Mittwoch, 31. Oktober 2007

Bonn oder Berlin? Die Hauptstadtfrage .....

 
..... ist heute längst entschieden. Aufräumarbeiten (vgl. auch meine Einträge vom 12.10.2007) haben indes alte Papiere wieder ins Bewusstsein geschwemmt, darunter auch meinen unten wiedergegebenen Leserbrief vom 27.03.1991 an das Düsseldorfer Handelsblatt.
Das Texterkennungsprogramm ABBY FineReader hat mich verführt, auch diesen Text (mit welchem ich mich auch heute noch voll identifiziere) zu digitalisieren - und letztlich hier zu präsentieren.


Was zunächst als Leserbrief konzipiert war, weitete sich aus zu einer kleinen politischen Kampagne.
Ich hatte den Text (verkleinert auf insgesamt -4- Seiten) in einer zur Verteilung an sämtliche Abgeordnete des Deutschen Bundestages (damals irgendwo über 600) ausreichenden Menge kopiert und am 31.03.1991 an die Bundestagsverwaltung mit der Bitte um Weiterleitung an die Abgeordneten expediert. Die Verwaltung empfand das aber wohl als eine Art Spamming und antwortete wie folgt:

"Sehr geehrter Herr Brinkmann,
Ihre Sendung mit Schreiben "Ein Bürger für Berlin" ist am 08. April 1991 hier eingegangen. Sie bitten diese Schreiben an die Mitglieder des Deutschen Bundestages zu verteilen. Ihrer Bitte kann in dieser Form leider nicht entsprochen werden.
Den Deutschen Bundestag erreicht eine große Zahl vergleichbarer Versandwünsche, so daß für Sammelsendungen innerhalb des Deutschen Bundestages besondere Anforderungen gelten.
Der Ältestenrat hat beschlossen, daß Sendungen dieser Art an die Mitglieder des Deutschen Bundestages nur dann verteilt werden können, wenn die Schreiben einzeln kuvertiert sind und neben der persönlichen Anschrift des Empfängers die genaue Absenderangabe tragen.
Ich bitte deshalb um Verständnis, daß ich Ihrem Wunsche nicht nachkommen kann und Ihnen Ihre Schreiben zurücksende. Um Ihnen bei der Durchführung Ihres Vorhabens behilflich zu sein, füge ich ein Fraktionsverzeichnis bei. Die Briefe können Sie dann als Sammelsendung wieder an den "Deutschen Bundestag, Bundeshaus, 5300 Bonn l" senden.
Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag"


Das war mir denn doch etwas zu viel Arbeit, die Briefe für sämtliche Abgeordneten einzeln zu kuvertieren. Also übersandte ich die jeweils entsprechende Menge an die Fraktionen mit der Bitte um Verteilung. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht. Vermutlich wurden damals die Abgeordneten mit ähnlichen Papieren (für Bonn bzw. für Berlin) überschüttet.

Es ging mir also damals mit meinen Texten nicht anders als heute mit meinen Blog-Einträgen: (fast) niemand liest sie. Immerhin haben sie aber noch einen Wert für mich selbst.



"Handelsblatt-Redaktion Postfach 1102 4000 Düsseldorf

EIN BÜRGER FÜR BERLIN 27.03.91

Betr.: HB [Handelsblatt] v. 21.03.91 [S. 7]; Beiträge zur Hauptstadtfrage von
- Prof. Dr. Kurt Sontheimer ["Wider die deutsche Hauptstadtspaltung" UT: "Eine Entscheidung gegen Berlin wäre nichts Geringeres als ein Betrug am deutschen Volk"],
- Otto Wolff von Amerongen ["Bonn steht für die Westbindung der Bundesrepublik" UT: "Eine Entscheidung für Berlin würde zum Gegenwärtigen Zeitpunkt ein irritierendes Signal setzen"] und
- Prof. Dr. Eberhard Jäckel ["Für einen historischen Kompromiss" UT: "Bonn muss Regierungssitz bleiben – Entwicklungsprogramm für Berlin auflegen"]


Sehr geehrte Damen und Herren,

nachfolgend haben Sie einen Leserbrief für den Papierkorb. Abdrucken werden Sie ihn nicht: weil er zu lang ist, weil er nicht der bei Ihnen vorherrschenden Meinung zur Hauptstadtfrage entspricht (2:1 für Bonn!), auch weil er manches wiederholt, was andere schon in die Diskussion eingebracht haben. Zudem gibt der Verfasser sich als Patriot zu erkennen, in einer Zeit, in der allenfalls patriotism erlaubt ist. "Amerika ist wieder schön" stand neulich im HB. Deutschland soll, fordern 255 Volksvertreter im Ergebnis, ein Krüppel bleiben, der in Brandenburg nicht seinen Kopf, sondern einen hässlichen Buckel hat. Der Kanzler, der im Einigungsprozess gezeigt hat, dass er ein großer Staatsmann ist, taktiert und spielt auf Zeit, die nur für Bonn arbeiten kann. Der Bundespräsident, dem alle gern zunicken, wenn er unverbindliche Weisheiten predigt, will sich mit der Rolle eines Staats-Toasters nicht zufriedengeben und wird dafür von Ehmke und Konsorten verprügelt.
Für mich selbst war es eine notwendige (Oswald Spengler würde sagen: "schicksalhafte") Mühe, meine Option schriftlich zu fixieren. Bitte haben Sie die Freundlichkeit, die beigefügten Kopien an die drei Verfasser weiterzuleiten. Vielleicht trägt meine Arbeit so dazu bei, dass die Diskussion zumindest auf der dieser Frage einzig gemäßen Ebene geführt wird:
FRAGT NICHT, WAS EUER LAND FÜR SEINE HAUPTSTADT TUN SOLLTE - FRAGT, WAS EURE HAUPTSTADT EUREM LAND SEIN KANN!


Wer als Zeitgeschichtler einen "historischen Kompromiss" anbietet muss voraussehen, dass der Leser den "compromesso storico" assoziiert: also die Verschleierung eines Zieles (damals der PCI) durch einen vollmundigen Begriff; oder italienische Politikverhältnisse überhaupt, mit Winkelzügen und Bürgerferne. Hat Prof. Jäckel sich mit dieser Überschrift ungewollt decouvriert? Antwort auf diese Frage gibt eine Analyse er Argumentationsstrategie, die Eberhard Jäckel in seinem Aufsatz verfolgt.

"Es geht nicht um die Hauptstadtfrage" versichert er uns. Vielmehr "wird zu Recht vor allem von der Frage des Regierungssitzes gesprochen". Ist das Problem auf solche Weise verbal heruntergespielt, lässt es sich in der Welt der Begriffe (gewiss nicht in der Realität) "zunächst einmal" auf einen Interessenkonflikt zwischen Bonn und Berlin reduzieren. In Abwägung dieser Interessen kommt Jäckel zu dem (m. E. falschen) Schluss, dass Bonn bei einem Regierungsumzug weit mehr verlöre als Berlin gewönne. Doch dann merkt der Historiker wohl, dass eine solche Betrachtungsweise den Staat zum Mistbeet für das Gedeihen der Hauptstadtpflanze herabwürdigt und fordert, nicht das Bonner oder Berliner, sondern "das übergeordnete Interesse des ganzen Staates und aller seiner Bürger'' müsse entscheiden. Zum unparteiischen Schiedsrichter macht er sich selbst, weil er "weder in Berlin noch in Bonn einen Koffer hat, gefüllt mit Interessen". Während der Leser mit Spannung darauf wartet, dass Prof. Jäckel mit seiner Darlegung in die Zielgerade einläuft, hat der schon wieder die Kurve gekratzt: Die Entscheidung für Bonn oder Berlin, stellt er fest, sei "keine Katastrophe" (wer unter einer Katastrophe für unseren Staat nur etwas ähnliches wie den 2. Weltkrieg versteht, kann dieser Feststellung zustimmen). Und "also" folgert er, geht es eben doch nur "um die Abwägung der Vor- und Nachteile für Berlin, für Bonn". (Dass er als Nachsatz noch "für uns alle" dranhängt, ist rein rhetorisch und ohne Bedeutung für seine weitere Argumentation.) Beim Griff nach der Konjunktion "also" war er indes von allen logischen Geistern (bzw. jeder wissenschaftlichen Redlichkeit) verlassen. Oder würden Sie die Behauptung akzeptieren: Es ist keine nationale Katastrophe, ob die CDU oder die SPD die nächste Bundestagswahl gewinnt; also geht es nur um die Vor- und Nachteile für die einzelnen Abgeordneten?

Jäckel jedenfalls hat die kommunalpolitische Ebene wiedergewonnen, die (solange man sie nicht in letzter Konsequenz durchdenkt) für die Anhänger Bonns scheinbar die bequemste ist. Der Umzug kostet Geld; statt Möbelwagen durch die Gegend rollen zu lassen kann man dieses Geld doch gleich den Berlinern geben - da können die sich deutsche, europäische und internationale Behörden für kaufen. Und den Titel "Hauptstadt" kriegen sie geschenkt und den Bundespräsidenten sowieso, denn Politiker mit Weitsicht stören die rheinseligen Wogen der 255+ Bonner Sandkastenspieler. Und wenn Jäckel beim Jonglieren mit Nominalien und Realien fragt, warum die Hauptstadt eigentlich Regierungssitz sein muss, warum man nicht das eine vom anderen trennen kann, müssen wir ihm wegen der Vermischung der definitorischen mit der sachlichen Ebene erneut wissenschaftliche Unredlichkeit vorwerfen. Natürlich kann man Berlin - wie Amsterdam, wie man es auch mit New York machen könnte - Hauptstadt nennen, ohne dass es Regierungssitz wäre. Man legt dann lediglich eine andere Definition des Hauptstadtbegriffs zugrunde, als z.B. Sontheimer ("Eine Kapitale, in der die wichtigsten Verfassungsorgane nicht tätig sind, ist per definitionem keine Hauptstadt" - aber auch das ist natürlich nur sein -und mein- Verständnis des Hauptstadtbegriffes). Doch Jäckel hat ja selbst eingangs festgestellt, dass es nicht um eine solche rein begriffliche Hauptstadtfrage geht, sondern um den Regierungssitz. Und in den Augen einer Mehrheit der Deutschen wäre das Abspeisen Berlins mit dem bloßen Titel und dem Präsidentensitz eine "Hauptstadtlüge", wie Rainer Nahrendorf im HB [Handelsblatt] vom 12.3.91 ["Keine Hauptstadtlüge" UT: "Die Parteinahme des Bundespräsidenten"] treffend kommentiert.

Der Historiker mag freilich für sich in Anspruch nehmen, die Hauptstadtfrage nicht vom moralischen Standpunkt aus angehen zu müssen, und gern hätten wir von ihm eine geschichtliche (nicht mit vergangenheitsbezogen zu verwechseln!) Betrachtung gelesen. Warum vermeidet er diese Dimension zugunsten einer kommunalen Kirchturmsperspektive? Fürchtet er, anders seine offenbar vorgefasste Meinung gegen Berlin nicht verteidigen zu können? Denn auch was seine Interessenlage in der Hauptstadtfrage angeht, muss ihm der Begriff zur Verschleierung der Sachlage dienen. Gewiss: ein wirtschaftliches Interesse mag er nicht haben, aber doch ein sehr tiefsitzendes psychologisches Interesse (man könnte etwa die Widerspiegelung von Bedeutungsängsten einer Ländlekapitale vermuten, aus der Deutschlands größter Industriekonzern schon die ersten Absetzbewegungen eingeleitet hat). Denn ansonsten würde er als Wissenschaftler sich davor gehütet haben, mit sophistischen Taschenspielertricks und sogar handfesten Unredlichkeiten für Bonn zu werben.
Für die Behauptung, der Sitz der Landesregierung vertrage sich nicht mit dem der Bundesregierung, bleibt er uns nicht nur den Beweis, sondern schon die Begründung schuldig. (Und wenn er Recht hätte, ließe sich Berlin nach Brandenburg integrieren). Berechtigt ist zwar der Hinweis auf die ökologische Dimension eines Regierungsumzuges. Doch warum sorgt sich der Autor einseitig um die Grünflächen Berlins? Wäre es nicht sinnvoll, gerade dem übervölkerten Bundesland NRW die demographische Entlastung zu gönnen?

Unredlich ist es, Horrorvisionen von Bonn als einer "weithin funktionslosen Geisterstadt" heraufzubeschwören. Jäckel weiß zweifellos genau, dass Berlin bereit ist, Bundesverwaltungen mit Bonn zu teilen; er kennt gewiss die Vorschläge von Hans Jochen Vogel, Bonn europapolitische und wissenschaftliche Funktionen zu geben, er weiß, dass unser politisches System eine "Geisterstadt Bonn" nicht zulassen würde. Und dass die Inkonvenienz, die ein Regierungsumzug für zahlreiche häuslebauende Staatsdiener (wenn man das Wort noch verwenden darf?) mit sich bringen würde, kein entscheidendes Argument in einer Frage sein kann, die "das Interesse des ganzen Staates und aller seiner Bürger" betrifft, versteht sich wohl von selbst.


Was Geschichte ist und wie sie gemacht wird, kann der Historiker beim Unternehmer nachlesen. Auch Otto Wolff von Amerongen ist Gegner eines Regierungsumzuges nach Berlin, aber "Kosten sollten nicht das ausschlaggebende Argument für oder gegen einen Umzug nach Berlin sein", denn "mit dem Klingelbeutel ist keine Geschichte zu machen". Die Westbindung als Grund gegen Berlin anzuführen, Irritationen, die eine Entscheidung für Berlin bei unseren Verbündeten auslösen könnte, Bonn als Garant für auch zukünftige Verlässlichkeit: damit wird das Thema jedenfalls auf der ihm zukommenden historischen Ebene behandelt. Für einen Unternehmer, der Geld verdienen will und eine Störung seiner Exportgeschäfte vermeiden möchte, ist diese Entscheidung verständlich und scheinbar folgerichtig, wenngleich ich meine, dass hier in verhängnisvoller Weise langfristige zu Gunsten kurzfristiger Interessen vernachlässigt werden. Kann aber das deutsche Volk, dem gerade jetzt im Ausland die Bereitschaft zur Übernahme weltpolitischer Mitverantwortung abverlangt wird, die Entscheidung über seine eigene Hauptstadt dem Ausland überlassen oder von dessen "Genehmigung" abhängig machen? Deutsche Verlässlichkeit und Integrationsbereitschaft ließen sich auf andere Weise demonstrieren: "Wenn ihr Angst vor einem übermächtigen Deutschland habt, beschleunigt die europäische Einigung und mithin die politische Einbindung Deutschlands - wir sind dazu bereit" könnten wir unseren Freunden sagen.


Es ist indes unter den drei Beiträgen einer, der für Berlin optiert, und das voll mitreißender Beredsamkeit und Leidenschaft. "Betrug am deutschen Volk", der "Bruch eines Versprechens, der ungleich schwerer wiegt als die Steuerlüge", eine "Irreführung" wäre nach Sontheimer die "Formel, mit der die heutigen Bonn-Konservatoren Berlin um seinen früher so einmütig bekräftigten Hauptstadtanspruch bringen wollen". "Kleinkrämerei, Kleingeist, Provinzialismus" und "moralischen Opportunismus" wirft er denjenigen vor, die "Berlin das Recht streitig machen, Deutschlands wirkliche Hauptstadt zu werden". Kernige Sätze sind das, die einem Freund Berlins das Herz wärmen. Es ist auch notwendig, die Frage vom moralischen Standpunkt aus zu beleuchten. Nur (und Sontheimer mag das wissen): es ist nicht genug. Bei einer solchen Frage kann die moralische Dimension ebenso wenig die entscheidende sein, wie sie es etwa 1915 für Italien bei der Entscheidung über den Kriegseintritt sein konnte. Hier hat Jäckel recht wenn er - für seine eigene Argumentation leider folgenlos - fordert, "das übergeordnete Interesse des ganzen Staates und aller seiner Bürger" zum Entscheidungskriterium zu machen.


Welche Gründe sprechen auf dieser Ebene für oder auch gegen Berlin?

Aus Andrew James Johnstons Aufsatz in "Die Zeit" v. 2.11.90 entnehme ich den Hinweis auf Max Streibls Diktum von der "Hauptstadt Kreuzberg", also die Angst der Politiker, in Berlin mehr als in Bonn den Pressionen der Straße ausgesetzt zu sein. Billig wäre es, solchen Bedenkenträgern "Angst vor dem Volk" vorzuwerfen, denn das hieße, das "Lumpenproletariat" (oder einzelne Gruppen, die ja auch schon in Bonn demonstriert haben) mit dem ganzen Volk gleichzusetzen. Recht hat aber Hans-Jochen Vogel, wenn er fordert (HB v. 20.2.91), dass "Regierung und Parlament dorthin" gehören, "wo die Probleme der Menschen zu spüren sind und nicht in einen Schutzraum". Auch in Frankreich haben sich die Regierung und das Parlament nicht in Vichy angesiedelt, sondern eben in der manchmal recht unruhigen Metropole Paris.
Und wie sieht es mit den Kosten aus, bei denen selbst Berlin-Befürworter glauben, dass sie eher für einen Verbleib der Regierung in Bonn sprechen?

Berlin ist eine Stadt mit drei Millionen Einwohnern inmitten märkischer Sande, "80 km von unserer Ostgrenze entfernt" (Wolff v. Amerongen). Ist das für Investoren ein attraktiver Standort? Nahe an Polen, wo das Aufholen zum westlichen Wirtschaftsniveau vielleicht noch Jahrzehnte dauern wird? Wer will da Fabriken bauen, wenn er nicht dicke Subventionen bekommt? Wer will sich in einem solchen Schutthaufen der Geschichte ansiedeln - denn das allein wäre Berlin, würde es nicht wieder Deutschlands Hauptstadt (für mich existiert nur ein Hauptstadtbegriff, der die Funktion beinhaltet, jede andere Begriffsverwendung wäre schon ein Zugeständnis an die Hauptstadtlügner). Kein Wasserkopf wäre Berlin ohne Regierung: es wäre eine niemals verheilende finanzielle Eiterbeule. Ein lebendes Hauptstadt-Denkmal, das Jahr für Jahr 10 oder 20 Mrd. DM Subventionen verschlingen würde. Ziel unseres Hasses würde eine solche Stadt werden, und das durch unser, nicht durch eigenes Verschulden. Welche Messen, z.B., würde solch ein Monster gegen die Konkurrenz des etablierten Hannover, des heiteren München, des stinkreichen Frankfurt auf Dauer behaupten können? Drehscheibenfunktion? Das, Herr Wolff v. Amerongen, ist nur eine Worthülse. Kein sowjetischer Kaviarexporteur schlägt seine Ware, die er in Paris verkaufen will, in Berlin um - was, außer Kosten, brächte ihm das ein? Ist die Regierung da, geht alles hin - auch ohne Subventionen; geht die Regierung nicht hin, kommt da kein neues kraftvolles Leben rein. Können wir uns das leisten - finanziell, aber auch ökologisch, wenn die Bewohner des sterbenden Riesen in das ohnehin übervölkerte Westdeutschland abwandern? Nein, Herr Jäckel: für Berlin bedeutet der Regierungssitz ungleich mehr als für Bonn: für Berlin (in seiner jetzigen Dimension) ist das die Existenzfrage, für Bonn nur eine Frage der (zeitlich befristeten) Kosten. Das vielleicht hat der Bundespräsident gemeint, wenn er schreibt (HB v. 11.3.91): "Berlin Funktionen zu geben, wird teuer. Berlin Funktionen zu verweigern, wird noch teurer". Die auf diese Weise unbefristet zur Denkmalpflege nötigen Summen würden auf Dauer für unsere Infrastruktur, für unser Bildungswesen usw. fehlen, würden uns im internationalen Konkurrenzkampf zurückwerfen. Das z.B. sind langfristige Perspektiven, die der Unternehmer bedenken möge.

Und die strukturpolitischen Folgen einer Entscheidung gegen Berlin wären nicht auf die Stadt beschränkt. Ein Aufschwung Berlins würde mehr oder weniger in den ganzen Norden Deutschlands abstrahlen: den Hamburger und Rostocker Hafen beleben, Mecklenburg bei der Diversifizierung seiner noch weitgehend agrarisch bestimmten Wirtschaftsstruktur helfen. Schon eine rasche Entscheidung für Berlin könnte, glaube ich, den Bewohnern der Ex-DDR ein neues Selbstwertgefühl und damit neue Antriebe für den schweren Weg vom Sozialismus zur Marktwirtschaft geben. Eine Entscheidung gegen Berlin oder nur eine Verzögerung der Entscheidung wäre nicht nur "eine Missachtung der Deutschen in der ehemaligen DDK" (Sontheimer), sie wäre auch demotivierend für unsere Landsleute im Osten - und brächte damit weitere finanzielle Belastungen für uns.

Fast immer (Italien mag eine Ausnahme sein) ist die Haupt-Stadt Zentrum des kulturellen Schaffen eines Landes, Richtschnur und Kristallisationspunkt der höchsten Leistungen. Nicht immer ist die Haupt-Stadt zugleich die Hauptstadt (USA!), doch haben wir schon oben gezeigt, dass Berlin, wäre es nicht Hauptstadt, auch nicht als Haupt-Stadt funktionieren könnte.

Berlin ist nicht der Seehafen eines blühenden Wirtschaftsraumes, nicht die Kapitalsammelstelle des ganzen Globus. Der Verzicht auf Berlin als Hauptstadt und Haupt-Stadt wäre gleichzeitig der Verzicht auf die Chance einer neuen kulturellen Identität für uns, einer geistigen Ausstrahlung, die wir nicht nur uns, sondern auch unseren Nachbarn im Osten und Westen schuldig sind. Goethe in Weimar, Kant in Königsberg - das sind Ausnahmen, die wohl nur in einer besonderen historischen Situation wirksam werden konnten, Berlin in der Kaiserzeit war eine auch kulturell blühende und ausstrahlende Stadt (nicht dank der Regierung, aber doch dank seiner Funktion als Regierungssitz). Bis zum Ende der zwanziger Jahre hatte sein kulturelles Schaffen Weltniveau.

Braucht man - oder braucht: jedenfalls Deutschland - eine Haupt-Stadt, um in Wissenschaft und Kultur international denjenigen Rang einzunehmen, der unserer wirtschaftlichen Stellung entspricht? Wollen wir das überhaupt, oder wollen wir solches Streben von vornherein als nationalistisch verteufeln? Für den Bereich der Wirtschaft wird niemand bestreiten, dass diese auf Dauer nicht blühen kann, ohne dass unsere eigenen Wissenschaftler und Techniker nicht nur gute, sondern auch international herausragende Leistungen bringen, Oder sollen wir das tun, was wir früher gern überheblich den Japanern vorgeworfen haben, nämlich fremde Erfindungen "abzukupfern" und, ein wenig verbessert, erfolgreicher zu vermarkten als die Erfinder selbst? Im kulturellen Bereich (dazu zähle ich selbstverständlich auch die Unterhaltung) sind wir schon längst so weit. Unser angeblich "bestes Fernsehen der Welt" variiert von der Kreuzfahrtenserie bis zur Krankenhausgeschichte, von der Talkshow bis (in Zukunft) zum Nachrichtenkanal kulturelle Muster, welche die "niveaulosen", "profitgierigen" US-Privatsender für die "kulturlosen Amis" entwickelt haben. Die Angst unserer Kulturkommandanten (bis hin nach Brüssel) vor der Pinkelpause ist nicht als die Angst, das Publikum könnte, erleichtert, etwas kritischer und mit mehr Abstand den Fortgang der Sendung verfolgen. Die Angst, das eigene Schaffen könnte solcher Verfremdung nicht standhalten.

Pausen- und Ouotenregelungen sind noch lange keine Garantie für eigenständiges und erstklassiges Kulturschaffen. Und wenn es (nur) am Geld läge, wären wir in Deutschland schon längst Weltmeister mit all den Privilegien früher im Osten und großzügigen Gagen, Stipendien, Atelierwohnungen und der Künstlersozialversicherung im Westen.

Keine bessere Mittelstadt,
Die nicht einen eigenen Theaterbau hat
Und geht's erst über 100.000 Einwohner raus
Kommt keine ohne eigene Bühnenmannschaft aus.
Museen streut der Mäzenaten Hand
Von Emden bis Oberhausen ins Land –
Doch um welchen deutschen Künstler (in Wort, Bild oder Ton)
Reißen London, Paris und New York sich schon?
[Wenigstens was die Bild-Künstler angeht, hat sich das Bild mit Anselm Kiefer & Co. mittlerweile allerdings geändert. Und das, wie man ehrlicher Weise sagen muss, hatte nichts mit der Verlegung der Hauptstadt nach Berlin zu tun.]

Und schreibt einer, der übrigens lange in Paris gelobt hat, ein über dem Durchschnitt stehendes Werk, profiliert er sich hinfort vorzüglich als moralpolitischer Blechtrommler, während andere Satrapen des Geistes in der Banane den Apfel sehen, der ihrem konkurrenzlosen Mauerparadies die Identität geraubt hat.

Selten in Paris und schon gar nicht im kaiserzeitlichen Berlin war die offizielle die wirklich lebendige, zukunftweisende Kultur: eher hat sich letztere gegen die Regierungen entwickelt. Und doch konnte sie [in Europa weitestgehend] nur dort gedeihen, wo der Regierungssitz eines großen Landes eine Hauptstadt zur Haupt-Stadt werden ließ. Wer sagt, dass Deutschland polyzentrisch war, mag uns auch sagen, ob Hannover ein würdiger Hintergrund für Leibniz war, ob er der hessischen Menschenhändler[-Landgrafen] voller Stolz gedenkt, ob uns aus Nürnberg noch ein zweiter Dürer erwuchs, ob Mainz nach Gutenberg ein blühendes Zentrum des Buches wurde, oder Leipzig mit und nach Bach ein Wallfahrtsort der Musikfreunde? Sprach unser großer Friedrich fließend Deutsch? Ist der Spießbraten im Hunsrück die kulinarische Quelle, aus der ein kleiner Länderfürst die Kraft zum queren Denken schöpft?

Viele Zentren sind das Agar Agar vieler Hofschranzen; der Humus für die ganz große Kultur sind sie normalerweise nicht. Oder hat man Mozart in Mannheim aufgenommen, hat Halle Händel zugejubelt und Gluck sein Glück an Hamburgs Opernhaus gemacht? Auch heute, im Zeitalter des "global village" entstehen, glaube ich, Spitzenleistungen des Geistes vorwiegend dort, wo eine dichte persönliche Kommunikation der Talente untereinander und mit dem Publikum möglich ist, wo die Vielzahl der unmittelbaren Anregungen ein schöpferisches Klima schafft (vgl. dazu das Buch von Jane Jacobs unter dem völlig irreführenden dt. Titel "Stadt im Untergang"). Der Wettbewerb in solchen Haupt-Städten ist sicher gnadenlos, und das mag manchen ost- und westelbischen Geistesgutsbesitzer dazu verführen, für seine Ware die Schutzzollpolitik der kleinen Städte zu verlangen. Doch andere, die nicht ewig Sissys bleiben wollen und die das Talent zu Höherem in sich spüren, brauchen offenbar solche Metropolen, die ordnungsliebenden Menschen (z. B. preußischen Bürokratenseelen) als "abschreckende Beispiele von Riesenmetropolen" erscheinen mögen. Von den Touristenströmen, die "Kultur zum Exportschlager" machen (eine Meldung aus London im HB v. 22.3.91) ganz zu schweigen.


Aber unsere lieben Nachbarn, was werden die bloß dazu sagen, wenn die Deutschen auch noch im Kulturellen wieder klotzen, statt von Duisburg bis Detmold zu kleckern? Die Nachbarn sind Menschen wie wir auch und werden über eine Metropole Berlin, wenn sie einmal kulturellen Glanz entfaltet, dasselbe denken und fühlen, was wir jetzt über Paris und London denken. Reisen wir nach London mit dem Gedanken, dass von hier ein riesiges Kolonialreich ausgebeutet wurde? Nach Paris mit dem Gefühl, die Brutstätte eines jahrhundertelangen Imperialismus zu besuchen? Solche historischen Wahrheiten sind längst überstrahlt von der kulturellen (bei London wohl auch der wirtschaftlichen) Strahlkraft. Unser Nazi-Image werden wir nicht mit ducken und buckeln los. Aber wenn wir beweisen, dass wir nicht nur Staaten und Märkte erobern können, sondern im Reich der Kunst und der Ideen neue Räume schaffen, die zu betreten alle eingeladen sind: dann wird man uns nicht nur respektieren (oder fürchten), sondern achten. Mit Geld baut man Goethe-Institute auf (nichts dagegen), aber keinen neuen Goethe, der mehr für unser Ansehen tun könnte als alle Kulturattaches zusammen.

Und brauchen wir nicht auch in Wissenschaft und Technik neue Kreativität? Wo sind die bahnbrechenden deutschen Entdeckungen und Erfindungen, die ganz neue Märkte schaffen? Der Wankel-Motor hat sich letztlich nicht durchgesetzt. Secam oder Pal ist heute nicht mehr die Frage, weil im Osten schon die Sonne des HDTV aufgeht. Mac-Merkantilismus ist darauf keine Antwort. Kalkar ist "kaputt" [mittlerweile hat man den dortigen Schnellen Brüter zum Freizeitpark umgebrütet], bei Airbus und Ariane ist Deutschland Juniorpartner, der Transrapid träumt im Emsland von Las Vegas. Ob wir im Wettlauf um den 64MB-Chip mithalten können, ist noch nicht ausgemacht, und auch ein guter Name wird Doppelglasscheiben und elektronische Türschließer nicht in alle Ewigkeit als letzten Schrei des automobilen Hightech verkaufen können.
"Von einer Hauptstadt Berlin ginge ein politisch-kultureller Modernitätsschub aus, der die alte bundesrepublikanische Identität maßgeblich verändern würde" formuliert A. J. Johnston in der "Zeit" ["Falsche Bescheidenheit" UT: Berlin – nicht nur Hauptstadt, sondern auch Regierungssitz"; 02.11.1990]. [Gerade in diesen Tagen des Oktober 2007 fiel mir das Buch "Weimar. Die Kultur der Republik" von Walter Laqueur in die Hände. Auf der Rückseite des Schutzumschlages wird es beworben mit der – von Laqueur stammenden? – Kurzbeschreibung "Die Geschichte der ersten modernen Kultur Europas".] Welches sind die Motive jener obscurorum virorum, die ihrem Land den Eintritt in diese Moderne verwehren wollen? Ich weiß es nicht, glaube aber nicht, dass die öffentlich verkündeten Begründungen immer mit den tatsächlichen Beweggründen identisch sind.

Denken wir auch einmal über den Tag, das Jahr und das Jahrzehnt hinaus: ist es vorstellbar, dass Brüssel, Straßburg oder Luxemburg die Hauptstadt eines Vereinten Europas sein könnte, welches bis Polen, Rumänien und vielleicht gar Russland reicht? Da käme doch eher Budapest oder Prag oder Wien infrage. Und dann ist es sicher kein Standortnachteil, wenn die deutsche Hauptstadt der Hauptstadt Europas nahe liegt.
Es scheint mir dies auch ein Grund zu sein, europapolitische Funktionen für Berlin nicht zu fordern: dies und der Verzicht, dort die deutsche Hauptstadt zu etablieren, könnte uns leicht als ein besonders hinterfotziges Manöver ausgelegt werden, dereinst Berlin zur Kapitale eines Euroreiches Deutscher Nation zu machen. Zwar traue ich Bonner Politikern solche schlitzohrige Weitsicht nicht zu, aber die anderen, die Politik in Metropolen machen, könnten so denken (weil sie selbst schlitzohrig genug dazu wären).
Darum wünsche ich der Pro-Berlin-Initiative Glück.


Verkünden Sie, Herr Ortleb, den Wessis, was man "drüben" von der Hauptstadtlüge hält. Sprechen Sie Ihrem Fraktionsvorsitzenden meine Hochachtung aus und erklären Sie Ihrem Kollegen aus Halle, dass es eine Zeit für Füchse gibt und eine Zeit, Farbe zu bekennen. Und sagen Sie dem Steuerlügner Lambsdorff, dass es in der Hauptstadtfrage um die Bewährung geht.
Lassen Sie, Herr Vogel, sich nicht von Ihrem Kollegen Ehmke nachsagen, die Berlin-Befürworter argumentierten aus dem Gestern. Gestrige sind damit zufrieden, ihre Residenz dort aufzuschlagen, wo Beethoven nur sein Geburtshaus hinterlassen hat.
Nicht so kleinlaut, Herr Krause: das Kostenargument spricht letztlich gegen Bonn! Kämen schon die vorauszusehenden unbefristeten Subventionen für Berlin teurer als ein Umzug, so wäre der Verlust der "Spinn-offs", die eine Haupt-Stadt mit sich bringt, eben doch, Herr Jäckel, eine nationale Katastrophe. Sagen Sie aber auch unserem Kanzler, wir lassen uns nicht noch einmal verkohlen!

EINST JAGTEN DIE KÖLNER IHRE HERRSCHER DAVON
IN DIE FRÜHERE RÖMISCHE LAGERSTADT BONN.
GEHT WIRKLICH DIE MACHT VOM VOLKE AUS,
MÜSSEN DESSEN VERTRETER AUS DEM BUNDESDORF RAUS,
UND DIE SICH STRÄUBEN ODER ZIEREN -WOLLEN SIE DIE DEMOKRATIE CASTRIEREN?"



[Vorliegende Version in leicht veränderter Form: insbesondere Rechtschreibung angepasst; Fehler ausgebessert und erläuternde Zusätze in eckigen Klammern eingetragen]

Textstand vom 10.09.2022

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