linker Politik und islamischer Religion: Der Islam setzt auf die Gemeinschaft, damit steht er im Widerspruch zum übersteigerten Individualismus, dessen Konzeption im Westen zu scheitern droht. Der zweite Berührungspunkt ist, daß der gläubige Muslim verpflichtet ist zu teilen. Die Linke will ebenso, daß der Stärkere dem Schwächeren hilft. Zum Dritten: Im Islam spielt das Zinsverbot noch eine Rolle, wie früher auch im Christentum. In einer Zeit, in der ganze Volkswirtschaften in die Krise stürzen, weil die Renditevorstellungen völlig absurd geworden sind, gibt es Grund für einen von der Linken zu führenden Dialog mit der islamisch geprägten Welt.” (Neues Deutschland, 13.2.06)" Unabhängig davon, dass die islamischen Staaten ökonomisch größtenteils so "erfolgreich" sind wie die einstige sozialistische Staatengemeinschaft (und entsprechend sich die Verteilungsmasse gewaltig reduziert, die dem gemeinschaftlichen Zugriff zur Verfügung stehen sollte), ist die Äußerung Lafontaines auf jeden Fall in deskriptiver Hinsicht von Interesse: dass es nämlich Linke gibt, die den Islam positiv bewerten.]


Sind es hauptsächlich die Frauen, die sich Gedanken um die Durchdringung unserer Gesellschaft mit dem Sexualdiskurs machen? Bei der Blauen Narzisse ist es jedenfalls eine Melissa Grimm, die - wie letztlich Ariadne von Schirach in ihrem Buch - die Frage aufwirft: "Ist unsere Gesellschaft oversexed?"


Nachtrag 04.01.2011
"Das Paarungsverhalten von Berlinern - und das merkwürdige Interesse daran" ist eine Besprechung von "rose" auf der Webseite Readers Edition vom 10.05.2007 betitelt.
Das Handelsblatt brachte am 25.03.2007 eine Buchbesprechung u. d. T. "Oversexed and Underfucked".


Nachtrag 21.04.2011
Was Frauen sich über Männer erzählen, berichtet das Magazin der Süddeutschen Zeitung (Heft 09/2011) unter "Die ungeschminkte Wahrheit": "Wie reden Frauen über Männer und den ganzen Rest, wenn sie unter sich sind? Ein paar Freundinnen haben für uns einmal mitgeschrieben. Bei gutem Essen, mit viel Alkohol - und vor allem anonym, damit auch wirklich alle ehrlich sind." Man darf wohl annehmen, dass das ähnliche Gespräche sind wie diejenigen, die Ariadne von Schirach in ihrer Clique führt.







Textstand vom 11.06.2011. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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