Freitag, 12. Oktober 2007

Nicht-nostalgische Zeitreise in meine Jugend: Erziehung anno 1963


Aller guten Dinge sind drei.
Deshalb hier als letztes Fundstück meiner heutigen Ausgrabungskampagne ein Aufsatz aus "sermo" Nr. 3 (Schülerzeitung des Bielefelder Ratsgymnasiums vom Dezember 1963).

Damals glaubte ich wenigstens noch an etwas - und sei es auch nur an die Möglichkeit einer gesamtgesellschaftlichen Rationalität.
(Und die - damals - moderne rechtschreibung ist mir seit jenen fernen zeiten ebenfalls abhanden gekommen.)

Heutige Erziehung – moderne Erziehung?

Eine moderne erziehung hat zwei aufgaben. Sie muss erstens der Jugend wissenschaftliche erkenntnisse vermitteln und dadurch die Voraussetzungen für eine immer vollkommenere beherrschung der natur durch zukünftige generationen schaffen. Zweitens muss sie ihr erkenntnis von den verhaltensformen des einzelnen, des individuums, wie auch der summe der einzelnen, der gesellschaft, vermitteln. Wir haben analog zu den naturwissenschaften auch hier disziplinen — richtungen der psychologie und Soziologie — entwickelt, die sich von philosophischer betrachtung dadurch unterscheiden, dass sie sich um objektive empirische betrachtung ihrer gegenstände bemühen. Sie wollen die bedingtheiten, die sich aus unserem historischen Standpunkt und aus unserer kultur ergeben, überwinden, und so zu gültigen aussagen über das Forschungsobjekt „mensch" — überhaupt wie auch im rahmen seiner kultur — gelangen. Test und experiment treten dabei an die stelle der Spekulation.
Die heutige erziehung in unserem Staat scheint mir jedoch darauf abgestellt, den jungen menschen in — wie ich meine: überlebte — kulturformen hineinzukneten, seinen geist mit dem geist der Vergangenheit anzufüllen. Der kulturbegriff selbst wird dabei mit den religiös-philosophisch-künstlerischen aspekten identifiziert, während man die neuen phänomene, technik und Wissenschaft, nicht recht in die überkommenen anschauungen einzugliedern vermag und ihnen daher mit einem gewissen Unbehagen begegnet. Das emotionale, den tiefen des menschen entspringende erfährt dementsprechend eine starke betonung im gegensatz zum wissenschaftlich klaren, rationalen, das als kalt empfunden wird.
Diese haltung — wie mir scheint: fehlhaltung — äußert sich in einer Vernachlässigung des naturwissenschaftlich-mathematischen Unterrichts, die viele um unsere zukunft in einer sich auf wissenschaftlich-technischer basis immer schneller entwickelnden welt fürchten lässt. Wenn man uns auch zum ausgleich in der woche in — leider nicht immer widerspruchsfreie — „ewige Wahrheiten" einweiht und somit für unser Seelenheil in wirklich vorbildlicher weise staatlicherseits sorge getragen wird, halten es manche doch für angebracht, die aufmerksamkeit stärker diesseitigen problemen zuzuwenden.
Ein Optimist könnte nun meinen, dass der eben aufgezeigte mangel an naturwissenschaftlicher ausbildung seine Ursache in einer mehr auf die moderne behandlung der menschlichen Probleme gerichteten erziehung habe. Denn auch diese fächer gibt es, wenngleich auf einem neusprachlichen zweig die sprachen natürlich im Vordergrund stehen. Aber schon bei einer betrachtung der fächer, die sich mit dem menschen beschäftigen, wird der Optimist seinen irrtum bald erkennen müssen. Hierfür sind nämlich deutsch, gemeinschaftskunde, religion und für manche auch Philosophie zuständig, und ich glaube, schon diese aufstellung beweist, was ich vorhin bereits andeutete: die erziehung in unserem Staat ist — ihrem Inhalt, nicht ihrer technik nach — denkbar konservativ. Anstatt modern zu sein, uns in einem entsprechenden lehrfach die fülle der neuzeitlichen soziologischen und psychologischen einsichten 1) zu erschließen, bietet man uns alte Vorstellungen, ideen und ideale an, die viele von uns als überholt empfinden. Aber sie sind von unseren ahnen geformt, und das erbe unserer kultur, unsere große tradition, hat uns gefälligst heilig zu sein. Folglich strebt man, uns, die wir nach Wahrheit suchen, nach freiheit vom relativen, in irgendwelchen tiefen unseres Volkes und unserer kultur zu verankern.
Wir aber wollen die welt mit dem verstand erobern, nicht mit dem gefühl. Wir wollen unserer welt mit einem wissenschaftlich geprägten menschenbild entgegentreten, nicht mit jener mischung aus erfahrung und Spekulation, die die Systeme der weisen auszeichnet. Wir haben kein Verhältnis mehr zu begriffen wie „gemüt" und „verinnerlichung" 2). Wir meinen, dass man den negativen erscheinungen in unserer gesellschaft mit Psychologie, Soziologie und verwandten Wissenschaften besser beikommen kann als mit kulturphilosophischer Spekulation und religiösem menschenbild. Wir wollen unsere zeit verstehen. Dazu erscheint mir aber z. b. ein vager philosophischer massenbegriff ungeeignet, vielmehr bedarf es dazu — um bei diesem beispiel zu bleiben — eines soziologischen Verständnisses der massengesellschaft, „die von vielen Soziologen für die innerhalb des europäischen Zivilisationsbereiches allein mögliche gehalten wird" 3). Und während man uns - um einen zweiten Punkt herauszugreifen — einen verklärten dienstbegriff vorsetzt, dessen entwurzelung im volksgeist „die verwüstendste Wirkung eines oberflächlichen rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts gewesen" 4) sein soll, erklärt der Soziologe das verschwinden dieses begriffs aus unserer entwicklung zu einer „funktionalen gesellschaft", und sagt über ihn, er werde heute „retrospektiv verfälscht", d. h. romantisiert und außerhalb des rahmens unserer zeit gestellt (R. Tartier in einem vortrag im Haus Neuland vom 18.05.1963). Wir fragen uns nun, ob man die anforderungen einer neuen zeit auch im land der Deutschen rechtzeitig begreifen und eine moderne erziehung an die stelle der heutigen setzen wird. Oder soll unser volk auf seinen dichtem und mystikern sitzen bleiben, überflügelt von anderen, fortschrittlicheren, vielleicht sogar kommunistischen Völkern? Um missverständnissen vorzubeugen möchte ich noch hinzufügen, dass sich dieser aufsatz keineswegs gegen „die lehrer" richtet. In die technik des Unterrichts sind moderne erkenntnisse durchaus eingegangen. Es ist zu hoffen, dass die dafür verantwortlichen diesen einsichten nicht nur in den methoden, sondern auch in den themen des unterrrichts den gebührenden platz einräumen werden.

Burkhardt Brinkmann, U l b 2


Anmerkungen:
1) Wenn ich von einer einführung in soziologisches und psychologisches denken spreche, dann meine ich damit natürlich nicht irgendwelche intuitiven, einfühlenden oder gar ideologisch bestimmten richtungen.
2) Vergl. Bender Lesebuch, band 7, seite 135, 137.
3) Nach: Philosophisches Wörterbuch, Kröner Verlag Stuttgart, 16. Auflage 1961.
4) Bender Lesebuch, band 7, seite 18.



Notiz vom 29.10.07:
In unserem Urlaubsquartier in Bad Sooden-Allendorf fiel mir jetzt (außer Graf Luckners "Seeteufel" und den obligaten Konsaliks + Co.) erstaunlicher Weise sogar das passende Buch zum o. a. Text in die Hände.
Autor ist der amerikanische Mathematik-Professor John Allen Paulos; der Titel der deutschen Ausgabe: "Zahlenblind. Mathematisches Analphabetentum und seine Konsequenzen".
Im Prinzip hat er völlig Recht, wenn er beklagt, dass die schulische Erziehung (nach seiner Darstellung sogar auch in den USA!) zu wenig Gewicht auf das Training mathematisch-logischer Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Beurteilung von gesellschaftlichen, politischen und Alltagssachverhalten legt. Der Aufbau seines Buches kam mir allerdings etwas zu leichtgewichtig vor: mehr Entertainment als Edutainment, und die Fallbeispiele allzu sammelsurig zusammengestellt.
Aber vielleicht beurteile ich das falsch, da ich (leider) selbst weitgehend ein mathematischer Analphabet bin?



Textstand vom 29.10.2007. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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